DIE KRIM MAR UNSERE HEIMAT Martin Durksen DIE KRIM war unsere Heimat von Martin Durksen Widmung Dieses Buch ist allen denen gewidmet, die drüben geblieben sind. Glieder des Krimer Buchkomitees: Martin Durksen Johann Janzen Johann Klassen Peter Koop Peter Regier Redaktion: Martin Durksen Erich L. Ratzlaff Buchdeckelentwurf: Lorlie Barkman Im Selbstverlag von Martin Durksen 18 Tudor Crescent Winnipeg, Manitoba R2K 2A4 2 Prediger Martin Durksen und Frau Käthe (Durksen), Herausgeber des Buches — Minlertschik. 3 Printed by The Christian Press 159 Henderson Hwy. Winnipeg, Man. 4 Inhaltsverzeichnis Vorwort Erich L. Ratzlaff Einführung . Martin Durksen 1. Wie es begann. 11 2. Einige Streiflichter. 14 3. Krim - Taurien. 19 4. Erinnerungen. 21 5. Mennonitische Siedlungen in der Krim. 22 6. Bescharan. 34 7. Ebenfeld. 36 8. Kadagai. 37 9. Spat. 38 10. More. 57 11. Die Dorfstraße in Minlertschik. 59 12. Ogus- Tobe. 66 13. Das Dorf Tschongraw. 83 Gedicht: Tschongraw. 87 14. Krim - die alte Heimat. 88 15. Aus einem Brief von Schw. Wiens. 102 16. Beim Mähen. 108 17. Gedicht: Gedenken an die Krim. 109 18. Aschhügel und Kurgane. 110 19. Etliche Erinnerungen aus der Krim. 111 20. Ein Traum, der in Erfüllung ging. 113 21. Die Mennoniten und ihre Nachbaren. 114 22. Aus: “Geschichten von Peet und seinen Kameraden”. 116 23. Krimer, die Pioniere der Kolonie Femheim, Paraguay, waren. 122 24. Liste der Krimer, die 1930 in Paraguay eingewandert sind . 126 25. Heimatlos in der Heimat. 129 26. Etwas über das Krimertreffen, 1975 . 132 27. Auszüge aus Kurzberichten auf dem Krimertreffen, 1975 . . 134 28. Mennonitische Studenten in der Krim. 148 29. Einige Führergestalten der Krimer Mennoniten. 150 Aeltester David Dürksen . 150 Prediger Abram Kröker. 151 Missionsinspektor Jakob Kröker. 152 Aeltester Heinrich B. Unruh. 153 Prof. Dr. Benjamin H. Unruh. 153 Dr. Abram H. Unruh. 157 Aeltester Peter Friedrichsen. 158 Lehrer Peter Fast. 159 Lehrer J. D. Janzen. 159 30. Johann Langemann und Frau. 160 31. Jakob Kroeker . 162 32. Landwirtschaft, Industrie und Handel. 170 33. Gemeindewesen . 178 34. Die Schulen. 184 35. Abram J. Klassen, Prediger in Spat. 190 36. Aeltester Hermann Rempel, Karaßan. 197 37. Weitere Märtyrer aus der Krim. 200 38. Johann J. Wiebe, Lehrer und Prediger.202 39. Karl Friesen, Lehrer und Prediger.204 40. Heinrich H. Ediger, Lehrer . 205 41. Cornelius Wall, Prediger. 208 42. Schicksal der Krimer Bibelschule . 209 43. Erinnerungen an Moskau. 216 44. Deutsches Kolonistenschicksal in Sowjet- Rußland. 231 45. Die Endphase in der Geschichte unserer Siedlungen in der Ukraine. 234 46. Bericht von Frau Anni Bartsch, Calif. 240 47. Montanai. 242 48. Kurzer Auszug und Photos aus: Alt-Evangelische- Mennonitische Brüderschaft in Rußland, P. M. Friesen . . . 247 49. Lustigstal - Abbotsford. 250 50. Abdulah, der Tataremissionar. 253 51. In der Krim von 1917 bis 1925 . 259 52. Beiträge aus Brasilien. 260 53. Einiges über die Familie Heinrich Schröder. 264 54. Kiptschak. 269 55. Erinnerungen aus der Krim. 271 56. Auszüge eines Briefes. 277 57. Mehr Photos aus der Krim. 278 58. Anhang: Etwas aus unserem Leben, von Frau Jakob Janzen. 286 59. Landkarte der Krim. 354 6 Vorwort Es ist für den Geschichtsforscher erfreulich, daß verschiedene Gruppen unserer mennonitischen Gemeinschaft sich dazu ent¬ schließen, ihre Vergangenheit und die Erinnerungen daran in einem Buch festzuhalten. Das Buch: “Die Krim war unsere Heimat”, zusammengestellt von Martin Durksen, ist ein weiterer Versuch, die Erinnerungen an die Vergangenheit der Vergessenheit zu entreißen. Mit großem Interesse habe ich das gesammelte Material stilistysch, grammatisch und ortographisch bearbeitet und druckreif gemacht. Dabei ist es mir wichtig geworden, welchen Reichtum dieses Buch an geschichtlichem, kulturellem und religiösem Gut enthält. Es wurde mir auch klar, daß dieses Buch wohl kaum ohne die Initiative, die Beharrlichkeit und die ergänzenden Beschreibungen von Martin Durksen verwirklicht worden wäre. Wie ein zusammenfassendes Netzwerk halten seine Beiträge das ganze reichhaltige Material des Buches zusammen und formen daraus ein abgerundetes Ganzes. Martin Durksen wurde den 8. Mai 1919 als Sohn von Johann und Katharina (geb. Heinrichs) Dürksen, auf der Flucht vom Terek im Kaukasus nach der Krim geboren, wo er im Dorfe Minlertschik bis zu seinem zehnten Lebensjahr aufgewachsen ist. Aus dieser Zeit stammen viele seiner Erinnerungen, die er in diesem Buch beschrieben hat. Mit seinen Eltern wanderte er 1929 über Moskau nach Deutschland aus; dann weiter nach Paraguay, wo die Kolonie Femheim seine Heimat wurde. Im Chaco hat er die Pionierjahre der Ansiedlung miterlebt. Hier besuchte er auch die Volksschule und die Zentralschule, und dann ein Jahr die “Wanderbibelschule”. Mit dieser Vorbereitung unterrichtete er sechs Jahre an einer Volks¬ schule in Femheim; dann wurde er in die Indianermission berufen, wo er fünf Jahre unter den Lenguas gewirkt hat. In den Jahren 1945-48 besuchte er das spanische Bibelseminar der Altmennoniten in Bragado, Argentinien, worauf er zwei weitere Jahre in der Indianermission tätig war. Von 1950 bis 1964 war Martin Durksen MCC-Arbeiter in Argentinien, wo er zerstreute Mennonitenflüchtlinge sammelte und im MCC-Heim betreute. Gleichzeitig war er auf interkirchlicher Ebene tätig, z.B., als Vorsitzender für Evangelisation der Föderation der evangelischen Gemeinden Argentiniens, in der 7 Bibelgesellschaft und a. m. Durch zehn Jahre diente er als Sekretär für Friedens- und Freiwilligendienste in Südamerika. Im Jahre 1967 wanderte Familie Martin Durksen nach Kanada aus. Hier diente er drei Jahre als Pastor der EMB-Gemeinde in Grunthal, Manitoba, war Glied der Missionsbehörde der EMB und Lehrer am Steinbach Bibelinstitut. Im Jahre 1969 begann Martin Durksen seine Arbeit in der Gospel Light Hour, jetzt Mennonite Brethren Communications, wo er Redner der Radiosendung “Familienandacht” wurde, welche er nun schon acht Jahre erfolgreich fortgesetzt hat. Außerdem ist er Glied der Behörde der Direktoren des “Citizenship Council of Manitoba”, Vorsitzender der Immigrationskomitees, und in der Manitoba MB-Konferenz Vorsitzender des Prediger- und Diakonen¬ komitees. Martin Durksen ist mit Kaethe (geb. Dürksen) verheiratet. Dieser Ehe entsprossen sieben Kinder, drei Söhne und vier Töchter: Frank ist Arzt; Eduard ist Farmer; Albert ist Pastor; Anna ist Krankenschwester; Veronica ist Studentin; Ruth ist Hausfrau, mit Ed Loewen verheiratet, und die jüngste Tochter Karin besucht die Hochschule. Es ist für Martin Durksen charakteristisch, daß er auch heute noch immer studiert; er steht kurz vor dem Abschluß seiner Studien, um den BA-Grad zu erlangen. In meiner Tätigkeit als Redakteur der “Mennonitischen Rundschau”, in meinen gesellschaftlichen und gemeindlichen Aktivitäten, bin ich immer wieder in der Lage gewesen, mit Martin Durksen zusammenzuwirken, was ich mit Genugtuung getan habe. Es freut mich, daß ich auch an der Gestaltung dieses Buches mitwirken durfte. Winnipeg, im Juli 1977 Erich L. Ratzlaff 8 Einführung Der Titel: “Die Krim war unsere Heimat”, sagt eigentlich alles, was wir in diesem Buche zum Ausdruck bringen wollen. Die einzelnen Beiträge, die Bilder und Erinnerungen sollen uns helfen, ein Porträt zu gestalten, d. h. ein gewisses Ganzes zu geben, wenn auch unvollkommen und lückenhaft. Diese Lücken werden aber bestimmt von vielen Lesern unwillkürlich mit eigenen Erinnerungen ausgefüllt werden, angeregt durch das Lesen des Buches. Obzwar wir in besonderer Weise über das Leben der Mennoniten in der Krim berichten, können viele dieser Berichte und Erzählungen ungezwungen auf andere Gebiete Rußlands bezogen werden, wo auch Mennoniten und andere deutsche Kolonisten lebten. Deshalb wird das Buch bestimmt auch anderen als Krimem Zusagen. Die Vielseitigkeit ist einzigartig die in dem mennonitischen Wesen, und hier gerade in den kulturellen und religiösen Schattierungen zu finden ist. Die Perspektive, von der die meisten Berichte ausgehen, gibt dem ganzen eine gewisse Reife und Nüchternheit. Ein gewisser Heimwehton durchzieht das Ganze; eine Dankbarkeit für das, was man hatte und erleben durfte, ob Frohes oder auch Schweres. Hier und da hört man auch das Gewissen reden, vielleicht sogar den Ruf zur Buße. Indem die Berichte und Beiträge auf die Eigenart unseres sogenannten “Mennonitischen Völkleins” eingehen, Kultur, Sitten und Gebräuche bis in Einzelheiten hinein schildern, tut man das nicht mit Vorurteilen oder mit einem Richtgeist andersgearteten Gruppen gegenüber, sondern aus einer fast unbewußten Sicherheit heraus, (recht? falsch?) die der Mensch in seinem Wesen und in seiner Eigenart hat. Man berichtet einfach von Werten und Dingen, die Teil des Lebens geworden waren, wie man sie verstand und in der gegebenen Lage bewertete. So nur konnte es geschehen, daß es nicht nur mennonitische Gemeinden, Kolonien und Institutionen gab, sondern auch mennonitische Landwirtschaftsgeräte, Fahrzeuge und auch mennonitische Gerichte, wie Pflaumenmuß und gekochtes Schinkenfleisch (sogar guter, starker, mennonitischer Senf); nicht zu vergessen sind die mennonitischen Zwieback. So war es; wir können es nicht ungeschehen machen! Wollten wir? Dieses Buch hat es sich zur Aufgabe gestellt durch eine spontane, fast unorganisierte Art, ein Bild zu zeigen, wie es einmal war, ohne zu betont auf Ursache und Wirkung einzugehen. Indem unser Verständnis für die Kettenerscheinungen geweitet wird, wie menschliche Wesen gewisse Eigenarten und Kulturen “schaffen”, die einfach da sind, durch welche sie leben und glücklich sein können, wächst gleichzeitig auch unsere Anerkennung der Bedeutung dieser Kulturen. Hier müssen wir nüchtern, aber auch sehr ehrlich, uns und anderen gegenüber sein. Ich wiederhole, es handelt sich um Tatsachen, die Geschichte geworden sind, die nicht geändert werden können. 9 Dieses Buch berichtet einfach, wie es war. Indem uns die Seiten dieses Buches durch Straßen, Häuser, Dörfer, Gemeinden, Schulen, einfach gesagt, durch den Bereich der Tatsachen führt, erleben wir mit, was dort geschah; einige werden in der Lage sein, voll mitzuerleben, andere werden einfach informiert und vielleicht doch mitgerissen, denn es handelte sich letzten Endes um unsere Väter und Großväter, um unsere geistig-geistlichen Führer, warum nicht sagen: um unser Volk. Und so wird das Buch zu einem gewissen Dokument, das seine Gültigkeit heute und auch in den zukünftigen Tagen haben wird. Das Dorf- und Gemeinschaftsleben wird hier als fast verschwunden beschrieben, hauptsächlich als Folge der bolschewi¬ stischen Revolution. Der Angriff galt beiden, Kultur und Religion, galt nicht nur unsern Vätern, sondern allen, mit denen wir das Schicksal in jenem Lande teilten. Wir wurden Teil einer großen Leidensgemeinschaft, welche uns aus unseren eigenen Angeln heraushob und zum Teil anders werden ließ. Wie wird sich dieses “Anderswerden” in künftigen Zeiten bewähren? Heute leben viele Sprößlinge jener Zeit in anderen Weltteilen, in Süd- und Nordamerika, in verschiedenen Teilen Europas, andere in weit zerstreuten Gebieten des riesengroßen alten Heimatlandes, wo ihnen die Heimat vielleicht zur Fremde wurde. Von diesen verschiedenen Perspektiven aus kommen die hier zusammen¬ gefaßten Beiträge, indem wir den Reichtum der Vergangenheit, den Segen unseres Erbes, doch klar durchleuchten sehen, und dafür wollen wir Gott danken. Nun richten wir unsere Aufmerksamkeit von der Vergangen¬ heit über die Gegenwart der Zukunft zu und beten: “Herr, lehre uns bedenken, daß wir verantwortlich sind für den Segen der Vergangenheit, aber auch für die Aufgaben der Gegenwart und Zukunft, nicht nur uns in unserer eigenen Kultur und Religiosität zu dienen, sondern vor allen Dingen dem Herrn, der Umwelt und der ganzen Welt.” Hiermit lege ich das Buch vertrauensvoll in die Hand des Lesers, daß er es gerne lesen und auch zwischen den Zeilen die Botschaft hören wird, die dieses Buch unserer und den zukünftigen Generationen vermitteln möchte. Ich bin allen, die Beiträge und Ratschläge gegeben haben, zu viel Dank verpflichtet. Darohne hätte dieses Buch nicht entstehen können. Anerkennung möchte ich hier meiner Schwiegertochter Anni geben, für die Mithilfe in der Zubereitung des Manuskriptes, besonders Bruder Erich Ratzlaff für Rat und Beistand in der Redaktion des Buches und nicht zuletzt Bruder Johann Janzen, der durch freigebige Voranleihe, den Druck dieses Buches möglich machen half. Ein besonderer Dank gilt natürlich dem Leser, der mich mit der Annahme des Buches ehrt. Martin Durksen, Juli 1977, Winnipeg, Manitoba, Kanada 10 Erinnerungen — Wie es begann Die Weite der kanadischen Steppen und die Zugfahrt von Winnipeg nach Edmonton, Alberta, haben es mir angetan. Hier hat dieses Buch “Die Krim — war unsere Heimat’’ seinen Anfang bekommen. Es ist Sonnabend, den 26. Juni 1976. Meine Gedanken gehen unwillkürlich weit in meine frühe Kindheit zurück. Es war am 8. Juli 1929, als wir unsere Heimat, die Krim, und unser geliebtes Dorf Mentlertschik verließen, um sie nie wieder zu sehen. Ich höre noch das eintönige Tack, Tack, Tack, das für drei Tage unsere Ohren füllte. Wir nahmen im Nachbardorfe Spat den Zug nach Moskau, wo sich schon einige Familien gesammelt hatten, um nach Kanada auszuwandern. Wir waren Familie No. 26, als wir hinkamen. Mintlerschik war mir zur Heimat geworden, denn hier wuchs ich auf, vom 2. bis zum 10. Lebensjahr. Meine Eltern waren Johann und Katharina Duerksen. Mutter war eine geborene Heinrichs. Nun sitze ich hier in Kanada auf dem Zuge und es wird in mü¬ der Wunsch immer größer, etwas von dem Vergangenen wiederzuer¬ leben. Meine Hand greift zu Bleistift und Papier und so gut wie möglich, beim Schaukeln des Waggons, beginne ich die ersten Aufzeichnungen zu machen. Bild an Bild reiht sich vor meinen Augen. Ich fasse den festen Entschluß, mit Hilfe anderer, die auch in jener Heimat gewohnt haben, unseren Kindern und den zukünftigen Generationen etwas von dem zu erzählen, das uns bewegte und noch bewegt. Denn letzten Endes war die Krim doch unsere Heimat! Es ist nun meine Absicht, manche Erinnerungen aus jenen bewegten Jahren in diesem Buche festzuhalten. Sie sollen den sonst reichhaltigen Stoff von Beiträgen anderer Krimer umrahmen und damit demselben einen mehr persönlichen Charakter geben. Es waren bewegte Jahre, die einen tiefen Eindruck auf meine Kindesseele gemacht haben. Sie haben meinem Leben eine gewisse Gestaltung gegeben, die bestimmt mit richtunggebend für mein ganzes Leben gewesen ist. Flucht, Heimatlosigkeit und Ein¬ schränkungen haben desto tiefer, und vielleicht in anderer Weise als bei anderen Personen, das Heimatbewußtsein und die Wärme des Familienlebens in mir als etwas Heiliges und Kostbares in Erinnerung bleiben lassen. Meine Erinnerungen — Streiflichter- gehen zurück, bis vor meinem dritten Geburtstage; frohe und trübe Stunden, Menschen und Ereignisse, vermischt mit unerklärlichen Gefühlen, haben tiefe Furchen in meiner Seele zurückgelassen. Alles dieses will ich ungedrängt, so natürlich wie möglich, meine Leser miterleben lassen. 11 Diese meine Erinnerungen, in Streiflichtern wiedergegeben, werden durch Gespräche und Erzählungen gestützt und ergänzt, die ich meinen lieben Eltern und den älteren Geschwistern, so wie anderen Leuten, so nebenbei abgelauscht habe. Die schönsten Stunden waren durchweg die Stunden am Abendbrottisch, wo mein Vater aus seinem bewegten Leben erzählte. Mutter würde dann manches ergänzen. Wir werden sie auch weiter im Buche so zwischen den Zeilen erkennen. Wenn meine Eltern Besuch hatten, anläßlich von Geburtstagen, beim Mais¬ schälen (Kukurusa) und auf Fahrten mit der Droschka oder Drogge, durch die schönen Gegenden der Krim, hat mein reger Kindergeist manches gehört und mitgenommen. Nicht zuletzt auf der Flucht und in den verschiedenen Flüchtlingslagern, und in den schweren Ansiedlungsjahren im Gran Chaco, in Paraguay, wurde immer wieder erzählt, erinnert, abgewogen und verglichen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sollen immer wieder dem Ganzen die rechte Perspektive geben. Oft kommen mir die Zeilen von Carossa in den Sinn, wenn er rückblickend auf sein Leben schreibt: Tage lang hab ich den Acker gepflügt, unzählige Furchen Achtsam gezogen fürwahr, schnurgerad glaubt ich sie all. Aber nun schau ich vom Hügel hinunter, da, siehe, die meisten, Leider gerieten mir krumm, wenige laufen gerad. Ruhe, mein sorgliches Herz! Die Egge wird alles verebnen, O, ihre Zähne sind gut, wehren dem Zahne der Zeit! Himmel, erziehe mir du die zarten künftigen Saaten! Einst, über Krumm und Gerad neigt sich das reifende Korn. Also ich sitze im Zuge und fahre etwa 800 Meilen durch die kanadische Prärie. Landschaften, eben und hügelig, einige grün mit Weide bedeckt, andere junge Saat hervorbringend, Kartoffelfelder, in manchen Beziehungen so der Krim ähnlich und ohne es zu wollen, verliere ich mich. . . . Es ist mir, als atme ich den schwangeren Duft der Kornfelder ein, die Pferde und Rinder scheinen auf einmal auch auf krimer Weiden zu gehen und in der Ferne sehe ich am Horizonte verschiedene Wolkenformationen und die eine, sie scheint so gerade den Tschatardach darzustellen. Der Hochweg führt nicht zu weit von der Bahn entfernt seine graue Linie, und die Telephonpfosten zu beiden Seiten scheinen den Postweg zu umrahmen, jenen “Hochweg” — obzwar einfache Landstraße — der sich vom Norden durch die Krim zog und die Verbindung mit der Außenwelt darstellte. Es war das zwar kein moderner Weg aber ein bedeutender Weg. Manch ein Wagen, von Pferden oder Ochsen gezogen, ist dieser Straße gefolgt. Bei gutem und trockenem Wetter gings gut; wenn es regnete, konnten sich die Wagenräder auch mit Kot anfüllen, daß man oft stehen bleiben mußte, um die Räder zu reinigen. Wir sind oft diesen Weg teilweise entlanggefahren, wenn wir unsere Verwandten, Jakob und Johann Heinrichs in Tukultschak oder Kutjuki besuchten oder meinen 12 älteren Bruder Hans, der in Busau Lehrer war. Ich sehe aus dem Zugfenster, wie damals von der Droschke, die Felder sich im Kreise drehen. Als Kind konnte ich mich an diesem Drehbilde oft lange beim Fahren ergötzen. Nun sehe ich Sandhaufen (Gravel) in großen Hügeln ange¬ häuft, Material zum Bauen der Hochwege. Ich werde an die große Lehmgrube erinnert, die hinter der Windmühle lag, links von der Mittelstraße in Mendlertschik. Von da holte man den Lehm für den Bau der Häuser ... ich denke an die Steingruben und Schachten, von wo wir die Muschelsteine, fertig nach Maß gesägt, zum Bau der großen und schönen Bauernhäuser holten. Jetzt kommt ein kleiner Fluß, das könnte der Salgier sein. Ja, wo sind die Jahre! Damals in der Krim, da erschloß sich mir die Welt, ich begann Menschen und Dinge zu sehen und miteinander in Beziehung zu bringen, eine schöne Welt, eine Zauberwelt. Ich fürchte, daß ich als gereifter Mann heute in Gefahr stehe, alles so nüchtern, so selbstverständlich zu nehmen . . . aber ich bin eben kein Kind mehr, und das will mich traurig stimmen. Während der Fahrt lese ich nebenbei das Buch “What’s gone wrong with the Heuwest?” (James F. Engel and H. Wilbert Norton). Dieses Buch bringt mich wieder zurück in die Wirklichkeit und erinnert mich an den Zweck meines Buches, das seine Anfänge bei dieser Fahrt erhält. Das Buch befaßt sich mit dem Erfolg und Mißerfolg der Arbeit der Gemeinden. Es deckt manche Schäden auf und auch besonders die Selbstsicherheit und den Materialismus, Versteifung und Verknöcherung der Christen in alten Formen und Lebensauffassungen. Als Mennoniten haben wir eine reichhaltige Geschichte hinter uns. Die Geschichte der Mennoniten in der Krim ist Teil der ganzen Geschichte des Mennonitentums in Rußland. Wir dürfen die Zusammenhänge des Woher und Wohin nicht aus dem Auge lassen. Haben unsere Väter der damaligen Generation ihre Aufgaben, Gelegenheiten und Vorrechte richtig erkannt? Haben wir unsere Gaben und Vorrechte genützt? Die Schreiber des oben genannten Buches drücken ihre Besorgnis aus, daß die Christenheit heute auf Lorbeeren ausruht. Die Kirche Jesu geht heute durch tiefe Krisen, in der sie ihren Einfluß und ihre Wirkung zu verlieren droht. Viel Arbeit, viel Bewegung, viel Organisation gibt es, aber die Ernte ist schwach! Sollte uns dieses zu denken geben? Haben wir aus der Vergangenheit gelernt? Ich hoffe, daß in den folgenden Seiten des Buches ein mehr oder weniger richtiges Bild hervorkommt, von dem, was gewesen ist, von dem, das vor uns liegt. Wir alle wollen versuchen, ehrlich zu sein, und das wird nicht immer so einfach sein. Ich werde an die Worte des Psalmisten erinnert: “daß du so groß bist und Wunder tust und allein Gott bist. Weise mir, Herr, deinen Weg, daß ich w an die in deiner Wahrheit; erhalte mein Herz bei dem einen, daß ich deinen Namen fürchte. . . . Denn deine Güte ist groß über mich . . . 13 Du aber, Herr, Gott, bist barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue” (Psalm 86). Wir, unsere Generation, wir sind berufen die Fackel des Evangeliums hoch zu halten, in unserer Zeit unsere Aufgaben zu erfüllen, das Gut unserer Väter, den Glauben an diesen Gott der Treue im Dienste an unserer Generation klar zu beweisen, in Wort und Tat. Und nun hören wir ein Wort aus der Höhe, es kommt vom Herrn: “. . . halte, was du hast, daß niemand deine Krone raube. Wer überwindet. . . .” (Offenb. 3,11. 12). Gott in seiner Allmacht und Weisheit hat es so geführt, daß einige unserer Glaubensgeschwister und liebe Familienangehörige dort bleiben mußten, um ihre Aufgabe dort unter den schwersten Verhältnissen, in vielen Fällen mit dem Tode besiegelnd, auszu¬ führen. Andere, darunter du und ich, wir durften in die Freiheit gehen, und Gott erwartet von uns dieselbe Treue, dieselbe Hingabe, wie von jenen. Der Kampf ist nicht zuende, Die Arbeit darf nicht ruh’n; Hebt auf die läß’gen Hände, Bald kommt der Zeiten Wende, Wo Gott in seiner Allmacht Sein Volk zur Ruhe führt. Doch heute gilt’s zu wagen, Das Leben und die Gaben, Für Gottes Reich in dieser Welt. Einige Streiflichter über die geschichtliche Entwickelung des Mennonitentums im Allgemeinen Im Laufe der Zeit ist der Begriff “Mennoniten” im allgemeinen Volksgebrauch sowohl auf Gemeinde als auch auf eine Volksgruppe bezogen worden. Wir können dieses nicht leugnen. Wenn einige sich heute aufbäumen und es nicht wahr haben wollen, daß auch ein Nicht-Gemeindeglied aus unserem ‘‘Volksstamm” sich Mennonit nennt, dann dürfen wir hier nicht gegen die Entwickelung anlaufen, die sich eben im Laufe der Jahrhunderte durchgesetzt hat. Besonders zeigte sich dieses im Koloniesleben, wo man in Dörfern lebte, Schulen und gemeinsame Einrichtungen hatte; da war eben ein jeder Bürger mit denselben Rechten, ob Gemeindeglied oder nicht. Dasselbe Prinzip war gültig bei Auswanderungen und auf der Flucht und auch bei der Sammlung von unseren Leuten in Flüchtlingslagern und bei der Hilfsaktion in Auswanderungsfragen. Es wird uns etwas leichter gemacht unter den Verhältnissen, in denen wir hier in Kanada in den Städten leben, Nicht-Gemeinde- glieder als Nicht-Teilhaber unseres Schicksals zu betrachten. 14 Persönlich bin ich auch der Ueberzeugung, daß wir hier in Gemeindefragen eine klare Linie ziehen, daß wir aber dennoch schon aus reinen, geschichtlichen Hintergründen und Schicksals¬ verbundenheit in der Vergangenheit eine nähere Beziehung zu diesen Leuten haben, als zu irgendwelchen außenstehenden Per¬ sonen. In dem Sinne können wir eine gewisse Eigenart nicht von uns abschütteln und einfach sagen, daß solche nicht zu “unseren Menschen” gehören. Beim Aufkommen des Täufertums und der später genannten Mennoniten handelte es sich klar um Leute, die aus der versteiften Kirche heraustraten und eine neue Gemeinschaft gründeten, die dann zur Gemeinde wurde, die Gottes Wort als alleinige Grundlage ihres Glaubens gelten ließ. Ohne Zweifel schlossen sich dieser Gemeinde Menschen aus allen Schichten sozialer Stände, aus verschiedenen Ländern und Provinzen an. Das einzige, das sie verband, war der gemeinsame Glaube an Jesus Christus und die Glaubenseinstellung, daß Kirche und Staat getrennt sein sollten, daß die Taufe nur auf Grund des persönlichen Glaubenbekennt¬ nisses gehandhabt werden sollte, und daß der Christ die Waffen nicht zur Bekämpfung von anderen Menschen gebrauchen dürfe, und daß er keinen Eid schwören dürfe. Raum und die Zeit erlauben uns nicht auf weitere Einzelheiten einzugehen; es gibt da zur Genüge Material, das uns den geschichtlichen Werdegang der Entwickelung des Mennonitentums beschreibt. Ich möchte nur einige Dinge erwähnen, die mitbestimmend in der Formung und Modelierung des Mennonitentums gewesen sind. Wir sind, was wir heute sind, das Produkt der Vergangenheit. Uns interessiert die Zukunft, wohin wir von heute steuern, und da ist die Vergangenheit doch sehr wichtig. Es bestehen zwar verschiedene Geschichtsauslegungen, in¬ wieweit die Reformationsbewegungen des Täufertums aus der Schweiz bis nach Holland innerlich verbunden waren, inwieweit die Waldenser Vorläufer gewesen und inwieweit die Hugenotten Vermittelungsdienste geleistet haben. Professor Benjamin H. Unruh, in seinem geschichtlich so wertvollen Buche “Die nieder¬ ländisch- niederdeutschen Hintergründe der mennonitischen Ost¬ wanderung”, das im Selbstverlag im Jahre 1955 erschien, ist auf Grund geschichtlicher Forschung der Meinung, daß das Waldenser- tum weniger Bedeutung in der Geschichte des Täufertums hat, als man von verschiedenen Quellen behaupten will, jedoch zugebend, daß ihre Frömmigkeit dennoch als Nährboden betrachtet werden könnte (Seite 21, 22). Ich möchte nun in diesen wenigen Zeilen darauf hinweisen, daß die Mennoniten zu Beginn nichts anderes sein wollten, als lebendige Glieder am Leibe Jesu Christi. Die Gemeinde Jesu Christi ist zu allen Zeiten durch schwere Prüfungen gegangen. Das kann auch von den Täufern und der nachfolgenden Gemeinde gesagt werden. Die Gemeinde hat ihren Ursprung in der Person Jesu Christi, dem Gottes- und Menschensohne. Er hat gesagt: “Ich will meine Gemeinde bauen.” Wo immer er die Gemeinde bauen kann, erfüllt 15 sie den Zweck ihres Daseins; wo immer sie zum Selbstzweck wird, verliert sie ihre innere Kraft und Geistlichkeit. Johannes berichtet in seinem ersten Kapitel, wie dieses alles begonnen hat: “Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. ... In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. . . . Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns. . . . Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.” Hier ist alles gesagt, was gesagt werden muß, um über Gottes Anfang mit uns Menschen und der Gemeinde Klarheit zu haben. Auch in diesen Versen wird es klar gesagt “in ihm”, und in “seiner Fülle”, da liegt das Geheimnis. Wo die Gemeinde Jesu Christi erhalten blieb, war es, wo man in ihm blieb. Christus hat das Fundament gelegt, und jegliche reformatorische Bewegung durch die Zeiten des Christentums, wenn sie echt war, hat immer wieder die Botschaft gehabt: “Zurück zum Worte!” Das Gemeindeleben spielt sich hier in der Welt ab. Wenn sich nun in der Welt Gruppen und Gemeinden bilden, kommt man ohne ein Minimum von Organisation nicht aus. Glaubensfragen müssen immer wieder erwogen und den neuen Generationen nahe gelegt werden, und da muß man lehren und Richtlinien setzten, die den Gemeindegliedem im täglichen Leben Handlangerdienste leisten können. Wenn nun die Organisationsfragen die Glaubensfragen überschatten, oder wichtiger werden, wird das Gemeindeleben leicht zur Form und Routine und dieses konnte auch scheinbar in der Geschichte der Mennoniten nicht verhütet werden. Bei den Täufern war es nun so, daß sie durch Verfolgung und mancherlei Einschränkungen in Gruppen und kleinen Häuflein irgendwo bei einem Adeligen Aufnahme fanden, oder sonst in Verstecken leben mußten. Dadurch hat sich mit der Zeit der Zug zur Abtrennung und Isolierung gebildet. Dieser Zug wurde dann später noch mehr betont, als man in Kolonien und abgeschlossenen Gruppen lebte, eigene Schulen und Verwaltungssysteme aufbaute, welche wenig oder nur ein Minimum von Kontakten mit der Außenwelt und andern Kulturen erlaubten. Schließlich war es klar, daß die Mennoniten “die Stillen in Lande” waren, und daß die Wehrlosigkeit ein dem “Mennonitenvölklein” eigener Charakterzug wurde. So ist es mit der Zeit gekommen, daß das Mennoniten¬ völklein zur ethnischen Gruppe wurde. Weil es so war, können wir es heute nicht leugnen, und wollen es auch nicht; wir hoffen nur, daß man daraus für die Zukunft lernt. Weiter müssen wir zugeben, daß wir als Mennoniten nur einen kleinen Teil des allgemeinen Christentums ausmachen, und daß andere, mit der Reformationszeit beginnend oder später, dieselben Versuche gemacht haben, die Gemeinde zum “Ursprungsstand” zurückzubringen. Viel Eifer und Menschlichkeit hat sich da wohl oft mit eingeschlichen, besonders, wenn es zur Bildung gewisser 16 Gruppen kam, die mehr aus Mangel an Kooperationsgeist ent¬ standen, als aus wirklicher Geistlichkeit und Liebe zur Sache. Da haben wohl viele Christen ihrem Haupte Christus manche Sorgen bereitet und wir sind so froh daß wir da nicht den letzten Urteilsspruch zu geben haben, sondern dem Herrn, dem Gründer und Erhalter der Gemeinde überlassen. Die Geschichte lehrt uns, daß die Mennoniten ursprünglich, außer in der Schweiz, vornehmlich in Holland vertreten waren. Obzwar der einstige katholische Priester Menno Simons die Taufgesinnten gesammelt und organisiert hat, und somit als Sammler der Taufgesinnten angesehen wird, waren es verschiedene Männer, die vor ihm führend in der Täuferbewegung waren. Dr. Benjamin Unruh schreibt in dem schon erwähnten Buche: “Das niederländische Täufertum war zwar weitgehend ein Eigengewächs, aber doch nicht unbedingt. Eine Ausstrahlung des schweizerischen Täufertums auf das niederländische hat fraglos stattgefunden, vor allen auch durch Melchior Hoffmann, der ja in Straßburg, einem protestantischen Ableger Basels und Zürichs, für die Taüferbewegung gewonnen wurde. Er wurde der Träger des Täufertums vor Menno im nieder¬ ländischen Raum’’ (Seite 23). Unruh fährt dann fort zu erklären, wie Hoffmann und andere führend und einflusßreich in der Täuferbewegung gewesen sind. “Von Emden aus, wo Hoffman an einem Tage 300 Personen taufte, wurde das niederländische Täufertum in die nördlichen Provinzen weiter verbreitet und organisatorisch ausgebaut, durch Hoffmanns Schüler Jan Volkerts, genannt Trijpmaker. . . Durch Volkerts wurde Amsterdam das zweite täuferische Aktionszentrum. Uebrigens ist auch Hoffman selbst hier gewesen (1535, also noch vor Mennos Ausgang aus der alten Kirche). 1536 hatte die Amsterdamer Taufgesinnten-Gemeinde bereits 1535 Mitglieder (Unruh, Seite 23, 24). Bald wurden die Neuerer, oder Taufgesinnten, später nach ihrem Führer Menno, Mennoniten genannt, von der Staatskirche verfolgt und schwer bedroht. Karl V. hatte schon 1521 und 1522 in den Niederlanden ein scharfes Gebot—Edikt—ergehen lassen gegen alle Neuerer, und 1523 ging man scharf gegen diese vor. Anfänglich bezogen sich viele dieser Edikte in ihren Plakaten hauptsächlich auf Luthers Schriften und Lehren, aber seit 1533 waren die Plakate dann nur noch gegen die Täufer gerichtet. Diese schwere Ver¬ folgungen der Inquisitionszeit und spätere Verfolgungen, haben einen bestimmten Stempel und Charakter auf das Mennonitentum gelegt, man könnte es mit Ergebung und stiller Hinnahme des Geschickes bezeichnen, vor allen Dingen einen Zug der Schwer¬ mütigkeit, des ernsten Benehmens, das schließlich zu der Einstel¬ lung geführt hat, daß man das Leben in dieser Welt nicht von der freudigen Seite nehmen kann. Christsein heißt leiden, und wenn man nicht leidet, dann ist man doch wenigstens ernst. Man lebt für die kommende Welt, und muß sich notgedrungen hier in der Welt 17 mit Sünde und Leiden abfinden. Aus dem freudigen Jüngerzeugnis entwickelte sich eine gewisse Resignation unter die Verhältnisse. Viele Wanderungen kennzeichnen von hier an die Geschichte der Mennoniten. Man hat auch “in der wissenschaftlichen Forschung von den Mennoniten als von einem Volke auf dem Wege gesprochen” (Unruh). “Von den Niederlanden ging es dann nach anderen Provinzen. Ostfriesland war im 16. Jahrhundert schon Mittelpunkt und Ausgangspunkt der großen Täuferbewegung innerhalb der nieder¬ ländisch-niederdeutschen Mennonitenaus Wanderung nach dem Weichsel- und Nogatgebiet, in das herzogliche und polnische Preußen, von wo die preußischen Mennoniten nach Rußland und über Rußland (teilweise auch direkt) nach Uebersee gekommen sind” (Unruh, S.34, 35). Prof. B. H. Unruh in dem erwähnten Buche, und andere Quellen, berichten dann über die Ausbreitung des Mennonitentums von Holland über Friesland nach Preußen, in das Weichselgebiet, nach Danzig und dem danziger Werder, sowie von Tochterkolonien in Litauen und dem Netzebruch. Leider müssen wir es mit dieser Andeutung allein genügen lassen. Ich möchte hier nur darauf hin weisen, daß es für uns und unsere Kinder wichtig ist, den Werdegang der Geschichte unseres “Volkes” zu kennen, denn nur dann werden wir auch die Gegenwart und Zukunft schätzen und wertvoll leben können. Als Jesus in die Welt kam und Fleisch wurde, dann kam er in die Geschichte der Menschheit hinein, und deshalb ist auch für den Christen die Geschichte seiner Vorväter von nicht geringer Bedeutung, Geschichte macht verantwortlich. Das kaiserliche Schloß am Schwarzen Meer, jetzt Erholungsheim. Krim—Taurien Die Krim ist eine Halbinsel im südlichen Teile Rußlands und wird von den Wassern des Schwarzen und Asowschen Meeres umspült. Sie hat etwa 10.000 Quadratmeilen Land Oberfläche und ist durch eine schmale Landenge im Norden bei Perekop mit der Ukraine verbunden. Die Halbinsel hat etwa 1.400.000 Einwohner. Von der südlichen Küste erhebt sich das Flachland schnell zu den Krimer Gebirgen, auch Taurische Berge genannt, mit der höchsten Spitze 1540 m hoch. Das Klima ist mild, ähnlich dem am Mittelmeer. An der Südküste gibt es zahlreiche Kur- und Badeorte. Die Berge sind mit Wäldern bedeckt, bestehend aus Zedern, 19 Magnolien und Olivenbäumen. Die Landwirtschaft ist blühend, ausgedehnte Gärten, Tabak- und Weinbau, Getreidebau und Viehzucht. Die Krim ist weiter reich an Mineralien: Salze, Erdöl, Eisenerz, Schwefel. In Kertsch gibt es eine Stahlindustrie und manche Werften geben den Häfen ein besonderes Gepräge. Nicht zu vergessen sind die Kalk- und Muschelsteingruften, die zum großen Teil das Baumaterial bieten. Das Gebirge hält die Winde aus dem NO ab und macht auf diese Weise den schmalen, bis zu 9 km breiten Küstensaum mit den malerisch steilen Bergabhängen zwischen Neusudak und Balaklawa zu einer paradiesischen Region, die bei subtropischer Vegetation den mannigfachsten Wechsel von prächtigen Villen, Festen und Ruinen der Vorzeit, Klöstern und Moscheen, schönen Gärten, Weinbergen und herrlichen Olivenhainen darbietet und längst ein Lieblingsaufenthalt des russischen Hofes und Adels war. Besonders zeichnet sich Livadia aus. Einst war es Besitztum des Kaisers, eine reizende Gegend mit zwei Palästen, prachtvolle Gärten voll exotischer Gewächse, großartige Parkanlagen und Weinbergen, und weithin mit Villen und Schlössern bedeckt ist. Etwa 5 km von hier befindet sich der Badeort Yalta, wo Ende des letzten Weltkrieges das tragische Schicksal von Millionen von Menschen und vieler Länder von den “3 Großen” beschlossen wurde. Einige geschichtliche Daten. Um 600 vor Chr. wurde die Krim durch Griechen von Milet aus besiedelt. Vom 5. bis zum 2. Jahrhundert v.Chr. war es ein selbständiges Bosphoranisches Reich, von Pontus unterworfen; 47 v.Chr. wurde es römische und 395 nach Chr. byzantinisch. Zur Zeit der Völkerwanderung von Hunnen und Goten mit deren Sprache und Literatur beeinflußt; im 13. Jahrhundert von den Tataren erobert, 1475 türkisch und schließlich wurde 1783 die Krim russisch. Wir sehen, daß die Krim durch eine interessante, wenn auch schwere Zeit der Entwickelung gegangen ist. Dieses erklärt das farbenreiche Völkergemisch und besonders den türkisch-tatarischen Einschlag. Die Krim bildete ein starkes Bollwerk gegen die Soviet Regierung während der Revolution, beginnend 1917. Die Opposi¬ tion wurde schließlich im Jahre 1921 niedergedrückt und die Krim wurde eine autonome Republik innerhalb der Föderation Sozialisti¬ scher Republiken Rußlands. Im II. Weltkrieg besetzten die deutschen Truppen die Halbinsel während der Jahre 1941 bis 1945. Die Krim wurde dann eine Provinz der Föderalen Sozialistischen Republik. Im Jahre 1954 wurde sie der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik zugeteilt. Die Hauptstadt der Krim ist Simferopol. Andere bedeutende Städte sind: Kertch, Sawastopol und das geschichtlich bedeutende Balaklawa und Yalta. Der Krimkrieg (1853-1856) wurde zwischen den russischen Streitkräften und den alliierten Mächten—England, Frankreich, Türkei und Sardinien geführt. Im Hintergrund stand die Streitfrage der Kontrolle über die heiligen Stätten in Jerusalem. Die eigentliche 20 Ursache des Krieges war jedoch politische, ekonomische, strate¬ gische und dynastische Rivalität zwischen den verschiedenen Nationen. Im Laufe des Krieges verdrängten die Alliierten die russischen Streitkräfte aus der Türkei in die Halbinsel Krim. Hauptschlachten fanden beim Alma Fluß, bei Balaklawa, Inkerman, Eupotoria und Sawastopol statt. Die Bedingungen des Friedensvertrages wurden am 30. März 1856 in Paris unterschrieben. Erinnerungen “Hurra! wir machen einen Ausflug!” Mit einem Jubeln und Jauchzen stürmten wir aus dem Klassenzimmer. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Wir Schüler waren uns dessen sicher, daß es ein Verbrechen wäre, auch den Nachmittag im Klassenzimmer zu verbringen. Der Lehrer hatte es wohl eingesehen, daß an ein Lernen und Schreiben, besonders noch “Schönschreiben” gar nicht zu denken war. Als wir auf standen, um für die Mittagspause entlassen zu werden, sagte der Lehrer ganz verschmitzt: “Nun denn, wenn ihr es so meint, dann werden wir heute nachmittags auf die Wiese hinter der Windmühle gehen, um dort zu spielen. Fragt bitte eure Eltern, wer barfuß gehen darf.” Im Nu waren wir alle aus dem Klassenzimmer gestürmt und eilten so schnell wie möglich nach Hause, um eiligst unser Mittagessen hinunterzuwürgen. Mutter wurde überzeugt, daß bestimmt alle Schüler die Erlaubnis erhalten würden, barfuß auf der Wiese spielen zu dürfen. Ja, das erste Barfußgehen, wie herrlich! Bald war die ganze Gruppe auf dem Schulhofe versammelt. Bis der Lehrer kam, wurde getollt und gespielt. Endlich ging’s los. Fein ordentlich mußten wir uns zu zweien in eine Reihe stellen; der Lehrer voran, ging’s nun die Mittelstraße entlang, an der Windmühle vorbei, bei Ruckhabers über den Hof bis zur Lehm¬ grube. Bald hatten wir eine schöne Stelle gefunden, mit frischem, grünem Gras. Kranzball, Schweinehirte, Taschentuchhinterwerfen, Hasch-Hasch, “Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann”, Alle meine Gänschen, kommt nach Haus”, und manche andere Spiele wurden gespielt; natürlich durfte “Polak” nicht vergessen werden. Zwischendurch nahmen wir einen kleinen Imbiß ein, und der Lehrer, Franz Dueck, lenkte nun unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Schönheiten der Natur. Dort war es eine Lerche, die trillernd ihre Stimme hören ließ, die ersten Schmetterlinge ließen sich sehen, und wir durften einige einfangen, um sie dann der Sammlung hinzuzufügen, die wir jedes Jahr vergrößerten. Er erzählte uns von der Windmühle und warum sie “holländische Windmühle” genannt wurde. Ein kleines Stückchen mennonitischer Geschichte tat sich vor uns auf, wie unsere Vorväter die 21 Windmühlen von Holland nach Preußen gebracht, und als sie im Jahre 1780 und weiter von der Danziger Gegend nach Südrußland auswanderten, fanden die Mühlen auch hier ihren Platz, wo immer Mennoniten ansiedelten. Da mein Vater und mein älterer Bruder Jakob des öfteren die Windmühle bedienten, hatte ich manche Gelegenheit, jeden Winkel der Mühle zu untersuchen und die Treppen auf und ab zu stürmen. An den Sonntagnachmittagen war die Windmühle und der Rasen ein belebter Sammelplatz für uns Jungen. Wenn der Wind nur leise wehte, hatten wir wohl oft die Bremse gelöst und ließen dann die Flügel drehen. Und wenn der Leser es keinem weiter verraten wird, werde ich ihm ein Geheimnis erzählen: Wir haben uns dann an die Sprossen der Flügel gehängt und ließen uns weit im Kreise durch die Luft tragen. Das war natürlich ziemlich kompliziert, denn wir mußten von Sprosse zu Sprosse greifen, bei der Umdrehung der Flügel. Wenn wir oben anlangten, würden einige der Jungen unten singen: “Auf die Berge möcht ich fliegen, möchte sehn ein grünes Tal, möcht in Gras und Blumen liegen, und mich freun am Sonnenstrahl. ...” Ein besonderes Bild prägte sich jedem Krimer ein, auch uns Kindern; das waren die Berge im Süden, etwa 50 Meilen Entfernung. In der Mitte der Bergkette zeichnete sich in besonderer Weise der Tchaterdach aus, ein langgestreckter Berg, fast wie ein neuaufgeworfener Grabeshügel. Lehrer Dueck erzählte uns von den Bergen, den Leuten, die da wohnten und von der Südseite zum Schwarzen Meere hin, wo Südfrüchte, wie Zitronen, Apfelsinen und besonders schöne Weingärten die Bergesabhänge bedeckten. Im Widerschein der Sonne konnten wir klar einige weiße Stellen sehen, wohl Häusergruppen und Schlösser. Welche Aussicht, und die Weite der Steppen! In uns allen stieg der Wunsch auf, einmal in die Berge zu fahren. Der Tag wurde kühler und der Lehrer mahnte zum Aufbruch. Müde und gezähmt traten wir in Reih und Glied wieder den Heimweg an. Ein unvergeßlicher Tag. Ja, die Krim war unsere Heimat, und wir liebten sie. Mennonitensiedlungen in der Krim, Süd-Rußland Von Peter Joh. Rahn, Filadelfia, Paraguay Ich wurde im Jahre 1873 geboren und, wenn ich auch von den ersten Jahren meines Daseins nichts erzählen kann, so schreibe ich es so, wie ich es erlebt habe, obschon auch einiges darin vorkommt, das vor meiner Zeit geschehen ist, und was mir alte Leute erzählt haben. Dann rechne ich damit, daß manche lieben Krimer, wenn sie diesen Bericht lesen, denken werden, in letzter Zeit war dieses und jenes doch viel anders. 22 Also ich schreibe, wie ich es erlebt habe bis zum Jahre 1911, als wir von der Krim nach Omsk übersiedelten. Würde mich aber herzlich freuen, wenn jemand berichten würde, wie es in der Krim in den späteren Jahren auf den verschiedenen Gebieten ausgesehen hat. Bekanntlich ist die Krim eine Halbinsel, die im Norden bei Perekop mit dem Festlande verbunden ist. Seit Mitte der 50-er Jahre des vorigen Jahrhunderts gehört die Krim zu Rußland. Perekop war 1894,als ich da einmal war, nur ein kleines Städtchen, aber doch die Kreisstadt des Perekoper Kreises. Dort konnte man damals noch große Verschanzungen sehen, die, wie man sagte, noch von vor dem Krimkriege herstammten. Ganz leichten Kaufs haben die Tataren die Krim also doch nicht abgeben wollen. Man hatte dort großangelegte Schützgräben ausgeführt und man meinte, daher komme der Name “Perekop”—durchgegraben. Der große Postweg (130 Meter breit) von Perekop nach Simferopol, kam von Chakowka am Dnjepr. An der anderen Seite des Stromes liegt Bereslaw und von dort wohl 70 km entfernt die schöne Ansiedlung Sagradowka. Auf oben erwähntem Postwege wurden viele Herden Schafe und Rindvieh nach Simferopol und anderen südlich ge¬ legenen Städten zum Schlachten getrieben. Fünf km südlich von Perekop war die Stadt Armjansky (auch Armjansky Basar genannt) Dort war wöchentlich Markt und zweimal im Jahr Jahrmarkt. Die nächste Poststation von Armjansky, 20 km südlich, war Ischung. Wenn von Perekop bis Armjansky zu beiden Seiten des Weges fast nur Limane (sumpfiger Meerbusen an der Mündung des Siwasch) waren so besserte sich südlich von Armjansky nach Ischung zu das Gelände doch und fand als Viehweide Verwendung. Das Wasser im Siwasch war sehr salzig. Dort konnte man auch recht große Salzhaufen sehen. Die angehäuften Salzmengen sahen weiß wie Schnee aus. Salz war damals in Mengen zu haben. Für Siedlungszwecke eignete sich das Gelände nicht. Westlich, weiter ab vom großen Postwege, wurde der Siwasch tiefer, besonders wenn bei passendem Winde das Wasser vom Meer in den Fluß getrieben wurde. Schiffbar wurde das Vfeer erst 35-40 km vom großen Wege. Man nannte den sehr primitiven Hafen dort Bakal. Bis dort kamen mitunter kleine Segelschiffe, um Getreide zu laden. Die ersten 10-15 km vom Meer ab waren auch bei Bakal höchstens zu Viehweide zu gebrauchen. Weiter besserte sich das Land und fand für Ackerbau Verwendung. 20 km südlich von der Poststation Ischung lag die Poststation Djurmeng. Das Land in der Gegend war wohl etwas zu reich an Salpeter, jedoch wurde zwischen diesen Stationen zu beiden Seiten des großen Weges schon Ackerbau betrieben. Dann gab es noch folgende Poststationen: Aibar, Trochablam, Sarabus und dann die Gouvernementsstadt Simferopol. Die Eisenbahn Charkow-Sewastopol fährt bei Tschongar in die Krim und, weil etliche Mennonitendörfer hart an der Linie lagen, so will ich auch die Bahnstationen von Tschongar bis Simferopol nennen: Tschongar, Taganasch, Dtschangoj, Kurman-Kemeltschi, 23 igerchor in Tokultschak, Krim. Dirigent Heinrich Ediger, rechts Katharina Rahn und links vom Dirigenten vorne sitzend Franz Filippsen. ■hts, hinter dem Baum Peter Johann Rahn und links die zweite in der zweiten Reihe, Susanns Rahn. Eingesandt: Peter Rahn. Tsijuk-Onlar und Sarabus. Von Dshangoy geht eine Bahn nach Feodossia. Später ist diese Linie bis Perekop verlängert worden. Seit dem Krimkrieg in den 50-er Jahren des vorigen Jahr¬ hunderts gehört die Krim zu Rußland. Viele von der tatarischen Bevölkerung flüchteten mit den Türken, und dadurch war manch ein Tatarendorf menschenleer und verlassen stehen geblieben und in Regierungshand übergegangen. Die Tataren, die nicht geflüchtet waren, blieben in ihren Dörfern wohnen, und man konnte noch recht viele solche Tatarendörfer antreffen. In einigen dieser erwähnten Dörfer lebten auch noch “Mursaken”, tatarische Adelige, und es war zum Wundern, wie die von der ärmeren Klasse respektiert wurden. In den größeren Dörfern waren auch Metschetjs (mohammedanische Kirchen) und die Bevölkerung wurde von ihren Mullahs (Geistlichen) betreut. Im Verlauf etlicher Jahre, nach dem Krimkriege, als es erst geklärt war, welche Dörfer in Regierungshand übergegangen waren, gab die russische kaiserliche Regierung diese Ländereien frei zur Besiedlung. Siedlern, die gewillt waren auf solchen Ländereien anzusiedeln, gab man die Möglichkeit, sich zu gruppieren und den gewünschten Landteil käuflich zu erwerben. Das Land in der Krim ist, was Qualität anbetrifft, sehr verschieden, und deshalb wurde auch jeder Landanteil separat abgeschätzt. Es ist da vorgekommen, daß innerhalb von 10 km ein Landteil 7 Rubel pro Hektar, einer 4 und der dritte 3 Rubel abgeschätzt wurde. Auf den Regierungsländereien siedelten meistens Fremdstäm¬ mige: Litauer, Ostländer, und lutherische Deutsche, dort im Volksmund Kolonisten genannt, an. Auch Mennoniten aus ver¬ schiedenen Gegenden wurden von der Ansiedlungslust erfaßt und waren gleichzeitig mit meinem Heimatdorf Tokultschak angesiedelt worden, auf folgenden Bedingungen: Zu einer mennonitischen Wirtschaft gehörten 100 Hektar. Der Käufer sollte sie in 10 Jahren bezahlen, Vt Hektar Wald und 12 Hektar Obst- und Gemüsegarten anlegen, an der Straße entlang entweder Akazien oder Eschen pflanzen und unterhalten und zwischen den Nachbaren als Grenze eine Maulbeerhecke pflanzen. Das Grundstück war 60 Meter breit. Zehn Mennonitendörfer wurden gleichzeitig mit meinem Heimat¬ dorfe gegründet, und zwar anfangs der 70-er Jahre, auf gleiche Bedingungen, nur daß der Preis des Landes nach der Güte desselben verschieden war. Das älteste Dorf der Mennoniten ist wohl Karassan. Es lag 15 km von der Bahnstation Kurman-Kemeltschi und hatte ganz gutes Lapd. Ihre Felder reichten bis an den Fluß Salgier. Bei Sultan- Basar war eine Brücke über den Fluß. In Karassan hatte ein Onkel Gerhard Wall eine Dachpfannenbrennerei und viele Dächer in der Krim sind mit diesen Dachziegeln gedeckt worden. Das Dorf hatte eine recht schöne Kirche. Ihr Aeltester war ein Onkel Abraham Friesen. Dort hatte man eine Zentralschule erbaut und auch ein Konsumhandel wurde ins Leben gerufen. Außer dem gewöhnlichen Gartenbau, hatte man dort auch noch Weinbau. 25 Angesiedelt wurde das Dorf in der Mitte der 60-er Jahre. Will nun einiges über die 10 Mennonitendörfer schreiben, die anfangs der 70-er Jahre angesiedelt wurden. Tokultschak hatte noch den deutschen Namen Johannesfeld. Auf meine Frage, noch als Knabe, warum Johannesfeld, sagte man mir, es sei genannt nach einem Onkel Johann Komies. Das Dorf bestand aus 12 Wirtschaften. Der Landpreis war 7 Rubel pro Desjatine. Die Lage des Dorfes war schön, das Land war fruchtbar. Die Gärten in der niedriger gelegenen Seite brachten reichlich Obst. An der niedriger gelegenen Seite waren 8 Wirtschaften, an der anderen nur vier. Am Ende des Dorfes, auch in der Reihe, stand die Dorfschmiede und dann noch das Haus des Windmüllers. Die Windmühle wurde etwas weiter ab aufgebaut. Ihr gegenüber wurde die Wohnung für den Hirten errichtet, der neben dem Hirtenamt auch das des Wasserziehers bediente. Der Brunnen hatte gutes und für Menschen und Vieh genügendes Wasser; er war 48 Meter tief. Das Wasser für den wirtschaftlichen Bedarf wurde auf einspännigen, zweirädrigen Wagen vom Brunnen geholt, was den Siedlern mit den Jahren lästig zu werden anfing. Man plante eine Wasserleitung anzulegen, zumal die Lage des Dorfes günstig und der Abfluß genügend war. In den 90-er Jahren kam die gute Sache zustande. Die Schule: Die Schulstelle war so groß wie eine andere Wirtschaftsstelle; 30 mal 80 Faden (60 mal 160 Meter); hinten auf derselben war der Kirchhof angelegt, wo jeder Siedler sein Los hatte. Jede Familie begrub ihre Toten auf ihrem Los. An der Straße, in einer Ecke der Schulhofstelle, war ein stark gemauertes Pferdehock (Korral). Dahinein brachte des Morgens der Hirte die Pferde von der Weide, von wo die Siedler sie dann zur Arbeit abholten. Es war auf dem Hofe auch ein Haus für den Nacht¬ wächter erbaut worden. Die erste Schule, die unsere Väter erbaut hatten, war nur primitiv; wir lernten aber doch schreiben und lesen. Wie meine älteren Geschwister erzählten, sei der erste Lehrer in Tokultschak ein östereichischer Wanderbursche gewesen, mit wenig erzieheri¬ schem Talent. Der Unterricht war bei Dietrich Thiessens in der Sommerstube gewesen. Der Onkel D. Thiessen hatte gleich, als er ansiedelte, ein schönes, großes Haus gebaut und mit Dachziegeln gedeckt. Die Einrichtung war nach echt mennonitischem Muster, so wie man sie in der Molotschna antraf. Dieser Mann hatte sich die Mühe gemacht, an der nördlichen Seite des Daches mit dunkeln Dachpfannen seinen Namen einzulegen, D. T., was mir als Junge immer wieder in die Augen fiel. Diese erwähnten Thiessens zogen noch in der zweiten Hälfte der 70-er Jahre nach Amerika. Den Hof eignete dann eine Familie Johann Sperling, wohl zehn Jahre, dann kauften Kornelius Thiessens den Hof. Sie waren die Eltern des Franz Kornelius Thiessen (1950 in Abbotsford, B.C., gestorben). In der ersten, wenn auch nur primitiven Schule, waren doch schon mennonitische Lehrer gewesen. Ein Sohn unseres Nachbarn Peter B. Unruh war 1878 Lehrer. Von 1879-1880 war ein Kornelius 26 Familienbild von Johann J. Rahn um 1897, Tokultschak, Krim. Von links nach rechts: Jakob und Anna Dueck, geh. Rahn, Minlertschik; Jakob und Ida Harder, geh. Rahn, Tokultschak; Kornelius und Maria Warkentin, geh. Rahn, Adschambet; Großeltern Johann Jakob Rahn und Katharina, geb. Gooßen, Tokultschak. Hinter ihnen von links nach rechts, Katharina Rahn, Johann Rahn und Susana Rahn, Tokultschak; Hermann und Anna Rahn, geb. Peters, Adschambet; Franz und Maria Rahn, geb. Berg, Busau; Peter und Susanna Rahn, geb. Konrad, Tokultschak. Eingesandt: Frau David Boschmann. Warkentin und dann drei Jahre ein Lehrer Tjarth, später Prediger auf Talentschi bei Karassan. Dann Peter Goerzen, später Waisenäl¬ tester auf Neu-Samara und dann noch ein Gerhard Dueck und etliche Jahre war Johann Federau Lehrer. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren in den ersten Jahren recht schwer für die Siedler. Besonders das Jahr 1887. Damals blies der Wind den Brachweizen derart aus, daß das Ernteergebnis nur sehr gering war. Doch mit dem folgenden Jahr (1888) gab es eine Wendung. Die Ernte war eine überaus gute und die Siedler faßten frischen Mut. Man reparierte die Gebäude und baute neue Häuser, und anfangs der 90-er Jahre bauten die Tokultschaker eine neue, schöne Schule. Zu der Zeit war Heinrich S. Ediger Lehrer und auch Dirigent in Tokultschak, und man hatte einen Gesangchor ins Leben gerufen, woran sich wohl alle Jugendlichen des Dorfes beteiligten. Der Ortsprediger war ein Onkel Peter Dueck. Später kamen Onkel Abram Harder und Onkel Bernhard Friesen hinzu, die auch im Dorfe Wirtschaften hatten. Diakon war mein Vater Johan Rahn, gestorben 1913. Den Landteil Tokultschak durchschnitt die Poststraße Perekop-Simferopol zwischen den Poststationen Djurmenj und Akbar. Das Dorf lag drei Viertel km westlich davon. Das Land war guter Ackerboden. Das geringere, etwas steinige Land hatte man als Viehweide liegen lassen. In den 80-er Jahren wurden die Bürger sich einig, von den Steinen, die auf dem Lande lagen, Kalk zu brennen. Am steilen Ufer einer Niederung wurde ein Ofen 27 angefertigt; jeder Bürger mußte etliche Fuhren Steine sammeln und zum Ofen fahren. Wenn die entsprechend eingepackt waren, lieferte jeder Teilnehmer Brennstroh, soviel es bedurfte, und man brannte Kalk und erreichte damit zwei Ziele: Die Steine kamen vom Felde und jeder Bürger hatte auf etliche Zeit einen Vorrat von Kalk. Auch war da am Postwege ein Steinbruch, wo damals schon mittels einer Säge Steine gesägt wurden. Man mußte aber erst eine Schicht Erde Abräumen. Angrenzend an Tokultschak, in westlicher Richtung, lag das einreihige Dorf Muni. Der Landpreis war vier Rubel a Desjatme. Die eine Hälfte dieses Landes war ziemlich steinig. Diese Bürger verkauften das ganze Dorf später an lutherische deutsche Kolo¬ nisten. Es hatte den deutschen Namen “Wiebental”. Wirtschaft des Johann Jak. Rahn in Minlertschik, 1912. Eingesandt: Frau David Boschmann. Timir-Bulat- Landpreis drei Rubel, der deutsche Name “Philippstal”. Diese beiden Dörfer waren wohl nach einem Philipp Wiebe genannt. In diesem Dorf wohnte und starb der Aelteste der Mennonitengemeinde, Heinrich B. Unruh, der Vater der Brüder Abram H. Unruh, Winnipeg, und Benjamin H. Unruh, Karlsruhe, Deutschland. Ich erinnere mich noch des Onkels Heinrich Unruh. Es war auf einem Missionsfest in Tokultschak, bei Abram Harders in der Scheune, und dort sagte er zum Schluß das Lied vor: “Ob so oder anders der Herr mich regiert, so gilt nur sein Wille, ich halte ihm stille. . . .” Nicht lange danach wurde in unserem elterlichem Hause in Tokultschak erzählt, Aeltester H. Unruh sei krank. Von der Krankheit ist er wohl nicht mehr genesen, denn bald darauf kam die Nachricht von seinem Tode. Als ich dann nach etlichen Jahren in Timir-Bulat auf dem Begräbnis eines Freundes war, hatte ich noch die Gelegenheit, den Grabstein auf Aeltesten Heinrich Unruhs Grab 28 zu sehen, und wenn ich nicht irre, mit der Inschrift “Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.” Timir-Bulat war, was das Land anbetrifft, nur von geringer Qualität, sehr steinig, und wohl kaum ist ein Bürger von Timir-Bulat wirtschaftlich hochgekommen. In Timir-Bulat war das Zentrum der Petersgemeinde. Ihr Aeltester war Hermann Peters. Von diesen Brüdern gingen eine Anzahl in den 90-er Jahren des vorigen Jahrhunderts nach Amerika, der größte Teil aber blieb in der Krim. Um die Jahrhundertwende schloßen sich noch etliche wohlhabende energische Familien der Petersgemeinde an. Und, wohl auf Anraten dieser neubeigetretenen, einsichtsvollen Männer, verkauften sämtliche Glieder der Petersgemeinde ihr Eigentum und zogen nach Omsk, das heißt 60 km hinter Omsk. Die neubeige¬ tretenen Esaus von Karassan gingen nach Trussowka und Heinrich Braun ging mit einer Gruppe nach Kirjanowka, doch pflegten diese beiden Gruppen Gemeinschaft untereinander. Diese neubeigetretenen Brüder haben ihren armen Gemeindegliedern in mancherlei Weise geholfen und sind ihnen zum Segen gewesen. Ihr Aeltester, Hermann Peters, starb im hohen Alter. Saribasch: der deutsche Name war Ettingenbrunn, wohl genannt nach einem Regierungsbeamten zur Zeit der Ansiedlung. Landpreis vier Rubel pro Desjatine. Dieses Dorf war größer als die drei schon genannten. Es hatte eine große Schule. Dort wohnten nach Aeltesten H. Unruhs Tode der zum Aeltesten gewählte Friedrich Raabe, der auch nach etlichen Jahren starb. Der Brunnen im Dorfe war 80 Meter tief und das Wasser aus demselben langte für den wirtschaftlichen Bedarf nicht aus. Das Dorf aber hatte 3 km ab einen Ersatzbrunnen zur Aushilfe. Es wirtschaftete sich dort schwer und in den 90-er Jahrern verkauften die Mennoniten Saribasch an lutherische Kolonisten. Von den Bürgern aus Saribasch kaufte ein Wilhelm Martins dann ein Landstück namens Montonaj, 30 km von Eupatoria, für seine Kinder, und nach etlichen Jahren entstand ein schönes Dorf. Der älteste Sohn Heinrich Martins wurde Prediger und nach Aeltester Friedrich Raabes Tode, wurde er ins Aeltestenamt berufen. Außer den obengenannten sechs Dörfern, die anfangs der 70-er Jahre in der Krim angesiedelt wurden, kommen noch Kurt-Itschki, deutsch Ebenfeld, 18 km von der Station Dshangoj. Dieses Land war an einer Seite ziemlich salpetrig, wogegen die andere Seite ziemlich gutes Ackerland aufzuweisen hatte. Man sagte von Ebenfeld, es sei so eben, daß bei Regenzeiten nicht genügend Ablauf vorhanden wäre. Es lag wohl etwas vereinsamt da, doch hatte man eine Schule und an den Sonntagen auch gottesdienstliche V er Sammlungen. Jalatusch: mit sieben Wirtschaften lag 30 km von Armjanski. Der Landpreis war vier Rubel a Desjatine. Etwas salpetrig, das Wasser flach. Das Dorf hatte eine eigene Schule. Als Ortsprediger hatten sie dort meinen Schwager Jakob Harder. Kutjuki: lag 10 km weiter südlich. Das Dorf war einreihig, 29 wenn ich mich recht erinnere. Das Dorf hatte eine Schule, wohl aber anfangs keinen Prediger. Später war Johann Heinrichs Prediger. Djurmeng: ein kleines Dorf, gegenüber der Eisenbahnstation gleichen Namens, ganz nahe an der Bahn zwischen den Stationen Taganasch und Dschankoy, hatte auch seine eigene Schule, außerdem war es bevorzugt von anderen Dörfern, denn es hatte einen artesischen Brunnen, der gutes und genügend Wasser lieferte. Kadagay: 12 km von der Station Kurman-Kemeltschi, Der Landpreis war vier Rubel pro Desjatme. Es war recht gutes Land, gutes Wasser und hatte den Vorzug, nicht weit von der Bahn¬ station zu liegen, was beim Getreideabsetzen großen Wert hatte. Das Dorf hatte einen Prediger in Person des alten Onkel Peter Engbrecht. Schöntal, oder Ischung-Nemetzky: lag 15 km von der Bahn¬ station Kurman-Kemeltschi. Dort hatte die MB-Gemeinde anfangs dieses Jahrhunderts ein schönes Versammlungshaus gebaut. Damals lebten der Aelteste David Duerksen und die Predigerbrüder Peter Goerz, Schoental, und David Boschmann, Annowka. Es war damals auch ein reges geistliches Leben in der Gemeinde zu bemerken. Die Glieder der Gemeinde wohnten in den umliegenden, bis 20 km entfernten Dörfern. Schoental war wohl mit Recht das Zentrum der MB-Gemeinde zu nennen. Außer den oben erwähnten Dörfern gab es noch andere Mennonitendörfer, deren Ansiedlungsjahre ich nicht genau an¬ geben kann. Etliche Dörfer wurden an lutherische Deutsche verkauft. In der Feodosier Gegend waren die Dörfer Fernheim und Augus-Tobe. Unweit der Bahn Dschankoy—Feodosia lag das Dorf Sarona. Später von den Mennoniten angekauftes Land waren die Siedlungen Baragan, 10 km östlich von Karassan, und etwas näher Telentschi (wurde auch Reimers-Chutor genannt). Später wohnte die Familie Johann Tjart daselbst, denn seine Frau war eine Reimerstochter. Dann siedelte noch von Karassan südwestlich 1911-1912 das Dorf Tschangraw an. Das Land war reich an Steinen. Was aber kein anderes Dorf hatte, das besaß Tschangrow, nähmlich eine Bibelschule. Jedoch das war nicht im Sinne der Räteregierung, und die gute Sache mußte später aufgegeben werden. Die nächste Bahnstation für Tschangrow war Bijuk-Onlar. Wohl 20 km von Bijuk-Onlar liegt die Station Sarabus. Hart an Sarabus liegt das große Mennonitendorf Spat. Es wurde anfangs der 80-er Jahre angesiedelt. Es hatte flache Brunnen, gutes Wasser und liegt am Flüßchen Salgier. Zwischen dem Salgier und der Bahnstation befand sich die Johann Langemanns-Fabrik. Zu der Zeit, als ich dort wegzog (1911), hatte Spat außer der Dorfschule eine Zentralschule, eine Dampfmühle, ein Versammlungshaus, und eine Spagatfabrik war im Entstehen. Prediger waren 1911 die Brüder Hermann Konrad, Jakob Huebert und Kornelius Wall. Diese erwähnten Brüder sind wohl schon alle in der Ewigkeit. Angrenzend an Spat, 6 km von Sarabus, liegt das Dorf Minlertschick. Ihr Land reicht schon über die Poststraße Perekop- 30 Simferopol. Da meine Geschwister Jakob F. Dueck dort wohnten, so bin ich mit den Verhältnissen, wie sie bis 1911 waren, bekannt. Das Land war erstklassig und Mißernten kamen nicht vor. Selbst als die Roten schon in der Krim herrschten, war in Minlertschick noch immer Brot. In Schnuk und Kultschuk waren früher auch Mennoniten anässig, die waren aber, wenn ich nicht irre, in andere später entstandene Dörfer übergesiedelt, so daß die schon vor dem 1. Weltkriege nicht mehr als Mennonitendörfer in Frage kamen. Neue Mennonitendörfer waren noch 10 km von Minlertschick entstanden, Sergejewka, dann nordwestlich, Tocksaba und Sabantschi. Als zweites Zentrum mennonitischer Glaubensbrüder war wohl Busau. Es liegt westlich, 10 km von der Poststation Aibar ab. Dort wohnten aus der Molotschna eingewanderte Glieder der Menno- nitengemeinde. Zwei km westlich von Busau lag Aktatschi-Busau. Diese Siedlung hatte nur wenige Einwohner, war aber mit Predigern gesegnet. Da war ein Prediger Onkel Abram Harder und der alte Prediger Rempel und dann noch ein junger Prediger Peter Friedrichsen. Von Aktatschi-Busan, 10 km südlich, liegt das schon einmal erwähnte Montonaj, und ihm gegenüber in östlicher Richtung das Mennonitendorf Kaban. Diese vier Ortschaften und die oben erwähnten Dörfer, Sabantschi und Toksaba, zählten zu dem schon erwähnten Zentrum Busau. Aeltester Heinrich Martins betreute die Gemeinde. Wohl noch im mittleren Alter stehend, raffte ihn eine schwere Krankheit dahin. Sein Tod wurde von vielen betrauert. Die Gemeinde sah nun in dem beliebten Prediger Peter Friedrichsen ihren zukünftigen Aeltesten, und er wurde auch bald dazu gewählt und bestätigt. Außer den schon erwähnten Mennonitendörfem, die auf gekauftem Lande wohnten, bestanden noch eine Anzahl Menno¬ nitendörfer, die auf Pachtland angesiedelt hatten. Es lebten nähmlich in der Krim zwei Gutsbesitzer, Anton Danilowitsch Lustig und ein Peter Schroeder. Noch bei seiner Lebzeit ließ Herr Lustig auf seinem Lande drei Dörfer ansiedeln. Zwei davon waren Mennonitendörfer: Danilowka, 2 km von der Station Kurman- Kemeltschi, und Lustigstal, gegenüber der Haltestelle Taschlikdair. Anfang der 90-er Jahre ließ Herr Schroeder auch auf seinem Lande drei Dörfer von Mennoniten ansiedeln: Beckbuslatschi, Buslitscha und Morre. Anton D. Lustig starb und hinterließ ein großes Vermögen, 25.000 Desjatinen Land und viel lebendes und totes Vermögen. Das meiste des noch freien Landes wurde verpachtet und auch neue Dörfer angelegt. Einige stärkere Pächter trieben im gewissen Sinne Großbauerei. Von den neuangelegten Dörfern war Annowka wohl das größte, hatte sehr gutes Land und war 8 km von Kurman-Kimeltschi entfernt. Ein Bürger, Peter Janzen, aus dem 7 km entfernten Schöntal, ein ziemlich energischer Mann, der die hin und her zerstreut wohnenden armen Glieder der MB- Gemeinde sah, kam auf die Idee, diese Leute zu sammeln und in einem Dorf anzusiedeln, und mit Hilfe anderer Brüder, diesen Siedlern zu helfen. Er pachtete von den Lustigserben einen 31 32 Leichenzug auf dem Begräbnis von Frau Heinrich Wedel aus Adschanbet, Krim, im Jahre 1908. Leichenträger waren von links nach rechts: Peter J. Rahn, Heinrich Unruh, G. Fast; vorne: Joh. Janzen, hinter dem Sarg Heinrich Dörksen; vorne am Rad: Dietrich Warkentin. In der Mitte links, Witwer Heinrich Wedel mit Sohn. Vorne die Töchter Katharina und Anna, Söhne, Heinrich und Hans. größeren Landkomplex und so entstand das Dorf Annowka, mit 20 Wirtschaften. Viele dieser Leute, die tapfer Zugriffen, zudem auf gutem Land saßen, kamen auch wirtschaftlich vorwärts. Sie hatten eine schöne Schule, wo auch sonntäglich Gottesdienste abgehalten wurden. Der leitende Prediger des Dorfes war Kornelius Bosch¬ mann. Janzen baute in dem Dorf auch eine Dampfmühle, die er an Peter Dueck daselbst verkaufte, als er in Annowka sein Gut liquidierte und nach seinem gekauften Landgut bei der Haltestelle Kitai, übersiedelte. Das Dorf Borongar lag gegenüber der Haltestelle Taschlickdair. Das Land war teilweise steinig, doch dessen ungeachtet litt dort niemand Not. Auch hier hatte man eine Schule, gute Lehrer und auch an den Sonntagen Versammlung. Die Prediger daselbst waren P. Wiens und Heinrich Delesky. Arartschick: lag über der Bahn, südlich von Borongar. Dort hatten die Eigentümer einen schönen Obstgarten am Flusse Salgier angelegt. Daneben wurde ein Mennonitendorf angesiedelt. Die Bürger wirtschafteten recht gut. Sie hatten ihre Schule und an den Sonntagen ihre Versammlungen. Ihr Ortsprediger war Peter Ediger. Adshambet: war von lutherischen Kolonisten angesiedelt worden. Dann kauften Mennoniten diesen Gründern des Dorfes die Wirtschaften ab und nach sechs Jahren, als das Land zum zweiten Termin gepachtet wurde, war Adshambet ein Mennonitendorf. Es hatte auch eine Schule. Der Prediger war Kornelius Warkentin, und als er gestorben war, wurde Heinrich Wedel Prediger. Dort habe auch ich 10 Jahre gewohnt, ehe wir nach Omsk über siedelten. Kitai: bei der Haltestelle gleichen Namens. Dort lag das Gut von Peter Janzen, dem Gründer des Dorfes Annowka. Er hatte daselbst ein größeres Landgut gekauft, ehe er Annowka verließ. Auf dem Lande hatte er eine schöne Wirtschaft aufgebaut. Kasantschi: lag angrenzend und westlich von Kitai. Nachdem Silberhochzeitsbild von Jakob und Anna Dueck, geb. Rahn, Minlertschik, Krim, 1915. Eingesandt: Frau David Bosch¬ mann. 33 auf dem Lande längere Zeit ein Pächter, Jakob Konrad, gewohnt hatte, kaufte im Jahre 1908 Hermann Neufeld, Halbstadt, das Gut. Pascha: oder auch Groß-Tschakmak, hatte den deutschen Namen Hochfeld. Das Land kaufte ein Onkel Abram Braun von Kurman-Kemeltschi mit seinen Schwiegersöhnen Heinrich und Johann Dueck und seinen Kindern Abram, Peter, Johann, Jakob und Heinrich. Diese sieben Geschwister gründeten das schöne Dorf Hochfeld. Onkel Johann Braun baute daselbst eine schöne Dampf¬ mühle und widmete sich mehr dem Geschäft. Die anderen Hochfelder waren alle gute Bauern. Wenn ich mal zufällig dahinkam, dann sagte ich mir, von diesen Großbauern kannst du was lernen. Ich achtete sie als Musterwirte. Sie hatten eine gute Schule und sorgten auch für gute Lehrer. Kara: oder auch Klein-Tschakmak, lag angrenzend an Groß- Tschakmak. Als es gegründet wurde, war es Pachtland. Menno- niten hatten das Land gepachtet und besiedelt. Nach Verlauf des ersten Pachttermins kauften sie Klein-Tschakmak. Auch hier hatte man eine eigene Schule und ihre Prediger waren Jakob Harder und Johann Voth. So lagen die Dinge anno 1911, als ich mit meiner Familie die Krim verließ und nach Omsk übersiedelte. Herr Peter Rahn war einer der Pioniere in der Chacosiedlung in Femheim, Paraguay. Er war sehr aktiv im Aufbau des Kolonie¬ wesens, und war wohl der erste Herausgeber des “Mennonblattes” und damit auch der erste Verwalter der Fernheimer Druckerei. Er starb am 20. Januar 1962 in Fernheim, Paraguay. Bescharan (Fünf Brunnen) Von Jakob J. Janzen — Box 39, Amaud — Man. Im Jahre 1909 kam der “Mittlere Bescharan” in mennoniti- schen Besitz. Mein Vater, Jakob Janzen, und sein Schwager, Johann Toews, kauften das Gut Bescharan von Mayer, Scholl und Pritzkau, etwa 960 Desjatinen (es gab 3 Bescharane: den Oberen, Mittleren, und Unteren). Johann Toews erkrankte noch im Herbst 1909 an Unterleibtyphus und starb. Seine Frau, die jüngste Schwestern meiner Mutter, blieb weiter da wohnen, mit ihrem Söhnlein. Im Jahre 1910 kam noch Peter Dick, auch meines Vaters Schwager hinzu, und drei Pächter, David Unruh, Gerhard Neufeld, und Johann Rosbach. Witwe Justina Toews heiratete später einen Jakob Thiessen. Frau Peter Dick starb plötzlich im Jahre 1912 und später heiratete mein Onkel Peter Dick wieder. Als 1914 der Krieg mit Deutschland ausbrach, kam bald das kaiserliche Manifest, daß alle deutschen Besitztümer liquidiert werden sollten und Bescharan war auch darunter. Peter Dick und Jakob Thiessen und die Pächterfamilien verließen Bescharan im Jahr 1915 und eine Familie Abram Neufeld kam dahin. 34 Beim Weintraubenessen in Bescharan: Peter Dick, Jakob Janzen, Jakob Goßen, Gerhard Neufeld, (Unruh?, Sosbach?). Eing. Johann Janzen. Zur Zeit des Bürgerkrieges hielten sich mehrere Familien und auch mehrere Männer aus den nördlichen Gegenden in Bescharan auf. Als später nach der Einnahme der Krim durch die Kom¬ munisten die Ruhe wieder hergestellt war, verließen die meisten Bescharan. Im Jahre 1922 erhielt ich (J. J. Janzen) von der GPU den Befehl, die Krim innerhalb 10 Tagen zu verlassen. Meine Dokumente mußte ich abgeben, erhielt dagegen ein Schreiben, das ich dem G.P.U.—Beamten auf meiner neuen Stelle abgeben mußte. Als mein Vater im Jahre 1924 auch ebensolchen Befehl erhielt, entschloß er sich zur Auswanderung. Mein Bruder, der inzwischen geheiratet hatte, zog es vor, dazublieben. Bald zog er und auch seine Schwiegereltern, Abr. Neufeld, von Bescharan nach Tchon- graw, wo er dann bis zu seiner Verschickung, im Jahre 1937 wohnte. Später soll da ein Krankenhaus eingerichtet worden sein. Die Familie meines Bruders, seine Frau mit drei Mädchen, wurden beim Herannahen der Kriegsfront, 1941, wie auch die andern alle, evakuiert und irgendwo im asiatischen Raum abgesetzt. Meine Schwägerin ist da gestorben, auch ihre Eltern. Die älteste Tochter schrieb in einem Brief, daß sie in einem Kohlenschacht gearbeitet und damit sich und ihre Schwestern durchgebracht hat. Sie lebt gegenwärtig in Aktjubinsk. Da wir ziemlich weit von einer Kirche wohnten, so hatten wir immer die Andacht mit Nachbarn und Angestellten im Hause. Wir sangen Lieder und Vater las eine Predigt von Carl Gerock vor. Später, als wir eine Schule hatten, hielt der Lehrer die Andacht. Zur Geschichte von Bescharan möchte ich zum Schluß noch etwas hinzufügen. Es muß anfänglich wohl ein großes Tatarengut gewesen sein. Zur Zeit der Kaiserin Katharina II., soll es ein russischer Adeliger, mit Namen Milasenko geeignet haben. Dann kam es in deutsche Hände, wurde aufgeteilt in drei Güter: den oberen Teil, den ein Kolonist mit Namen Dinzer geeignet hat, später in russische Hände überging und zu unserer Zeit kaufte die Bauembank das Gut und siedelte etwa 100 Familien aus der westlichen Ukraine da an. Das untere Bescharan kaufte ein Bäseler, der das Gut aber bald wieder an einen Kaukasier verkaufte. Die Bennenungen von oberem, mittlerem und unterem, kam von der Lage der Güter; die waren alle in einem Tal gelegen, in dem ein Flüßchen aus dem Gebirge floß. Südlich, etwa 4 km, war das Gut von Abram Klassen, einem Teilhaber der Firma Gebr. Klassen, Melitopel. Etwa 10 km nach Norden und Nordwesten lagen die Dörfer Kiptschak und Tschongraw. Das Dorfe Spat war etwa 12 km südwest und Karassan 25 km nördlich, Simferopol 25 km südlich. Auch in westlicher Richtung waren mennonitische Nachbarn, 5 km ab, wohnten Johann Wiebes und Kornelius Willms. Ebenfeld Erinnerungen von John Wall und P. P. Regier (Coaldale, Alberta) Das Dorf Ebenfeld lag im nördlichen Teil der Krim. Es wurde in den siebziger Jahren von Johann und Bernhard Wall gegründet. Sie kauften sich 630 Desjatinen Land, pachteten noch etwas hinzu und gründeten so das Dorf Ebenfeld. Das Land war ziemlich salpetrig, aber wenn es genug regnete, gab es ganz gute Ernten. Ebenfeld lag ziemlich abgelegen von den anderen Dörfern, etwa 50 Werst von dem geistlichen Zentrum Karassan. Anfänglich gehörte das Dorf zur Mennoniten-Gemeinde. Die Schreiber erinnern sich noch des Tauffestes, das im Jahre 1912 in der Querscheune von Johann Walls abgehalten wurde. Aeltester Hermann Rempel und andere Prediger waren dazu gerufen worden, und die Täuflinge waren aus den Dörfern Djurmen, Kutjuky und Ebenfeld. Die sonntäglichen Andachten waren sehr einfach. Man las aus dem Predigtbuch von Hoffacker, sang einige Lieder, vielleicht machte man einige Bemerkungen, dann ging man auf die Knie zum stillen Gebet, sang noch ein Lied und dann war die Versammlung geschlossen. Manchmal machte es einen Eindruck, oft war es auch sehr langweilig für uns Kinder. Sonst war das geistliche Leben aber einigermaßen gut. Die Eltern taten, was sie wußten, um ihre Kinder in der Furcht des Herrn zu erziehen. Im Jahre 1922, während einer Bibelbesprechung und bald nach der Hungersnot, brach eine große Eweckung aus. Gott sprach ernst zu den Menschen. Es fing in den oberen Dörfern an. Unser lieber Aeltester Rempel legte sein Amt als Aeltester nieder. Weil er nicht verstanden wurde, gründete er mit andern Brüdern die Freie Evangelische Gemeinschaft (später Allianz¬ gemeinde jetzt Evangelisch-Mennonitische Bruderschaft). Die Versammlungen hielten an. Die Erweckung breitete sich aus. Leute 36 kamen mit Bretter- und Leiterwagen zu den Versammlungen gefahren. Man legte allen Fleiß an den Tag, das reine Evangelium zu verkündigen, durch Predigt und Bibelbesprechungen. Die Frucht blieb nicht aus. Es bekehrten sich Scharen von Menschen und schlossen sich der Gemeinde an. Wo man nicht Pferde hatte oder nicht genug Futter, gingen die Menschen zu Fuß. Von Karassan aus wurden Hausbesuche gemacht. Die Gemeinde wuchs inwendig und auswendig. Auch unsere frommen Väter und Mütter machten einen Neuanfang. Es gab eine große Veränderung. Große Tauffeste fanden statt; man hatte die Untertauchungstaufe an¬ genommen. Das Dorf war nicht mehr zu erkennen. Wenn jemand mal nicht auf der Gebetsstunde war, wurde er sogleich gefragt und aufgemuntert. Die Gemeinden wuchsen und bauten sich. Doch es sollte nicht lange so bleiben. Der Sturm kam von außen. Bald mußten viele alles stehen und liegen lassen und die Heimat verlassen. Die Auflagen wurden immer größer. Viele Menschen waren ja schon nach Moskau gefahren, um auszu- wandem. Etwa 13 Familien (63 Personen) sind damals ausge¬ wandert, über Moskau, 20 Familien (92 Personen) mußten Zurückbleiben. Ja, das war das Schicksal so vieler. Kadagai — Krim Helene Wall, Winnipeg Im Jahre 1900 fing ich an, die Schule im Dorfe Kadagai zu besuchen. Damals bestand das Dorf aus 15 Wirtschaften, mit eigenem Land von 50 bis 100 Desjatinen. Die Wohnhäuser standen an einer Seite der Straße, an der andern Seite, ungefähr in der Mitte, stand die Schule, welche schon zwanzig Jahre früher gebaut wurde. Am Sonntag und an Festtagen diente die Schule gleichzeitig als Andachtslokal. Dieses war ganz natürlich, da alle Einwohner zur Mennoniten-Kirchen-Gemeinde gehörten. Das Dorf lag an der rechten Seite der Eisenbahn von Djankoj zu Kurman-Kemelchi, 12 km von der Bahnstation Kurman- Kemelchi entfernt. Unser erster Prediger war Peter Engbrecht, welcher 1908 starb und dann wurden die Andachten von zugereisten Predigern abgehalten. Im Jahre 1917 zog Lehrer Heinrich Franz in unser Dorf, der die Andachten zeitweilig ab hielt; bald darauf wurde Jakob Fast als Prediger gewählt. Unsere Kirche befand sich im Dorfe Karassan, etwa 30 km von Kadagai entfernt. Daselbst war auch die Zentralschule, wo einige von unserer Jugend ihre Fortbildung bekamen. Diese Schule hatte einen guten Ruf, weshalb auch junge, deutsche Menschen aus anderen Gebieten hier ihr Studium aufnahmen. Alle Einwohner waren Bauern, hauptsächlich wurde Winter- weizen gesät, wie auch einige Hilfskulturen. Die meisten hatten auch noch Weingärten. Heute, wie die Besucher bestätigen, ist das Bauernhof — Gerhard Wall — Kadagai. Dorf von üppigen Weingarten umgeben. Das Land wurde damals mit Pferden bearbeitet, aber kurz vor dem ersten Weltkrieg gab es schon einige Motoren zum Dreschen. In dieser Zeit, in 1909, wurde auch eine Dampfmühle von meinem Vater, Gerhard J. Wall, gebaut. Im Dorfe herrschte volle Ordnung, die Bauern waren stets bereit, einander auszuhelfen. Das nächste Krankenhaus war in Neuman, 12 km entfernt, zudem war es deutsch, weil viele deutsche Dörfer in der Umgebund waren. In 1929, nach langem warten in Moskau, gelang es uns auszuwandem. In 1930 kamen wir in Kanada an, in die Gegend von Gretna — Altona, Manitoba. Helene Wall Winnipeg Spat (Gründungsjahr 1881-82) Mein Vater war Schulze im Dorfe Mag . . . welches kein leichtes Amt war. Es fanden sich immer wieder Nörgler. Da er aber immer wieder als Schulze eingesetzt wurde, sah er den einzigen Ausweg von dem Amt loszukommen, wenn er wegziehen würde. Johann Kroeker von Gnadental erzählte ihm, daß sich in den Dörfern eine Gruppe gebildet hatte, die ein Landstück von 5000 Desj. in der Krim zum Preis von 30 Rubel pro Desj. von der Gutsbesitzerin Frau Somuova gekauft hatten. Es wurden zunächst zwei Dörfer gegründet: Spat und Minlerchik. Die ersten Ansiedler im Dorfe Spat waren vom Süden an der Ostseite angefangen: 1. Korn. Wiens, Tiege 2. Korn. Wall, Rosenort 38 3. David Comies, Ohrloff 4. Korn. Rempel, Blumstein Schule (Ostseite vom Dorf, über die Bahn) 5. Kornelius Martens, Werner sdorf 6. Peter Heide, Lichtenau 7. Martin Boese, Blumenort 8. Jakob Dick, sen., Schoenau 9. David Neufeld, Wemersdorf 10. H. Peters, Wemersdorf 11. Johann Loewen, Alexanderwohl 12. Jakob Dick jun., Schoenau 13. Peter Fast, Ohrloff? 14. Franz Peters, Altenau 15. Jakob Eckert, Schoenau 16. Pred. Joh. Regehr, Kutschuk, Krim 17. Heinrich Fast, Ladekopp 18. Gerh. Siemens, Konskaja 19. Joh. Reimer, Tiege? 20. David Hildebrandt? 21. Peter Bergen, Kleefeld 22. Joh. Langemann, Margenau 23. Hermann Konrad, Steinfeld 24. Jakob Hiebert, Margenau 25. Martin Langemann, Margenau 26. Jakob Letkemann, Kleefeld 27. Joh. Kroeker, Gnadental 28. Peter Reimer, Rudnerweide? 29. Kom. Kroeker, Kleefeld? 30. David Dick, Schoenau 31. August Strausz sen.? 32. Abr. Siemens, Neukirch? 33. Dietrich Kroeker sen.? Von diesen ersten Ansiedlern gingen einige bald nach verschie¬ denen anderen Gegenden ab: David Comies (3) nach Buragan; Franz Peters (14) nach Memrik; Prediger Johann Regehr (16) ging in die Pachtdörfer der Krim. An ihre Stelle kam Peter Wiens aus Nickolaidorf. Johann Reimer (19) zog nach Ufa und verkaufte an Jakob Letkemann jun. Die ersten Ansiedler des Dorfes Minlertchik waren: 1. Joh. Dick, Schoenau 2. Peter Dick, Schoenau 3. Joh. Dick (auch Meister) 4. Joh. Dick 5. Jakob Komelsen, Lichtenau 6. Abr. Huebert, Alexanderwohl 7. Dietrich Esau, Blumenort? 8. Jak. Dick, Schoenau Am Anfang hatten die Ansiedler eine schwere Zeit. Beim Kauf des Landes, und bei der Bildung der Ansiedlungsgruppe, wurde darauf gesehen, daß jeder soviel Geld hatte, um die ersten Zahlungen zu machen, und doch hatte man nicht gründlich genug untersucht, ob die Angaben auch mit dem wirklichen Inhalt des Geldbeutels stimmten. Der Preis des Landes war 36 Rbl. die Desj. Die Anzahlung soll wohl nicht sehr groß gewesen sein, doch sollte im Herbst eine größere Zahlung gemacht werden, um den Kaufbrief zu erhalten und hier fing es an zu hapem. Mehrere konnten das Geld nicht aufbringen, und da die ganze Gruppe sich “einer für alle, und alle für einen” verbürgt hatten, so sah es eine Zeitlang ziemlich 39 schwierig aus. Vater wurde mal wieder als Schulze gewählt. Unter Andern wurde auch er gewählt, um Mittel aufzubringen, den Zahlungen nachzukommen. Vater mußte bei der Gnadenfelder Wollost vorsprechen, doch ohne Erfolg, und K. Wall bettelte in Halbstadt, wo er nach vielem Bitten (man erzählte von auf Knien liegen und betteln) Geld geliehen bekam, nicht für sich, sondern für solche, die nicht bei der Wahrheit geblieben waren, in Bezug ihres Vermögens. Vater wandte sich nach dem Mißerfolg in Gnadenfeld an seine persön¬ lichen Freunde Zehnen in Weinau, und an Dirk Wiebe (den II.) Lichtfelde, wo er auch Erfolg hatte. Doch muß es wohl ziemlich stürmische “Schulzenbotte” gegeben haben. Vater war noch länger in der Molotschna geblieben, und Korn. Wall, als sein Amtsver- treter, hielt dann Schulzenbotte, wo dann die säumigen und unfähigen Zahler ihre “Epistel” zu hören bekamen, und er sein Herz nach den erlittenen Demütigungen in Halbstadt erleichtern konnte. Nun war das Land aber schon von den vorigen Besitzern in der Bank versetzt worden und der Termin der Hypotheke war beinahe (auf ein Jahr) abgelaufen und mußte nun wieder Rat geschaffen werden. Doch scheint diese Sache wohl schon leichter gewesen zu sein. K. Wall und Vater mußten ja wieder in dieser Sache arbeiten. Sie hatten jetzt den Kaufbrief auf das Land, und so versetzten sie das Land in einer Bank (Bessaroosko-Cherson, Zemelibank) Bessarabische-Chersonsche Landbank, und bekamen das nötige Kapital um die alte Hypotheke zu tilgen. Doch bekamen sie nicht Bargeld, soviel ich aus späteren Gesprächen verstehen konnte, sondern die Obligationen der Landbank, welche sie auch die Börse (vielleicht) oder auch in der Bank, wo die alte Hypothek war, absetzten und zwar nach dem Kurs des Tages. Diese Landschuld lief 30 Jahre mit Amortisation in guten Jahren. Der Landpreis mit Verschreibungsunkosten kamen wohl auf 37 Rbl. (vielleicht auch 42 Rbl., die Aussagen darüber stimmen nicht ganz) pro Desj., und ich kann mich noch gut erinnern, daß Zettel vom Dorfsamt rundgingen mit dem Inhalt: Bankprozente zahlen! Diese Schuld wurde aber vor der Zeit getilgt (wohl im Jahre 1912-13) und zwar wieder mit Obligationen, die Sache war dieses Mal umgedreht. Der Tageskurs der Abi. war niedrig, wohl 87 Vi Rbl, so daß die Dorfsgemeinde etwa 12% verdiente. Fast alle begannen nun mit dem Bau ihrer Gebäude, obzwar man zum Anfang noch in die Häuser, welche sich auf dem Lande befanden, einzog. So wohnten meine Eltern und Jakob Hueberts in einem Häuschen, wo alles ziemlich eng war. Die älteren Jungen, wie Jakob Huebert jun. und mein Onkel Kornelius Wiebe (welcher noch ledig war und mit meinen Eltern mitzog, und auch Land gekauft hat) schliefen im Schafstall, welcher ziemlich lang war. Gekocht wurde draußen. Gesät wurde im ersten Jahr nicht viel, da das Land erst aufgebrochen werden mußte. Beim Bauen der Häuser gab es wohl auch Reibungen, aber es ging. Einige bauten nicht sehr groß, ihren Mitteln gemäß, während 40 andere gleich gut bauten. Z.B., Gerhard Siemens, welcher nach den damaligen Begriffen ganz modern baute, sogar mit Blechdach, welches mir als Junge immer auffallend war. Auch David Comies hatte eine Blechdach. Siemens kaufte sich die Schafställe zum Abbruch und baute sich eine große Querscheune. Auch Korn. Wall und Onkel J. Huebert bauten gut, sowie Vater. Unsere Hofstelle lag beinahe in der Mitte des Dorfes, und da das Land wellig war, auch auf der höchsten Stelle, so daß man das ganze Dorf entlang sehen konnte. Korn. Walls Stelle lag auf dem Süd-Ende, und in derselben Höhe wie unsere. Vater, Onkel H., Korn. Wall und G, Siemens, welche im eigentlichen neuen Dorf ansiedelten, bauten ihre Häuser der Straße entlang, während die andern mit dem Ende zur Straße bauten (Molotschna Stil). Unser Haus, wie Onkel H. und K. Walls, hatten gebrochene Giebel; dieses gab den Häusern ein besonderes Aussehen, man konnte beinahe sagen, ein vornehmes. Unser Hof war wohl einer von den am praktischsten eingerichteten im Dorf. Das Haus, der Schweinestall und die Querscheune waren von Muschelsteinen und der Stall von Lehmziegeln gebaut. Der Hof hatte zwei Auffahrten. Im Herbst 1922, während unseres Aufenthalts in Deutschland, machten Trude und ich noch eine Reise bis zur holländischen Grenze. Da sahen wir Häuser mit gebrochenen Giebeln, und dann wußte ich, wo dieser Baustil herkam. Ich wurde auch inne, daß ein gebrochener Giebel in einem Heimweh erwecken kann, daß es beinahe wehe tut. Gleich im ersten Herbst wurde mit der Schule angefangen, und da noch kein Schulgebäude errichtet war, wurde dieselbe in unserm Haus in der Sommerstube abgehalten. Lehrer waren zuerst ein gewisser Fast, dann Abr. Wall, nach ihm Rempel, weiter H. Schellenberg, bei welchem ich meinen Anfang machte. Anno 1883 ist dann die erste Schule gebaut worden. Sie war in der Mitte des Dorfes gelegen (an der Mittelstraße, welche zum Bahnhof führte) und von gebrannten Ziegeln gebaut, den Verhältnissen nach nicht groß und auch nicht zu hoch. Für den Lehrer war eine Wohnstube mit Küche und Hauskammer, sowie Vorhaus abgeteilt, alles sehr eng; zudem ein Stall, alles unter einem Dach. Bei der Lehrerwahl hat man wohl immer darauf sehen müssen, daß der Lehrere nicht eine zu große Familie habe, denn wo sollte der Mann mit seiner Familie hin, wenn er viele Kinder hatte? Doch gereicht es unserer Dorfsgemeinde zur Ehre, daß sie trotz all den Schwierigkeiten in wirtschaftlicher Hinsicht, doch das Schulwesen nicht vemachläßigt sondern ihr Möglichstes zur Förderung desselben getan hat. Als die Schule gebaut wurde, war sie groß genug. Aber die meisten Ansiedler waren in ihren besten Jahren, so daß die Schülerzahl immer größer wurde. Im Jahre 1894 mußte man, ob man wollte oder nicht, an eine neue, größere Schule denken, und so entstand die zweite Schule. Dieselbe war größer und viel heller als die erste, der Straße entlang gebaut und zudem so, daß zwischen der alten und der neuen Schule noch eine geräumige Küche mit Speisekammer eingebaut werden konnte. Das Schulgebäude selbst 41 bestand aus einem geräumigen Schulsaal, beinahe doppelt so groß, wie das alte Schulhaus, und der Lehrerwohnung, welche aus einem geräumigen Vorhaus, das für die Lehrersfamilie auch als Wohnung diente, einem Schlafzimmer, der großen Stube (Gastzimmer), so wie einem kleinen Zimmer (Studierzimmer) und einem kleinen Vorzimmer, für den Eingang von der Straße. Der erste Lehrer in der neuen Schule war Abr. Isaak von Lichtfelde, welcher nur ein Jahr blieb. Dann kam H. Thiessen von Alexanderkrone. Er war 5 Schuljahre in unserm Dorf angestellt. Nach ihm kam Peter Klassen, bei welchem ich das letzte (8) Schuljahr zubrachte, aber schon nicht viel hinzulemte, aber doch das Austrittsextunen aus der Dorfschule machte. Doch die Kinderzahl im Dorfe wuchs, so daß man mit der Zeit (wohl 1909-10) zwei Klassenzimmer einrichtete und den zweiten Lehrer anstellte. Das Schulzimmer wurde durch eine hölzerne Wand in zwei Zimmer geteilt. Doch wurde es mit der Zeit wieder zu eng und im Jahre 1914 wurde das dritte Schulgebäude gebaut. Es war viel geräumiger, hatte zwei große Klassenzimmer, einen großen Saal, und wieder eine Lehrerwohnung, so wie ein Zimmer für den zweiten Lehrer. Derselbe mußte aber ledig sein, weil für eine zweite Lehrerfamilie nicht genügend Wohnraum war. Diese Schule war auch modern gebaut, mit großen Fenstern, und hatte einen großen Saal, wo die Kinder in den Pausen spielen konnten, wenn draußen ungünstiges Wetter war. Eine Wasserheizung war eingerichtet. Die alte Schule wurde von der Mennonitengemeinde gekauft und als Kirche eingerichtet. Mit dem Bau dieser Schule hatte die Geschichte des Schul¬ wesens unseres Dorfes wohl ihren Höhepunkt erreicht. Nun fing der Weltkrieg an, und trotz aller Kriegsprosperität, auch der Nieder¬ gang, denn bald trat die Angst vor den Landliquiedierungsgesetzen und dann die Revolution ein. Wenn ich nun über das Schulwesen unseres Dorfes in kurzen Strichen berichtet habe, kann ich nicht umhin, noch zwei Schulen zu erwähnen, welche in unserm Dorf errichtet wurden, und zwar erstens die Privat-oder Armenschule. Schon als ich die letzten Jahre die Dorfschule besuchte, war dieselbe überfüllt, und es waren so bei 60 Schüler und nur ein Lehrer. Solange als in unserm Dorf hauptsächlich Landwirtschaft getrieben wurde, kamen die Schüler mehr aus den Bauemfamilien. Doch kamen mit der Zeit die Industrien auf, wie Fabriken, Mühlen, und da kamen die Kinder der Angestellten aus solchen Betrieben hinzu, und viele Eltern konnten nicht das Schulgeld aufbringen. Da waren auch andere arme Leute, und so kam der Gedanke, eine Privat- oder Armenschule, wie sie genannt wurde, zu gründen. Dieser Gedanke wurde von der MB-Gemeinde des Dorfes ausgeführt. Es wurde ein kleines Haus gebaut, welches außer dem Schulzimmer, ein Zimmer für den Lehrer, Vorhaus und zwei Wohnzimmer für den Wärter hatte. Es war nur einfach, aber es entsprach dem Bedürfnis der Zeit. Gegründet wurde die Schule anno 1905, und der erste Lehrer war Jakob Jak. Fast aus unserm Dorf. Er hatte zwar nur die Ohrloffer 42 Zentralschule beendigt, hatte aber schon etliche Jahre Praxis in einer andern kleinen Schule gehabt. Es gab nämlich in Rußland zwei Arten von Elementarschulen. Die eine Art war die sogenannte “Schkola Grammote” (auf deutsch würde man sagen: Anfangsschule), in dieser Schule durften Absolventen einer Zentralschule ohne pädagogische Vorbildung als Lehrer angestellt werden; während in der zweiten Art Schule nur Lehrer angestellt werden durften, die einen pädagogischen Lehrer¬ kursus beendigt und das staatliche Lehrerexamen bestanden hatten. Zu der ersten Klasse der Schulen gehörte unsere Armen¬ schule. So viel ich weiß bestanden in den mennonitischen Ge¬ meinden Rußlands nur zwei solche Schulen für ärmere Kinder, die eine war von Franz Klassen, Berjosenka, Gouv. Ufa, eingerichtet, und die andere war unsere Armenschule. Unsere Schule hat längere Zeit ihren Zweck erfüllt und wurde erst geschlossen, als die Dorfschule zweiklassig eingerichtet war. Lehrer an dieser Schule waren der Reihenfolge nach: Jakob Fast; Joh. Hein. Dick, Taschtschenak; Dietrich Abr. Langemann, Spat, und Johann Joh. Dick, Taschtschenak. Als die Schule geschlossen war, wohnte der Kirchenwärter P. P. Reimer da, doch wurde später einem alten Ehepaar, Joh. Kroeker, das Schulzimmer als Wohnung gegeben. Diese Leute waren laut ihrem Paß als Einwohner unseres Dorfes eingeschrieben, waren aber mittellos. Laut ungeschriebenem men- nonitischem Gesetz, sorgte aber jede mennonitische Dorfsgemeinde für ihre Armen, und so wurde dieses Ehepaar unserm Dorf zugeschickt. Anfänglich übernahm die Brüdergemeinde die Pflege dieser Leute, weil dieselben Glieder dieser Gemeinde waren, doch wurde später die Sache vom ganzen Dorf übernommen und so gut man konnte, ausgeführt. Jeden Tag mußte ein Nachbar diesen alten leuten Mittag bringen und zwar so reichlich, daß noch etwas zum Abendbrot übrig blieb und auch genügend Brot für einen Tag. Kaffee haben Kroeker s sich doch wohl selbst gemacht. Das Essenbringen ging der Reihe nach, und es war auch ein Büchlein, worin jeder Nachbar hineinschrieb, wann-er Essen gebracht hatte. Das Büchlein wurde dann zum nächsten Nachbar gebracht, und so weiter. Diese alten Leute sind auch in dem Häuschen gestorben. Betreut wurden sie wohl bis zu ihrem Ende von Lehrer (im Ruhestand) Peter Klassen; er war von der Dorfsgemeinde darum gebeten worden und hat dieses Amt treu ausgeführt. Ich führte dieses hier an, (obzwar es nicht zur Schulsache gehört), um zu zeigen, daß die Wohltätigkeit in unserem Dorf auch ihren Platz fand. Die zweite Schule, welche ich erwähnen muß, ist die Zentral¬ schule. Diese Schule hat schon eine andere Geschichte. Bis zu der Gründung derselben hatten die Mennoniten in der Krim keine Zentralschule, so daß sie ihre Söhne nach Ohrloff und Halbstadt schickten. Es war in der Krim zwar eine Zentralschule, sie gehörte aber den Lutheranern und befand sich in Neusatz. So kam dann allmählich der Gedanke auf, ob es nicht an der Zeit sei, auch eine mennonitische Zentralschule in der Krim zu gründen, und vom 43 Denken kam es zum Beraten und schließlich wurde eine Versamm¬ lung anberaumt, zu welcher alle Mennoniten der Krim, die sich dafür interessierten, eingeladen wurden. Diese Versammlung fand in der Schule unseres Dorfes statt und war auch gut besucht. Jeder stimmte dem bei, daß es an der Zeit sei, eine Zentralschule zu gründen, doch als es zu der Ortsfrage kam, schieden sich die Geister. Es kamen nämlich zwei Dörfer in Frage, wo die Schule gebaut werden könnte, und zwar Spat und Karassan. Es wurden nun an die Wandtafel die passenden und die unpassenden Seiten jedes Dorfes angeführt. Nun führte man Karassan als Vorzug gegen Spat an, da in Karassan ein Glaube und eine Taufe sei, während in Spat zwei Gemeinderichtungen vertreten waren. Und dann war als Nachteil für Spat angeführt, daß es zu nahe an der Stadt war (18 Werst), während Karassans Nachteil war, daß es zu weit von der Bahn war (20 Werst). Als es zur Abstimmung kam, bekam Karassan die Mehrheit und Spat und Umgebung zog sich zurück. Ich glaube, (soviel wie ich die Sache damals verstand, ich war noch jung), wenn die Frage der Taufe nicht aufgeworfen worden wäre, die Spater sich auch dem Mehrheitsbeschluß gefügt hätten. Solches wollte man sich nicht gefallen lassen, und man ließ Karassen allein bauen. Die Initiative war doch von Spat ausgegangen! Aber wie jetzt weiter? Da rief mein Bruder Jakob auf Anraten seines Schwiegervaters Korn. Wall und meines Vaters und anderer wieder eine Versammlung zusammen, um über den Bau einer Zentralschule in Spat zu beraten. Nachdem man ausgefunden hatte, wieviel an freiwilligen Beiträgen Zusammenkommen würde, wurde ein Verein zur Gründung und zum Unterhalt dieser Zentralschule in Spat geformt, welcher auch bestätigt wurde. Spat und Minlertschick gingen zusammen und auch viele aus andern Dörfern schlossen sich dem Verein an. Auf solche Art entstanden in der Krim zwei mennonitische Zentralschulen und jede Schule hatte bald ihre volle Schülerzahl. Es war dies eine bewegte Zeit und es ging gut damals, denn es war etwas , wofür man sich einsetzen konnte und woran man auch interessiert war. Die Leute übernahmen es, die Steine von der Steingruft, etwa 15 Werst entfernt, zu holen, und auch nach Sand wurde einmal zum Meer, etwa 40 Werst gefahren. Mein Onkel Martin und etliche andere gaben ihre leeren Baustellen für die Zentralschule, und im Frühling wurde gebaut. Die Schule war drei-klassig und hatte außer dem Saal und einem Lehrerzimmer noch vier große Klassenzimmer. Das eine Klassenzimmer bewohnte im ersten Schuljahr Lehrer Daniel Enns, welcher ledig war. Zudem wurden gleich zwei Lehrerwohnungen für die Lehrer gebaut und wohl ein Jahr später auch das dritte Wohngebäude. Alle drei Wohngebäude waren nach einem Plan gebaut und hatten außer der Küche und Kammer noch sechs Zimmer. Auch ein Stall war da, welcher mit dem Wohnhaus unter einem Dach stand. Im Herbst 1906 wurde die Schule eingeweiht und zwar unter großer Beteiligung. Es waren auch mehrere lutherische Pastoren als Redner da, und was mir besonders im Gedächtnis ist, abends hielt Peter Mart. Friesen, unser mennonitischer Geschichtsschreiber, 44 eine russische Ansprache für die russischen Dienenden im Dorf, welche von ihren Wirten dazu eingeladen waren und der Saal der Schule war voll. Die Schule wurde im 25. Jahre des Bestehens unseres Dorfes erbaut und hat auch ihren Zweck erfüllt, so lange sie unter mennonitischer Leitung stand. Die ersten Lehrer waren: Lehrer Kornelius Janzen, Sagradowka, Lehrer Franz Ediger, Alexanderkrone, und Lehrer Daniel Enns, aus der Molotschna. Lehrer Ediger und Enns mußten noch ihr Hauslehrerexamen machen, wobei Lehrer Enns zum ersten Male nicht bestand, aber doch die Erlaubnis bekam, ein Jahr zu unterrichten. Später machte er das Examen. Auffallend war noch bei der Einweihung, daß weder der Direktor über die Volksschulen des Taur. Gouv., noch der Inspektor des Eupatorischen Kreises zugegen waren, trotzdem eine persönliche Einladung durch das Schulkomitee an sie ergangen war. Anfänglich war ja die Schülrzahl nicht groß. Die Oberklasse hatte wohl nur drei Schüler im ersten Jahr. Aber mit den Jahren wuchs auch die Schülerzahl, und als man erst beschloß, auch Mädchen zum Schulbesuch zuzulassen, konnte man nicht über Schülermangel klagen. Die Lehrer wechselten mit den Jahren: Kornelius Janzen gründete eine Spagat- und Strickfabrik, Ediger und Enns gingen nach Alexanderkrone in die Handelsschule, dann war Lehrer Nickel, welchen die Ohrloffer uns Wegnahmen, und als ich auswanderte, waren Lehrer Lehn von der Alten Kolonie, Lehrer Heinrich Ediger von Berdjansk, und Lehrer Peter Braun, Taschtschenak angestellt. Zudem war zur Zeit unserer Aus¬ wanderung die Dorfschule und die Zentralschule in dem Zentral¬ schulgebäude vereinigt. Unsere schöne Dorfschule war zum “Pros- wetiteljnej Klub” (Aufklärungsklub) erhoben. Doch wie sah das Gebäude aus! Beinahe keine Glassscheibe war in den Fenster¬ rahmen, so daß man die Fenster mit Brettern zunageln mußte. Das rote Militär hatte nämlich die Schule als Quartier eingenommen, und da die Soldaten so jämmerlich gefüttert, wurden, mußten sie Nebenverdienste suchen und fanden denselben in den Fenster¬ scheiben, welche sie herausnahmen und verkauften. Der Niedergang der Zentralschule fing mit Kriegsbeginn an, weil die Lehrer in den Militärdienst eingezogen wurden und an ihrer Stelle ein Lehrere Udris (Lette) als Leitender und etliche Lehrerin¬ nen angestellt wurden. Udris war ein großartiger Gesanglehrer. 1917 kamen dann wieder die alten Lehrer aus dem Militär¬ dienst und arbeiteten noch etliche Jahre ungestört, bis die Roten anno 1919 im Herbst einzogen, und dann hörte ich auf, mich für die Schule zu interessieren und weiß nichts mehr, was von derselben zu schreiben. Letzteres gilt auch für die Dorfschule. Nur soviel möchte ich noch bemerken, daß beide Schulen—Karassan wie auch Spat, von beiden Richtungen, der Mennoniten Gemeinde und auch der MB-Gemeinde, getragen und unterstützt wurden, so daß der negative Geist, der sich in dieser Hinsicht auf der ersten Beratung bei der Gründung einer Zentralschule auf der ersten Beratung bei 45 r*i ^ ^ ^s. Ju ^ j** — i v '>««^ kh%ll ^* nj ; 5 rj ‘- - "■» •* 2^ v 5 £L ^ ^ xj (T, h*LL '"tit 'JP' L /^<£ 'J ■ 6? S a? 7j P Knocke* ft- WoMrt ^ SSf*- & *A; vj ^ N.' f\ r» r £ ^ * ■« £ - ~ % 2 > n f ^ “ l'"'~ o Ci r. s» V> "oO l~i 0> mo? ^i>j ^o> pl »- i"7!i _ i _ £/S 5 \f , .x 33 £ ^5 r- e^CEr a w 7«* pAleo/ hoF*si~n, rt sse »b± 6^^-^ ^ A/f ^ Wohnhaus der Familie Peter Klassen, Spat, 1907 der Gründung einer Zentralschule breit machte, ganz verschwand, und der alte Grundsatz der Mennoniten wieder zu seinem Rechte kam: Allgemeinnutz war dann Eigennutz. Nun zurück zur Dorfgeschichte, welche sich mit der Zeit nach den Anfangsschwierigkeiten in ruhigen Bahnen lenkte. Anfänglich sah es noch nicht sehr übel aus. Die Straße zogen sich an beiden Seiten anstatt Zäune, Gräben entlang und vom Fußsteige ist wohl auch in den ersten Jahren wenig zu sehen gewesen. Wenn es mal so recht “kotig” war, fuhr man Stroh auf den Steg, und man konnte ganz gut gehen. Doch mit der Zeit verschwanden die Gräben; es wurden Bretterzäune errichtet, auch Gärten wurden gepflanzt, und beinahe jede Hofstelle hatte ihre Maulbeerhecke, nur wir hatten zu meinem Leidwesen keine. Von den Bäumen gediehen am besten die Akazien und Krischbäume. Auch etliche Weingärten wurden angepflanzt, doch behielt man dieselben nicht lange, denn es war zu viel Arbeit und hinderte in der Landwirtschaft. Und die Landwirt¬ schaft war es ja, worum und wofür wir lebten. Anfänglich wurde nicht alles Land bearbeitet, sondern auch viel zur Weide gelassen. So hatte unser Dorf außer der Weidesteppe nahe beim Dorf noch eine andere, etwa 10 Werst vom Dorf ab. Es war da ein Hirtenhaus, ein Brunnen und “Gehege” für das Vieh. Der Brunnen war 50 Faden (350 Fuß) tief. Zum Sommer wurde alles Jungvieh dorthin getrieben und blieb dort bis zum Herbst. Auch die Arbeitsochsen wurden dorthin getrieben, wenn sie nicht gebraucht wurden. Im Dorf blieben zum Sommer nur die Arbeits¬ pferde, die Kühe und Kälber. Im Frühling wurde alles Jungvieh mit einem Brennzeichen gekennzeichnet, und jeder Wirt hatte sein eigenes Brennzeichen. Wenn das Brenneisen im Frühling nicht gut aufgedrückt war, so 47 daß das Zeichen im Herbst nicht gut zu sehen war, gab es manchmal Streit unter den Eigentümern. Später wurde die hinterste Weidesteppe auf “Zajtschi” (richtig Sosuz) aufgehoben und die ganze Geschichte abgebrochen. Doch war man zu der Zeit des Abbruchs schon mit all den Hocks und Hirtenhaus umgezogen und hatte einen neuen Brunnen gestoßen, welcher etwas über 70 Faden tief war. Das Wasser in den Röhren stieg wohl nur auf 34 Faden von der Oberfläche. Dieser Brunnen hat der Dorfsgemeinde viel Leid gebracht. Wenn dem Hirten mal das Pumpen (mit Pferden selbstverständlich) über war, ließ er irgend etwas, (vielleicht eine Schraubenmutter) in die Rohre hineinfallen (so sagte man wenigstens) und die Pumpenstange brach. Manchmal riß die Stange auch ohne Mithilfe. Aber jedes Mal kam vom Dorfschulzenamt die Ansage: “Einen Mann nach Saitschi schicken, de Pomp trachtmoki”. Diese Ansage kam im Sommer oft. Diese Aufzeichnungen sind von Johann Langemann, jetzt in Donwood Manor, vor längerer Zeit gemacht worden. Recht interessant und wichtig, es erhalten zu haben. Ein Sohn, Dietrich Langemann, hat mir dieses Schreiben auf Wunsch und Anfrage durch den Boten 1976 zugestellt. Winnipeg, 15. M. 1976 Eingesandt von John Klassen Windmühle, Spat, Krim. V /T.x. 48 49 Einweihung der Zentralschule in Spat, 1906. Eingesandt Fr. David Thiessen. Sängerchor in Spat, 1925, Dirigent Jakob Langemann. Eingesandt Fr. D. Thiessen. Schule in Spat, Lehrer Peter Klassen. Eing. Johann Klassen. 52 Doppel-Hochzeit in Spat, 1918: Kornelius Kroeker und Elisabeth Janzen, Hans Kroeker und Tina Janzen. Hans Klassen, 1925, von der Krim nach Kanada Mühlenbesitzer Peter Unrau, Frau und Sohn David, 1920, Spat Das Dorf Spat, Krim 54 Das Ende des Krieges. 55 56 Eine Aufnahme in der Krim, bei der Einweihung der neuen Zentralschule in Spat, im Jahre 1908. Auf dem Bilde sind 4 meiner Onkel. Der 3. in der 3. Reihe von oben ist; Onkel Kornelius (Marga Rempels Vater) bei ihm steht Onkel Jakob. More Bericht von Abram Dueck, z.Zt. wohnhaft in Curitiba, Pr. Vila Guaira, Rua Amazonas, 1055. Geboren den 14. April 1901 im Dorf More, daselbst gewohnt bis September 1925. Den 22. September geheiratet mit Liese, der Tochter des Jakob Wiens, Tschongraw, und dahin übergesiedelt. Meine Eltern Johann und Katharina (geb. Driediger) Dueck haben im Jahre 1894, Dienstag, den 1. November, im Dorf Jalantusch geheiratet und wie es damals Sitte war, ein Jahr in Lustigstal, bei den Eltern des Vaters gewohnt. Dann zogen sie nach More, in ein Dorf, das damals von verschiedenen Nationen bewohnt wurde: Russen, Juden, Tataren, auch einige Mennoniten. Das Land gehörte einem mennonitischen Gutsbesitzer Peter Schroeder. Vater und sein Schwager, Johann Klassen, pachteten das Land von Schroeder, suchten noch mehr mennonitische Pächter und gründeten ein neues Dorf, More. Damit war den anderen Nationen die Möglichkeit genommen, weiter auf dem Lande zu wirtschaften. Das neue More hatte elf Bauernhöfe mit 30 Faden (60 Meter) Breite. Da der Pachtvertrag immer nur auf 3 Jahre abgeschlossen wurde, wurden die Häuser nur einfach gebaut, meistens aus Lehmziegeln. Ich erinnere mich aus Vaters Erzählungen, daß sie doch in Gefahr gewesen waren, blutige Köpfe zu kriegen von den andern Nationen, als sie daran gingen, das Land jedem Pächter zuzu¬ messen. Doch sein Schwager Johann Klassen (nachher bei vielen bekannt als Ausrufer Klassen), hatte es verstanden die aufgeregten Gemüter zu beruhigen; hatte ihnen auch den Brunnen abgekauft, auf den die neuen Pächter sonst keinen Anspruch hatten, und der Friede war wieder hergestellt. Aber ohne Wodka ging es bei diesem Friedensschluß nicht ab. Die Hofstellen waren alle zur gleichen Größe zugemessen, doch die Anteilnahme am Pachtland war verschieden. Es waren solche die 100 andere die 75 und andere die nur 50 Desjatinen in Pacht nahmen. Dementsprechend war dann auch der Anteil am Weide¬ land. Das Dorf wurde mit 2 Reihen Hofstellen angelegt. Die ersten Pächter waren wohl folgende: Jakob Klassen, Peter Willems, Johann Pankratz, Heinrich Gerbrand, Johann Dueck, Wilhelm Schulz. Hinzu kam der Besitzer der Windmühle, Jakob Pankratz, und später das Wohnhaus und die Tischlerei meines Onkels Kornelius Dirks. Auf der anderen Seite, vom selben Ende, Jakob Dueck, Huebert, Johann Klassen, die Dorfschule, Abram Janzen und Isaak Ens. Dann kam das Hirtenhaus und der Gemeinschafts- brunnen. Wir hatten nur einen Brunnen im Dorf, der 36 Meter tief war. Der alte Brunnen wurde durch einen neuen ersetzt, der nahe 57 am Dorf war. Der Hirte wurde so gemietet, daß er auch das Wasser aufziehen, und so das ganze Dorf mit Wasser versorgen mußte. Ueber dem Brunnen war ein Brunnenhaus gebaut. An einem großen, senkrechten Pfosten war ein großes Rad, über welchem ein großer Strick über zwei Blockräder ging, in den Brunnen hinein, an welchem zwei große Kübel hingen. Ein Pferd bewegte nun dieses Rad, zog damit den vollen Kübel aus dem Brunnen und ließ den leeren Kübel in den Brunnen hinab. Wenn der volle Kübel die Höhe des Ausgusses erreichte, stülpte der “Wassermann” den Inhalt in den großen Bassin, aus welchem die Bauern dann mit Fässern das Wasser je nach Bedarf holten. Das Interessante für uns war, daß das Pferd ganz genau wußte, wann anzuhalten und umzukehren. Wie ich mich aus Vaters Erzählungen erinnere, war der Pachtpreis pro Desjatin 6.00 Rubel im Jahr. Die alten Schroeders waren sehr gutmütige Leute und hatten, wenn man die Pacht nicht rechtzeitig zahlen konnte, und Zinsen zu zahlen waren, die Zinsen zurückgeschoben. Als aber die Alten tot waren, wurde es anders. Der Pachtpreis stieg mit der Zeit bis 10 Rubel pro Desjatin im Jahr. Diese Summe jährlich aufzubringen, war für den Pächter nicht leicht, besonders bei schwacher Ernte. Das Land war fruchtbar und brachte, bei entsprechender Witterung, zufrieden¬ stellende Ernten. In diesem Dorf More haben meine Eltern bis 1929 gewohnt. Dann verließen sie ihre liebgewordene Heimat und wanderten aus. Johann und Katharine (geh. Driedger) Dueck, Mitgründer des Dorfes More mit ihrer Familie: von links nach rechts: Lena, Mariechen, Liese, Peter, Kornelius, Heinrich und Aaron, im Jahre 1930 nach Paraguay gezogen. Vater Dueck starb 1930 und Mutter Dueck wurde 1931 vom Blitz erschlagen. Heinrich, Sohn, ist auch schon gestorben. Vorne rechts, Sohn Abram mit seiner Frau, die 1929 nach Brasilien auswanderten. 58 Die alten Schulzen starben beide. Von den Söhnen ist niemand herausgekommen. Die alten Ensen starben auch beide, von den Kindern lebt der eine Sohn, Hans, in Karaganda und der älteste, Isaak, lebt in Witmarsum, Parana, Brasil, mit 84 Jahren. Johann Klassen, der in vielen Dörfern gewohnt hat, ist zuletzt noch in More gestorben; die Familie wurde nach Karaganda verbannt, Hueberts starben, und die Jungen sind auch verschickt. Jakob Duecks starben auch beide. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde bei More auf beiden Enden angesiedelt, meistens von Söhnen der ersten Pächter. Diese Art mennonitischer Pachtdörfer gab es in unserer Gegend mehrere. Einige gehörten den Schroeders, die andern einer Gutsbesitzerin, Anna Lustig, bis zur Revolution. Zu den Schroeders gehörten die Dörfer: More, Buslitscha und Beckbuslatschi. Zu Lustig: Annowka, Danilowka, Lustigtal, Borongar und Adschim anbet. Mit dieser Familie, (ausgenommen das junge Ehepaar) durften meine Eltern, die Gründer des Dorfes More, 1929 Rußland verlassen und kamen nach Paraguay und sind somit durch Gottes Gnade vielen Leiden entgangen. Vater starb den 13. Dezember 1930 und Mutter wurde 1931 vom Blitz erschlagen. Die ältesten 4 Kinder sind gestorben. Ich, Abram, kam 1930 nach Brasilien. Die Dorfstraße in Minlertschik Wer hat nicht schon einmal eine Dorfstraße gesehen? Sie ähneln sich doch alle, wie sich alle neugeborenen Kinder ähneln, sagt jemand. Aber wie jede Mutter an ihrem Kinde etwas besonderes entdeckt, sieht jeder Mindlertschiker etwäs besonderes an seiner Dorf straße. Jede Straße wird zur Dorfstraße, wenn an einer oder beiden Seiten Wirtschaften, d.h. Bauernhöfe, angelegt sind. Und Minler¬ tschik hatte Bauernhöfe, die ließen sich sehen. Folgt mir, und ich will euch einmal alle Höfe vorstellen, wie ich sie in Erinnerung habe. Leider weiß ich weder Ost noch West, weder Nord noch Süd anzugeben, aber ich nehme an, unser Dorf lief vom Norden zum Süden oder vielleicht auch vom Süden zum Norden. Das Südende war sozusagen abgeschlossen durch das Haus, wo Scharkows wohnten. Die Familie bediente das Brunnenhaus und war wohl auch für längere Zeit Viehhirt des Dorfes. Das Haus, mit verschiedenen Stallungen lag auf einem Hügel, vielleicht Teil eines Kurgans. Die Dorfstraße machte einen Knick, um links dann zur Steppe zu führen. An der Ostseite war zunächst ein ärmliches Häuschen, wo auch abwechselnd verschiedene Hirten und Dorfarbeiter wohnten, einmal die Ruckhabers, dann die Reinhold Stephans. Die erste 59 Familienbild vor unserer Abfahrt von Minlertschik nach Moskau, 1929. Eltern, Johann und Katharina Dürksen, von rechts: Heinrich, Peter und Martin, ihre damals noch ledigen Kinder. Eingesandt: M. Dürksen. richtige Wirtschaft gehörte einer Witwe Dueck, mit ihren Töchtern, und früher wohnten auf der Stelle Johann Janzens (Lehrer), die im Jahre 1926 nach Kanada zogen. Franz Duecks waren die nächsten Bauern, gegenüber vom Brunnenhaus und an der Mittelstraße gelegen. Nach der Mittelstraße kam das Schulgebäude, welches sonntags auch zum Gottesdienst verwendet wurde. Nun folgten Borns (aus Wemersdorf), alte Jakob Duecks (einer der Söhne hieß “der dicke Jasch”), Claas Walls (Frau Wall war die Schwester an Dr. A. H. Unruh), die ganze Familie zog im Jahre 1926 nach Kanada. Dann wohnten Kuter-Epps auf dieser Wirtschaft. Im nächsten Hause wohnten früher Lehrer Peter Braun und später Gerhard Duecks. In den letzten Jahren wurden neue Witschaften beigefügt, wie Stephans; mein älterer Bruder Jakob hatte ein Haus gebaut, und andere. Nun machen wir kehrt und besehen uns die Wirtschaften an der anderen Seite des Dorfes. Da sind es zunächst David Walls, eine große Familie, mit einer blinden Tochter; Gerhard Duecks, und als nächste folgten, wenn ich nicht irre, Prediger Johann Wiebe. Er war auch Lehrer gewesen und war Glied der KfK in der Krim. Jakob Letkemanns, die auch die “Reichen Letkemanns” genannt wurden, mit zwei Nebenhäusem, eines gehörte dem Schwiegersohn Martens und eines dem Sohne Peter, der mit meiner einzigen Schwestern Greta verheiratet war. Nach ihnen kamen Peter Duecks, dann Meister Duecks und Johann Duecks (dee schmoka Jihaun Dick) und als letzte, Prediger Jakob Kornelsen. Wir wohnten bei Komelsens auf dem Hof in einem kleinen Häuschen 60 (Wagenschuber), das man uns zur Verfügung gestellt hatte, nachdem wir vom Chuter Kasentschie (Neufelds chuter) vertrieben worden waren. In der Mitte der Straße, auf einer Anhöhe, mehr nach dem Nordende, befand sich das Brunnenhaus. Die Scharkowsfamilie waren die “Wasseraufholer”. In der Mitte des Hauses wurde ein großes Rad mittels Pferdeanzug gedreht, von welchem ein dicker Strick über zwei Blocks mit kleineren Rädern die zwei großen Behälter auf und ab in den tiefen Brunnen bewegte. Wenn der eine Behälter (Kopka) die ganaue Höhe erreichte, um das Wasser in den großen Bassin zu stülpen, was einer der Männer geschickt ausübte, hatte der andere Behälter unten das Wasser erreicht und füllte sich dort neu auf. Das Pferd, das die Runde machte, war so geübt, daß es von selber zur rechten Zeit stehen blieb und dann umkehrte und wiederum die Runden machte; so den ganzen Tag. Von dem großen Bassin führten dann Röhren das Wasser unterirdisch das Dorf entlang. Jede Wirtschaft hatte Wasser im Stall, in der Küche und auf einer Stelle im Hofe. Ja, Mendlertschik war ein modernes Dorf. Lange Tröge an einer Seite des Bassins gaben dem Vieh des Mein Bruder Jakob Dürksen mit Frau Anna (geb. Kornelsen) Hochzeitsauf¬ nahme. Anna starb im ersten Jahre in Paraguay. Eingesandt M.D. Mein Bruder Hans Dürksen mit Frau Anna, geb. Sperling, Adoptiert: Neufeld. Hans war Lehrer in Tapalowka, Busau und ist später in den Kohlenschachten am Donbas ums Leben gekommen. 61 Gäste anläßlich der Silberhochzeit meiner Schwester Greta erste Heirat mit Peter Letkemann, jetzt mit Abram Boschmann, in Karaganda, Rußland. Schwester Greta und Mann in der Mitte der zweiten Reihe, sie hat Tuch und Brille. Auf dem Bilde sind noch viele andere Krimer. Eingesandt: M.D. 41 -fl 4i A IiJ fi Ij j ii » X Pj r* c jflk ^ F Die ersten Bürger des Dorfes Schönwiese, Femheim, Paraguay, abgenommen vor der Abfahrt in Deutschland, Mölln. Darunter eine Reihe Krimer. 1. Reihe v. links: Frau Abram Isaak, Franz Wiens, David Neufeld Spat (K), Jakob Boschmann, Prediger Nicolai Wiebe, Hildebrandt, Gerhard Wohlgemut (K), Johann Dürksen (K) mein Vater. 2. Reihe: Lehrer Julius Legiehn, Heinrich Löwen, Prediger Peter Enns, Franz Pankratz, Kornelius Käthler, Franz Heinrichs (mein Onkel), Kornelius Unrau. 3. Reihe: Jakob Dürksen (mein Bruder), Peter Enns, Johann Klassen, Kornelius Hildebrandt, Isaak Federau, Abram Wohlgemut (K). 4. Reihe: Gerhard Pankratz, Prediger David Hein, Gerhard Boschmann — Spat (K). Eingesandt: M.D. 62 Peter Letkemann und Frau Greta (Durksen) meine Schwester und ihre drei Töchter — Minlertschik. Eingesandt: M.D. Peter ist auch in den Jahren verschollen. Jakob Heinrichs und Familie aus Tukultschak, mein Onkel von Mutters Seite. Eingesandt: M.D. 63 Dorfes zu jeder Zeit einen frischen Trunk. Durchfahrende Leute hielten an und tränkten die Pferde oder Ochsen. Hier sammelte sich auch das Vieh um die Mittagszeit und ruhte gemütlich aus. Große Steine auf verschiedenen Stellen des Bis-Platzes, gaben dem Vieh die Gelegenheit, sich das Fell zu scheuem. Die Ecken und Kanten waren ganz dunkel, schmierig und glatt vom Reiben der Rinder. Beim Brunnenhaus spielte sich ein großer Teil des Dorflebens ab. Hier trafen sich viele Bauern, um über die letzen Ereignisse zu diskutieren, das Vieh abzuholen oder auch nur, um sich mit jemandem zu treffen. Wir Buben hatten so unsere gute Zeit. Der “Wasseraufholer” wußte manches zu erzählen; hier hörten wir viele Dinge, die wir vielleicht nie hätten hören sollen. Hier wurden manche Dinge ausgeknobelt und Streiche verübt. Das Brunnenhaus gehörte nun einmal zum Dorfsleben. Heute, so schreibt mir eine Person, die das Dorf besucht hat, ist das Brunnenhaus nicht mehr da, die Anhöhe ist niveliert. Die Dorfstraße ist asphaltiert und die 1910: Familie meines jüngsten Onkels Jakob Kornelseo, Minlertschik. Er ist später in Sibirien umgekommen. Die Tochter rechts, Anna, heiratete später Jakob Dürksen, Eltern von Prediger Jakob Dürksen, Paraguay, Die anderen Töchter, Greta und Justina sind auch mit der Mutter in Sibirien. Eing. Marg. Reimer. 64 65 Eine Hochzeit in Minlertschik. Die alten Eltern sind “Meister” Duecks. Eingesandt: Fr. David Thiessen. Straßenstege sind auch gepflastert; das Dorf hat heute drei Straßen. Wer erinnert sich nicht der Straßenzäune? Die einen nur aus Muschelsteinen aufgerichtet, mit dicken Blockpfeilem bei der Hauptauffahrt, andere niedriger und nur von Pfosten und Brettern. Das Sitzen auf den Straßenzäunen war eine ganz wichtige Ange¬ legenheit, besonders wenn man erst so groß war, daß man sich mit einem Schwung auf den Zaun schwingen und seitwärts sitzend, landen konnte. Hier wurden die schönsten und auch die schrecklich¬ sten Geschichten erzählt. Das Laufen auf den Zäunen gehörte auch zum Zeichen des Großeins. Besonders interessant war es für uns Buben, die verschiedenen Vogelnester in den Zäunen zu finden. Die meisten Wirtschaften hatten große Akazienbaumreihen an der Innenseite des Zaunes entlang, oder auch andere Bäume. Wenn diese Akazien blühten, war das ganze Dorf mit einem wunderbaren Blütenduft erfüllt. Die Blumen, die in großen Trauben hingen, wurden gerne von uns Kindern gegessen. Im Frühjahr sammelte der Dorfshirte das Vieh, das aus den Ställen gelassen wurde. Lautes Peitscheknallen kündigte den Hirten an. In den ersten Tagen durften wir Jungen beim Hüten des Viehes behilflich sein, bis sich die Kälber den Regeln und Normen des Hirten gefügt hatten. Das war immer eine tolle Zeit für uns. Abends kamen dann die Herden zurück ins Dorf, und indem sie die Dorfstraße entlanggetrieben wurden, fand jedes Vieh seinen Hof. Dann lagerten sich die Schatten der Nacht über das Dorf. Man hörte noch hier und da das Brüllen des Viehes, das Bellen der Hunde. Aus den Schornsteinen quoll der Rauch, ja nach dem Winde sich über das Dorf lagernd. Wenn man die Dorstraße entlangging, konnte man den angenehmen Geruch der Bratkartoffeln oder Nudeln riechen, gebratenes Schinkenfleisch ließ sich auch merken. Später abends konnte man dann die Dorfbewohner sich auf den Straßenstegen bewegen sehen, die Jugend zur Jugendstunde oder Chorübstunde, ein Bauempaar das andere besuchend. Vielleicht hörte man noch Kindergesang und Spiele, bis endlich volle Ruhe das Dorf erfüllte. Ja, die Krim war unsere Heimat. Ogus—Tobe Die Geschichte eines mennonitischen Dorfes. “Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.” “Mit sieben Paar Ochsen sind die Großeltern nach der Krim gezogen,” hat man uns Kindern erzählt. Und weil wir Kinder waren und mehr für die Zukunft lebten als für die Vergangenheit, fragten wir nicht weiter. Wir wußten nicht recht, ob man die Sache ernst nehmen sollte oder ob unsere jungen Tanten uns nur “aufziehen” wollten. Es werden wohl sieben Paar Ochsen gewesen sein, denn so 66 viel Zugkraft wird bestimmt nötig gewesen sein, um eine Wind¬ mühle die lange Strecke von Berdjansk nach der Krim zu befördern. Unsere Urgroßmutter schreibt darüber in ihrem Hausbuch: “Im Jahre 1882 formte sich in Berdjansk eine Gesellschaft, die beabsichtigte, auswärts Land zu kaufen. Wir und unsere Kinder hatten wohl schon viel davon gesprochen, wie wir in eine bessere wirtschaftliche Lage kommen könnten. Da auf einmal wurde es uns klar, daß auch wir uns, wenn die Umstände es erlauben sollten, an diesem Landkauf beteiligen wollten. Und der Herr führte es so, daß wir auch 150 Desjatin kaufen konnten.” Weiter berichtete sie: “Kaum war das Land gekauft, so beschäftigte uns der Gedanke, unsere Windmühle, die hier in den letzten Jahren fast keine Arbeit mehr hatte, abzubrechen, und durch Tschumacken (per Achse transportieren) in die Krim überzuführen. Dieses wurde auch im Mai des Jahres 1882 ausgeführt. Mein lieber Mann reiste dann in Gesellschaft mehrerer von hier per Schiff dorthin. Er verweilte dort zehn Wochen, weil er wegen Unentschiedenheit des Dorfplanes, dort nicht eher aufbauen konnte. So kam er erst den 19. August wieder nach Hause, nach Berdjansk.” Im Frühling des nächsten Jahres zogen dann die Großeltern, noch junge Menschen, mit ihrem zweijährigen Töchterlein, nach der Krim. Wieder laß ich unsere Urgroßmutter berichten: “Am 19. Mai 1883, vier Uhr nachmittags, reisten unsere Kinder von uns weg, in die Krim, um dort auf unserm Lande ein neues Heim zu gründen. . . . Schwer wurde dem Elternherzen die Trennung vom einzigen Sohn. Doch wollen wir uns fassen und unsere Kinder und Kindeskinder täglich dem Herrn Jesus ans Herz legen. . . . Unsere Gedanken weilen bei den Kindern auf der beschwer liehen Reise.” Unsere Mutter wurde am 16. Juli, zwei Monate nach der Abreise, geboren. Zur selben Zeit zogen auch andere Berdjaner nach der Krim, so wie Jakob Dicks, die Eltern unserer Großmutter. Die Urgro߬ mutter erwähnt noch einige Namen, aber es ist nicht klar, ob diese Siedler auch nach Ogus-Tobe zogen, oder nach einer andern Siedlung. Großmutters zwei Schwestern, sowie ein Bruder, und Großvaters Schwester, alle mit ihren Kindern, wohnten zu meiner Zeit in und um Ogus-Tobe. Im ganzen gab es im Dorf wohl dreizehn Bauernhöfe, die Schule, die auch einen Bauernhof im kleinen Stil darstellte, zwei Windmühlen, eine an jedem Ende des Dorfes, eine Schmiede und einen Zimmermann. Von der oben erwähnten Windmühle wird weiter nichts genaues berichtet; wir wissen, daß sie in der Familie blieb. Unser Großvater war ein Bauer. Die Urgroßmutter starb schon im Jahre 1884, vermutlich in Berdjansk. Der Urgroßvater lebte noch lange und wohnte bei den Großeltern in einem kleinen Haus, auf dem Hof. Er starb im Jahre 1901. Es gab in Ogus-Tobe auch einige lutherische Familien, was eigentlich gegen die von der russischen Regierung festgelegten Regeln verstieß. Denn die damaligen 67 Gesetze verordneten, daß nur Anhänger einer Glaubensrichtung in einer geschlossenen Ansiedlung wohnen durften. Dieser Ansiedlung leicht angegliedert, und nur drei bis vier Werst von Ogus-Tobe entfernt, lagen Alibai, östlich vom Dorf gelegen, und Semsot, in süd-westlicher Richtung. Alibai war ein Chutor, wo nur zwei Gutsbesitzer wohnten, ein Mennonit und ein Lutheraner. Von Semsot, das eine größere Ansiedlung war, sind mir nur zwei Wirte bekannt. Der eine, Johannes Fehderau, war unser Prediger, und der andere, Hans Rempel; er eignete die dortige Dampfmühle, die zehn bis zwölf Arbeiter beschäftigte. Da wir auf beiden Stellen Verwandte hatten, haben wir dort auch öfters “spaziert”. Missionar Penner aus Indien, der durch seine zweite Frau dem Verwandtenkreis meiner Großmutter beigetreten war, sagte von den Ogus-Tobem, daß sie sehr auf “spazieren” hielten. Das hatte ihn bei seinem dortigen Aufenthalt wohl beeindruckt. Das Dorf wurde zuerst etwas nördlich von der Stelle angelegt, wo es später ein halbes Jahrhundert lang gestanden hat. Wenn wir Schüler, mit Lehrer Abram Rempel aufs Feld gingen, war das alte Ogus-Tobe fast immer unser Ziel. Dort lagen noch Steine umher, sogar einen Rauchfang konnte man noch erkennen, bemost zwar, und in unsem Kinderaugen uralt erscheinend. In der Gegend befand sich auch ein Stavok, ein kleiner Teich, wo die heranwachsende Jugend, wenn es im Winter kalt wurde, Schlittschuh laufen konnte. Dann gab es da noch eine Schwefelquelle die wir regelmößig untersuchten. Auch Alabaster lag dort umher; wir sammelten uns davon die Taschen voll. Zu Hause wurden dann die dunklen, blättrigen Brocken auf die Herdkante gelegt wo sie von der Wärme weiß wurden. Dann stampften wir sie im Mörser zu feinem Pulver, das mit Wasser gemischt nach Belieben geformt werden konnte. Ganz in der Nähe des alten Ogus-Tobe gab es einen Hügel (nicht ein Kurgan) von dem man möglicherweise den Namen des Dorfes entlehnt hat. Ogus-Tobe heißt auf tatarisch Ochsenberg. Da das wirkliche Ogus-Tobe weder auf einer erheblichen Anhöhe lag, noch in der Nähe einen Berg aufzuweisen hatte, scheint es mir wahrscheinlicher, daß der Name dem ersten Dorfe gegeben wurde, das wirklich am Ochsenberg angelegt wurde, dem alten Ogus-Tobe. Nachdem es sich jedoch herausstellte, daß diese Stelle, dicht am Meer und niedrig am Berg gelegen, sich nicht für einen Dorfplatz eignete, verlegte man das Dorf weiter nach dem Süden, wo obendrein das Grundwasser nicht ganz so schlecht war. Den ursprünglichen Namen behielt man jedoch bei. Weil die Krim vor dem Krimkrieg den Türken gehörte, gab es dort viele tatarische Namen. Hermann Rempel, der Vater meines damaligen Lehrers, hat beim Planen und Ansiedeln dieses Dorfes eine führende Rolle gespielt und viel Umsicht bewiesen. Er ist dann verhältnismäßig jung, schon im Jahre 1908, an Trichinen gestorben. Die Gegend um Ogus-Tobe ist steinreich und wasserarm und liegt auf der Landzunge zwischen dem Asowschen und dem Schwarzen Meer. Es war eine baumlose, ebene Fläche, ehe die 68 mennonitischen Siedler dort Bäume und Gärten pflanzten. Die jetzige Verwaltung hat denn auch festgestellt, daß sie sich nur mehr zu Weinbau und Schafzucht eignet, wozu das Land auch heute gebraucht wird. Artesische Brunnen gab es in der Gegend nicht, und wie gesagt, nur ungenießbares Grundwasser. So waren die Bewohner des Dorfes für ihren Trinkwasserbedarf auf das Regenwasser angewiesen, das von den Dächern aufgefangen werden konnte. Aus dem Grunde wurde auch sorgfältig alles Wasser gesammelt; wo sich ein ausladendes Dach vorfand, wurde auch ein Brunnen, ein Bassin gebaut. In diese Bassins wurde das Wasser von den Dächern nun unterirdisch geleitet. Für das Vieh wurde zusätzlich auch das Wasser vom Hof, in die Brunnen geleitet. Wenn ein Regen im Anzug war, ging die ganze Belegschaft hinaus fegen, um den schneckenbestreuten Hof so sauber wie möglich zu machen. Die Ogus-Tober kauften ja das Land auch, weil es billig war. In Semkolos, Siebenbrunnen, gab es, wie schon der Name besagt, sieben Brunnen; dort muß also genügend gutes Wasser gewesen sein. Aus Siebenbrunnen, das dreißig Werst ab war, mußten wir den Arzt holen, die Hebamme aus Feodosia, der schönen, am Schwarzen Meer gelegenen Stadt. Einen unerschöpflichen Brunnen, mit gutem Wasser, gab es auch in dem Tatarendorf Ak-Manai. Dieser Brunnen war ganz nahe am Asowschen Meer, außerhalf des Dorfes, Von dort holten die Einwohner dieses Fischerdorfes, mit dem Trag-Joch, ihr Wasser; dort wurden die Schafe getränkt; und von dort holten auch die Einwohner von Ogus-Tobe, wenn der Regen ausblieb, mit großen Fässern ihr Wasser. Auf einem jeden Hof gab es Wasserwagen, eine große Tonne auf einen Unterwagen gelegt, die oben, auf der Rundung eine Oeffnung hatte, durch welche man sie anfüllte; am Boden der Tonne, unten, war ein Zapfen, den man zum entleeren der Tonne ziehen konnte. Kostspielig muß ein Bassin gewesen sein. Es war auszemen¬ tiert, nach meinem Dafürhalten mindestehs zwanzig Fuß tief und fünfzehn Fuß breit; mit einem Brunnenrand und oft auch mit einer Winde versehen. Wenn das Wasser niedrig war, mußte der Brunnen gereinigt werden. Jemand wurde mit einem Besen hinuntergelassen, unten würden nun der Eimer mit dem Schlamm gefüllt und nach oben befördert. Zuweilen hatte sich, wohl unfreiwillig, auch ein Frosch dort niedergelassen. Als das Militär dort einquartiert war, hatten die Soldaten, aus Uebermut oder Unvernunft, ein paar Kugeln in den Brunnen abgeschossen. Daraufhin sickerte das Wasser dann langsam aus. Einmal im Sommer, als recht viele junge Menschen im Haus waren, wurde während des Regens das Wasser aus einem der löcherigen Brunnen mit Bütten in einen ganzen Brunnen umge¬ gossen. Es beweist, wie hoch das Naß eingeschätzt wurde. So etwas hab ich nur einmal beobachtet. Bei den Großeltern gab es vier Bassins und zwei Brunnen. Trotz Wassermangel und steinigem Gelände hatten die Kolo- 69 nisten hier blühende und fruchtbare Ansiedlungen geschaffen. Noch die letzte Aussaat, welche die Eigentümer schon nicht mehr einheimsen durften, erbrachte eine großartige Ernte. Wie alle mennonitischen Dörfer, so lag auch Ogus-Tobe ganz in Grün eingebettet. Akazien, Eschen und Pappeln waren die am häufigsten vorkommenden Schattenbäume, doch gab es auch Kastanien. Alle Obstarten waren vertreten, sogar Pfirsiche; Aprikosen gediehen besonders gut. Es gab Mandel- und Walnußbäume, die letzteren erreichten ein großes Ausmaß. Lange Maulbeer-Oelbeer- und Gladitschen-Hecken säumten die Höfe ein. Der Wein gedieh dort gut. Zierbäume, besonders Lebensbäume, Tuja und auch Fichten, sowie die Ziersträucher, Flieder, Hollunder und viele Rosenarten schmückten die Vorgärten. Später, als der Zucker fast nicht zu erschwingen war, verlegte mein Onkel sich auf den Anbau von Zuckerrohr, auch das gedieh dort gut. Ohne Zweifel wäre alles besser gediehen, wenn es hätte bewässert werden können, be¬ sonders das Gemüse. In der knappen Zeit, nach dem Ersten Weltkrieg, als in Rußland sehr wenig Kleiderstoffe zu kaufen waren, wurde von den Mennoniten wieder Seidenraupenzucht betrieben, so daß die von Comies eingeführten Maulbeer hecken wieder zur Geltung kamen. Wie alle Würmer, so sind auch die Seidenraupen unersättlich und verschlingen eine Menge von Maulbeerblättern, ehe sie sich einspinnen. Da das Holz in der Krim rar war, wurde in dieser Gegend mit einem weißen, weichen Kalkstein, gebaut. Dieser Stein wurde ganz nahe am Asowschen Meer, in den dortigen Steinbrüchen geschnit¬ ten. Häuser, Scheunen und Ställe wurden aus diesem Stein gebaut, die Gebäude wurden dann von außen und innen mit Stukatur verputzt. Dielen im Haus waren oft mit Steinfliesen ausgelegt. Die Dächer waren mit roten Ziegelpfannen gedeckt; und die Keller waren gewölbt und auszementiert. Zäune wurden auch aus ungeschnittenen Steinen lose zusammengelegt. Es gab dort bei uns eine Unterkunft fürs Vieh, die man “Basen” nannte. Eine “Bas” war eine gemauerte Umzäunung, ungefähr sechs Fuß hoch, die an einem Ende mit einem Dach versehen war. Diese waren aus härterem Stein gebaut, da ein weicher Stein den Ochsen und Pferden nicht standgehalten hätte. Weil das Klima dort nicht so kalt ist, wie beispielsweise in Kanada, und man auch mit Stroh heizte, wurden die Häuser größer gebaut, mit dicken Wänden; das bedingte schon der Baustein. Von innen waren die Räume hoch und hell, mit großen Fenstern. Geheizt wurde aus dem Keller, mit Stroh. Es spielte sich wunderschön im Heizkeller, im Stroh; wir durften es aber nicht, weil die Feuersgefahr zu groß war. Das Spielen bei den Strohhaufen, hinten auf dem Hof, war uns jedoch erlaubt. Dort herrschte, wenn Gäste kamen, reges Leben. Etwas Schöneres, als vom Strohhaufen rutschen, konnte es kaum geben; daß man vorher hinaufklettern mußte, war eben unabänder¬ lich, und den Kiemen wurde gewöhnlich nachgeholfen. Etwas 70 beängstigend war es aber doch, wenn man unten im tiefen, losen Stroh landete und allein herauskrabbeln mußte, weil die wilde Jagd schon auf ein neues Ziel losstürmte. Ich kann mir denken, daß der Hauswirt sich über solches Verwühlen des Strohhaufens nicht gefreut hat. Jedoch mußte dem reichen Kindersegen unter uns auch Zoll gezahlt werden. Etwas gefährlich wurde das Spiel, wenn unten ein Spaßmacher schnell alles Stroh fortschaffte und man auf der harten Erde landete. In Spat kam ein gelber Kalkstein vor, er bestand, wie der weiter östlich, aus winzigen Schneckenhäuschen und wurde in derselben länglichen Form ungefähr 3 A yd. lang und V* yd. breit zugeschnitten. Der Stein wurde in der Erde im Schacht geschnit¬ ten, so daß er von der Erdoberfläche nicht verschmutzt wurde. Unter der Erde gab es lange, finstere Gänge, in denen man sich verirren konnte, und in denen Fledermäuse hausten. Ob es nun wirklich Fledermäuse gab, kann ich nicht behaupten, unsere Tanten hatten zuweilen ihren Spaß mit uns und wollten es vielleicht auch verhüten, daß wir zu selbständig auf Entdeckungsreisen gingen. Wenn man an diesen Stellen oben mit dem Wagen hinüberfuhr, klang es unten hohl. Als während des Bürgerkrieges die Pferde beschlagnahmt wurden, hatte mein Onkel dort seinen Hengst und noch einige der besten Pferde versteckt. Es mußte immer jemand dort wachen, auch mußte pünktlich Proviant und Futter hinge¬ schafft werden. Dort, auf der Steppe, auf diesem steinigen Gelände, blühten im Frühling herrlich die wilden, roten Tulpen, und die kleinen blauen Träubchen. Zur Tulpenzeit bat Mutter sich einen Wagen aus und fuhr Tulpen pflücken. Mit leuchtenden Augen erschien sie dann zu Hause, den Arm voll roter Tulpen. Wir durften erst später, als wir größer waren, mitfahren; doch das Pflücken war uns untersagt. Jetzt weiß ich warum; wir hätten ja die Tulpen mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Die Tulpen, nicht die wilde Sorte, blühten bei uns auch in den Vorgärten. Von innen, am Straßenzaun, .zwischen Zaun und Steg, waren Tulpen in allen möglichen Farben gepflanzt. Der Steg, das Dorf entlang, verlief in Ogus-Tobe an der Innenseite des Zaunes; er war mit Schnecken geschottert und von beiden Seiten mit Schattenbäumen bestanden. Hin und wieder stand auch eine Bank am Steg. Ueberall im Dorf waren Wohngebäude und Ställe miteinander verbunden, sogar bei Hueberts. Hueberts waren Rückkehrer aus Amerika, sie hatten ein zweistöckiges, imposantes Haus. Schule und Lehrerwohnung waren unter einem Dach, da es nur ein Klassenzimmer gab. Es war ein großer, heller Raum, der Sonntags auch als Andachtslokal diente. Manche Jahre kamen die Schüler aus Alibai bei uns zur Schule, aber in andern Jahren, wohl als die Zeiten noch besser waren und dort mehr Schüler waren, hatten sie ihre eigene Lehrerin. Aus Semsot kamen die Schüler nicht zu uns in die Schule. Trotzdem wir nur ein Klassenzimmer hatten, wurde zuweilen doch von zwei Lehrern unterrichtet. Es 71 muß dazu ein Zimmer der Lehrerwohnung, oder das Studierzimmer des Lehrers benutzt worden sein. Auch dieses Zimmer wurde von einem großen Ziegelofen, der schon ehe wir vor acht Uhr morgens zur Schule kamen, mit Stroh geheizt worden war, warm gehalten. Sonntags warf im Sommer die Sonne bewegliche Muster durch die Akazienblätter auf die Diele des Andachtssaales. Ein kleines Mädchen folgt den Ausführungen des Predigers nicht sehr aufmerksam. Es sitzt neben der Großmutter auf der niedrigen Schulbank mit einem Taschentuch und einem Blümchen in den feuchten Händen. Es hört Nachbars Spitz und den summenden Käfer, der durchs offene Fenster auch zur Andacht gekommen ist. In Ogus-Tobe diente Johannes Fehderau lange Zeit als Laienprediger; er war der Sohn eines Bauern und war selbst Bauer. Später wurde auch Herr Friesen in dieses Amt hineingewählt. Aeltester Friesen, aus Itschki, bediente die Gemeinde in Ogus-Tobe mit der Taufe und mit dem Abendmahl. Er kehrte öfters in unserm Hause ein und war ein gern gesehener Gast. Von ihm wurde auch ich, zusammen mit meinen drei kleinen Schwestern, in Sarona eingesegnet. Selbstverständlich gab es in dem Dorf auch einen Chor, der ohne Klavierbegleitung sang, wie wohl überall in den Dörfern. Hans Rempel, von Semsot, leitete den Chor lange Jahre. Die Lieder wurden hauptsächlich aus den Liederperlen, einer Liedersammlung, die in mehreren Bänden erschien, gewählt. In diesen Liederbüchern wurde ausschließlich das Ziffemsystem gebraucht. Es gab unter den Liedern auch solche in russischer Sprache. Die Lieder, so wie das Ziffernsystem, sind noch lange Jahre in Kanada gebraucht worden. Wie schon angedeutet, gab es in der Schule kein Klavier, doch gab es in fast jedem Bauernhaus, entweder ein Harmonium oder ein Klavier. Lehrerinnen, die Klavier stunden gaben, kamen zuerst von auswärts, später übernahmen dann die einstigen Schüler das Stundengeben. Mutter schreibt, daß sie auch Klavierstunden erteilt hat. Eine Sonntagsschule wurde erst später eingeführt; zum ersten Mal ging ich dort im Jahre 1922 zur Sonntagsschule. Wir hatten ja auch täglich Religionsunterricht in der Schule. Wie schon erwähnt, eignet sich das Land um Ogus-Tobe zur Schafzucht, folglich wurde von den Bauern auch Schafzucht getrieben. In welchem Umfang, ist mir nicht bekannt, jedoch weiß ich, daß der Großvater und der Onkel Schafe hielten. Zeitweilig kamen die Schafe zur Nacht ins Dorf, wohl wenn sie nahe am Dorf weideten. Sie wurden dann auch gemolken. Die Milch, sehr reichhaltig, eignet sich besonders gut zu Käse. Meistens jedoch blieben die Schafe auf der Steppe. Oestlich vom Dorf gab es Weideplätze und auch Schafhürden. Die Bulgaren waren gute Hirten, sie blieben wochenlang mit den Herden auf den Weide¬ plätzen. Im Frühling, vor dem Scheren, wurden die Schafe zum Waschen ins Meer getrieben, was immer ein umständliches 72 Unternehmen war. Dann wurden sie nach Hause gebracht wo sich dann die Scherer einstellten. Mit ein paar kunstgerechten Griffen nahmen die Scherer, flinke, geschickte Menschen, dem Schaf den Pelz ab. In großen Säcken verpackt, wurde die Wolle nachher zum Verkauf weggebracht. Dann kam die Zeit, in der die Frauen wieder das Spinnen lernten. Man behielt Wolle für den eigenen Bedarf zurück. Nicht nur mit Semsot und Alibai, sondern auch mit weiter ab liegenden mennonitischen Siedlungen wurde ein reger Verkehr aufrecht erhalten. Es kam wohl darauf an, welchem Verwandten¬ kreis man angehörte. Aus dem Tagebuch meiner Mutter, sowie aus Briefen geht hervor, daß Sarona, Itschki, Karassan und Berdjansk öfters besucht wurden. In Karassan befand sich die Mädchen¬ schule, die von unserer Nachbarstochter besucht wurde. Noch im Jahre 1927 waren Berdjaner dabei, als die jungen Leute aus Ogus-Tobe in die Berge führen. Die Berge waren nahe genug, daß die Fahrt mit Pferden gemacht werden konnte. Für die jungen Leute war eine Reise in die Berge sozusagen Tradition. Auch war die Südküste ein beliebtes Ziel für Hochzeits¬ reisen. Wenn im Frühling die Saat eingebracht war, machten die jungen Leute einen Ausflug in die Berge. Mein Vetter schreibt, wie ihn die Natur dort, besonders die Wälder beeindruckt haben. Auch nach Backschiserai, Aluschta und Jalta, wurden Abstecher ge¬ macht. Letzteres ist durch die hier stattfindenden Zusammenkünfte des Oberkomandos der Alliierten während des Zweiten Weltkrieges weltberühmt geworden. In den Bergen wuchs eine Frucht, Kisil genannt, die durch Händler auch zu uns gebracht wurde. Sie weit bei den Russen sehr beliebt in Warenja, (Marmalade) die man in den Tee gab. Ich kann nicht denken, mit welcher kanadischen Frucht sie zu vergleichen ginge. Das Wort Serai wurde unter den Mennoniten in Rußland viel gebraucht. Unter diesem Namen stellte man sich einen baufälligen Stall vor. Ursprünglich jedoch nannten die osmanischen Türken ihren Palast in Konstantinopel Serai. Neben der Südküste gab es noch eine Sehenswürdigkeit in der Nähe, und zwar das Salzmeer, den Siwasch. Dort brauchte man nicht einmal schwimmen können, um über Wasser zu bleiben. Jedoch war das Wasser so salzig, daß die Haut davon juckte und brannte, so daß man sich nicht lange im Wasser aufhielt. Ein Telephon und einen Laden gab es in Ogus-Tobe nicht. Wenn man eine Depesche schicken wollte, mußte man zur nächsten Station Ak-Manai fahren, ungefähr vier Werst von uns entfernt. Die nächste Stadt, wo man Einkäufe machen und alle möglichen Geschäfte erledigen konnte, die nun einmal zum alltäglichen Leben gehören, war Feodosia. Feodosia war ein schöner, am Schwarzen Meer gelegener, Kurort, mit vielen Villen, ganz in Grün eingehüllt. Der Auffahrthof, in dem die Mennoniten ihre Wagen und Pferde einstellten war dem, den Peter Klassen, in 73 seinem Buch, Der Peet, beschreibt, zum Verwechseln ähnlich. Nur beschreibt Peter Klassen den Auffahrthof in Simferopol. Auf dem Wege von Ogus-Tobe nach Theodosia verläuft die Fahrstraße eine Strecke am Schwarzen Meer entlang. Dort konnte man auf einer Stelle beobachten, wie sich das überseeische Kabel, von einem Telegraphenpfosten, ins Meer senkte. Unterhaltend war es auch den im Wasser spielenden Delphinen zuzuschauen. In Theodosia gab es selbstverständlich auch Aerzte. Jedoch wurde ein Arzt nicht sogleich gerufen; meistens dockterten wir uns selbst mit Homoeopathie. In unserm Haus gab es mehrere homoeopathische Doktor-Bücher; eines für Kinder, eines für Erwachsene und eines für Frauen. In diesen Büchern gab es Beschreibungen der Krankheiten, von welchen die Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts heimgesucht wurde. Zudem gab es auch Anweisungen zur Behandlung der Krankheiten. Zur Behandlung und eventuellen Behebung der Krankheit konnte man, neben den Büchern, auch eine kleine Hausapotheke verschreiben. Diese kam in einer Schatulle, mit vielen kleinen Fläschchen jedes mit einer Etikette versehen. Die Medizin in diesen Fläschchen wurde dann nach Vorschrift verabreicht. Wenn die Medizin der Homoeopathen auch, wie oft hervor¬ gehoben worden ist, meistens aus Wasser bestand, so hat sie sich doch unter den damaligen Umständen, in einer Zeit, da die Verkehrsmöglichkeiten noch sehr unentwickelt waren, sehr wohl¬ tätig erwiesen. Man konnte wenigstens etwas tun! Die Bücher belehrten den Leser, die Symptome einer Krankheit sorgfältig zu beobachten und den Kranken demgemäß zu behandeln. Schaden konnte man dem Kranken kaum, doch konnte nach Vorschrift, mit systematischer Behandlung, viel zur Linderung und Besserung des Kranken getan werden. Wenn es sich um schwere Krankheiten, so wie Diphtherie und dem zur Kj-iegszeit so häufig auftretendem Typhus handelte, mußte natürlich ein Arzt geholt werden. Wir wohnten ein Jahr lang in dem lutherischen Dorf Kerlaut. Dort gab es einen Arzt. Er hatte erst kürzlich seine Studien beendet. Dr. Gamper war ein Bauernsohn, den seine Eltern hatten studieren lassen. “Verrussen und verkommen wird er”, prophe¬ zeiten die Nachbarn den Eltern, doch sie schickten ihren Sohn in die Großstadt, um zu studieren. Nichts von dem Vorhergesagten bewahrheitete sich, Dr. Gamper wurde ein tüchtiger Arzt, auch war er ein warmherziger, sympathischer Mensch. Als meine kleine dreijährige Schwester dennoch dem Krup erlag, nachdem Dr. Gamper alles versucht hatte, wollte er keine Zahlung für seine Mühe annehmen. (Damals gab es noch nicht die Wunderdroge Penicillin) Nachher trat der Typhus im Dorf und überall in der Umgegend schwer auf. Dr. Gamper fuhr mit jedem Russen mit. Er bekam nicht genug Ruhe, so daß er, als ihn die Krankheit packte, ihr schnell erlag. So kurz nur hatte er seinen Beruf ausüben können. Sympathisch fand ich auch die russischen Offiziere, die in den Häusern, einquartiert waren. Meine Eltern luden sie zuweilen zu einer Tasse Tee ein, damit sie sich etwas am Familienleben, das sie 74 unverschuldet entbehren mußten, erwärmen konnten. Sie kamen gerne. Diese jungen Männer kamen aus gutem Haus, hatten eine gründliche Ausbildung genossen, und nahmen ihr Schicksal aus Gottes Hand. Eine Einrichtung, die alle Mennoniten in Rußland gemein hatten, war die Bastan. Die Bastan war eine Fläche Land, hinter dem Garten, oder auch auf dem Feld, auf der Rankenfrüchte, so wie Arbusen (Wassermelonen), Melonen und Kürbisse gezogen wurden. Im Sommer bestand die Kost der mennonitischen Bauern zum großen Teil aus den Früchten, die sie selbst zogen. Doch nicht alle Bürger des Landes lebten von ihrer Hände Arbeit, so daß zum Bastan auch ein Nachtwächter gehörte. Seine Aufgabe war, Eindringlinge, besonders solche, die die Bastan zerstörten, femzu- halten. Er hauste in einer kleinen, provisorischen Strohhütte auf seinem Machtbereich, wohin er auch seine Verpflegung bekam. Er hatte immer einen Vorrat der reifsten, süßesten Arbusen im Stroh versteckt, wo sie kalt blieben. Er wußte genau, wo auf dem Feld die schönsten Arbusen an den Ranken lagen. Nachts aber mußte er sich wach halten. In der guten alten Zeit gab es im Dorf auch einen Nacht¬ wächter, der zur Nachtzeit die Straße entlang ging. Schon allein die Feuergefahr, die wegen der großen Strohhaufen nahe lag, gebot ständige Wachsamkeit. Bei uns in Spat, zum Beispiel, warf ein gewesener Kator- schnick, (ein gewesener Sträfling) ein brennendes Schwefelholz in die Scheune und setzte Stall und Haus in Flammen. Mit der guten alten Zeit möchte ich die Zeit bezeichnen, als noch Ordnung im Reich herrschte, die jedoch mit dem Ausbruch der Revolution aufgehoben wurde. Es gab nun Banden, Besatzung, und in Verbindung mit den Weißen, Einquartierung. Die Ein¬ wohner von Ogus-Tobe kamen ganz nah mit dem Krieg zwischen den Roten und den Weißen in Berührung. Es haben während der Zeit des Bürgerkrieges zweimal nahe am Dorf Kämpfe stattge¬ funden. Die männliche Jugend sah von den hohen Strohhaufen dem Gefecht zu. Mutter schreibt darüber in ihrem Tagebuch: “Alle Tage hört man schießen.” (Ich kann es mir noch gut denken, wie die Kanonen beständig orgelten.) “Am 27. März 1919 rückten die Freiwilligen in Ogus-Tobe und Umgegend ein, um die Front dort zu halten. Wir belachten und bezweifelten es zuerst, aber schließlich mußten wir es glauben, denn am 4. Juni wurden die Bolschewiki von der Ak-manaischen Front zurückgeschlagen, bis weit in Rußland hinein.” Die Weißen oder die Freiwilligen, wie Mutter sie nennt, behielten noch die alte Ordnung bei, wonach ein Priester für die geistliche Betreuung der Soldaten zuständig war. Auf dem großelterlichen Hofe befand sich auch ein Priester, der allabendlich, im Freien auf dem Hof. “Molitwa” (Gebetstunde) hielt. Eines Abends, am Vorabend des Kampfes, sah ich, als ich durch die Hecke lugte, ein einmaliges Bild. Im tiefen Gras auf der leeren Feuerstelle (Hofstelle), die an Großvaters Hof grenzte, knieten im 75 Kreis wohl vierhundert barhäuptige Männer, Soldaten; sie nahmen dort das Heilige Abendmahl. — Was auf anderen Höfen geschehen ist, kann ich nicht sagen. Nach dem Kampf brachten einige Soldaten ihren toten Kameraden zurück und machten ihn fertig zur Beerdigung. Barfuß, folgten wir Kinder dem kleinen Trauerzug, auf der staubigen Dorfstraße, dem Sarg, dem Priester mit dem Weihrauchfaß, und den trauernden Soldaten, zum Friedhof. Er war nur ein Opfer, nur ein junger Mann von den Tausenden, die in diesem unseligen Bruderkrieg ihr junges Leben hingaben. Um einen Rechtgläubigen Russen auf einem mennonitischen Friedhof zu bestatten, mußte speziell eine Genehmigung vom Polizeiamt eingeholt werden. Das russische Gesetz war in dieser Hinsicht sehr genau und billigte solches Verfahren nicht. Anderer¬ seits war es auch mit Schwierigkeiten verbunden, wenn man z.B., wie es bei meinen Eltern der Fall, war, ein ungetauftes Kind, in Ermangelung eines mennonitischen Friedhofes, auf einem recht¬ gläubigen Friedhof begraben mußte. Besonders unverständlich war es den russischen Behörden, daß meine Eltern nicht das orthodoxe Kreuz, mit zwei Querstücken auf das Grab setzen ließen. Die Spuren des Kampfes konnte man noch später auf dem freien Felde beobachten, nachdem das Militär die Umgegend geräumt hatte. Eine oder zwei Werst vor dem Dorf gab es viel Stacheldrahtverhaue. Es war ein wahrer Stacheldrahtwald! Auch einige niedrige Schützengräben waren vorhanden. Zur Zeit der deutschen Besatzung gab es dort auch eine Schlacht. Ich erinnere mich noch, wie die Wagenkolonne mit Toten und Verwundeten nach dem Kampf durchs Dorf fuhr. Ein Wagen brachte einen jungen Leutnant, der bei uns einquartiert gewesen war. Er hatte Wundfieber und bat meine Tante um Wasser. Er hatte einen Bauchschuß und wurde auf dem Bretterwagen nach dem Lazarett gebracht. Ich weiß nicht, ob wir ja wieder etwas von ihm gehört haben. Es war auch zur Zeit der deutschen Besatzung, als aus der Luft drei Bomben auf das Dorf geworfen wurden. Niemand wurde getroffen. Bei den Großeltern fiel eine Bombe in einen Rosen¬ strauch, nicht weit von dem Häuschen, in dem wir wohnten. Die Großeltern bewohnten mit ihrer Familie die eine Hälfte des Hauses. Dieser Teil hatte keine Außentür. Da wir es vorzogen, nicht durch die vom Militär besetzten Räume zu gehen, auch schon nur wegen der Läuse, stiegen wir durch das Fenster. Es wurde eine Leiter angestellt, denn das Haus stand hoch auf dem Fundament, und aller Verkehr nahm nun, zwei Monate lang, seinen Weg durchs Fenster. Da die Küche auch vom Militär benutzt wurde, kochten wir in der Arbeiterküche auf dem Hof. So mußte alles warme Essen über den Hof getragen werden. Es war bei warmem Wetter; ich kann mir nicht denken, daß die Stimmung niedergeschlagen war. Die Umstände waren so erregend und abwechselungsreich. Gro߬ vater wird sich wohl gesorgt haben, was kann man von einem mit Stacheldraht besäten Felde im Herbst ernten? Im Asowschen Meer lag zu einer Zeit, wohl nachdem die 76 deutsche Besatzung die Ukraine räumen mußte, ein englisches Flaggschiff. Es lag dicht am Ufer, so daß es gut zu sehen war. — Es ist erstaunlich, wie groß die Anpassungsfähigkeit des Menschen ist. Allen ungewöhnlichen Erscheinungen zum Trotz verlief das Leben doch mehr oder weniger normal. — Die Ogus-Tober fuhren gerne und oft zum Asowschen Meer um zu baden. So fuhren auch wir ungeachtet des Kriegsschiffes, baden. Zu einer Zeit wurde das Schiff stark von den Roten beschossen. Es ist aber zweifelhaft, ob je ein Treffer unter den Kugeln war. Die Kanonen orgelten täglich in gewissen Abständen. Ak-Marai jedoch, das Tatarendorf, in dessen Nähe das Schiff ankerte, wurde stark mitgenommen. Es gab kaum ein Haus, das nicht einen Treffer aufzuweisen hatte. Wie die armen Leute in den zerschossenen Häusern wohnten, ob sie möglicherweise in die nahen Steinbrüche flohen, und wie viel Menschenleben es gekostet haben mag, kann ich nicht sagen. Die oben erwähnten Vorgänge hielten ja nur zeitweilig an und wechselten einander ab. Wenn eine Episode vorüber war, traten zeitweilig normale Zustände ein. Dann rappelte sich die Gesell¬ schaft wieder einigermaßen hoch, bis dann wieder ein Niederschlag kam. Wenn es drunter und drüber ging, wie dann, als die Weiße Armee abzog, und die Rote einzog, dann mußte man nur sehen, wie man über Wasser blieb. Den Zusammenbruch der Weißen Armee hab ich in Ogus-Tobe nicht erlebt. In Spat, wo wir zu der Zeit wohnten, konnte man beobachten, wie das ganze Heer nach dem Osten zog. Diese Richtung wurde eingehalten, die Flüchtenden sind auch durch Ogus-Tobe gezogen, nach Kertsch hin. Dort wollten sie sich auf die Schiffe retten. Was sich vorher und auch später in solchen Fällen immer wiederholt hat, geschah auch hier. Die Schiffe wurden überladen und beschossen, so daß viele Menschen im Wasser ums Leben kamen. Die Dorfstraße war tagelang gedrängt voll Truppen; meistens in guter Ordnung. Viel Kavallerie, Pferde, Pferde, Pferde mit Reitern. Hin und wieder auch ein Schub Infanterie. “Schaut Kinder, schaut,” sagte Mutter zu uns,” so etwas werdet ihr nicht alle Tage sehen.” Mutter stand nächtelang am Herd und kochte, während Vater mit Stroh einheizte. Es werden aber wohl nur einige Offiziere etwas von diesem Essen bekommen haben, für die Soldaten gab es doch noch die Feldküche. Den letzten Abend wurde die Flucht gehetzt, sogar Proviant wurde abgeworfen. Eines Morgens war die Straße leer. Eine beklemmende Stille lagerte über dem Dorf. Wir Kinder gingen in die Schule, auf dem Schulhof empfing uns der Vater unseres Lehrers, Herr Ediger. “Kinder,” sagte er, “geht alle schnell nach Hause, haltet euch nirgends auf, geht nach Hause und bleibt bei euren Eltern!” Um Mittag zog der Sieger ein! Kavallerie mit vielen roten Fahnen. Einige Fahnen waren mit dem Totenkopf verziert, auf anderen stand zu lesen: “Doloy s Burjguasie”, Einige Soldaten führten schon Kriegsbeute mit sich. Sie hatten Plüschdecken unter Sättel gelegt; einer hatte sich ein weißes Spitzenhemd übergezogen. 77 Endlich ging auch dieser schreckliche Bruderkrieg zu Ende. In unserer Familie war der Tod in den letzten Jahren öfters eingekehrt. Nachdem mehrere ihrer Kinder gestorben waren, erlag Mutter der Schwindsucht. Das Haus war uns überm Kopf angesteckt worden, während Vater, der mit noch andern gefahren war, die amerikanische Hilfe entgegenzunehmen. Wie schon einige Male in unserm Leben, so fanden wir auch dieses Mal Zuflucht in dem gastlichen Hause unserer Großeltern. Vater ließ meine Schwestern und mich in Ogus-Tobe, während er versuchte, seine zerrüttete Existenz zu meistern. Als wir im Jahre 1922 zu den Großeltern kamen, mahlte Großvater wieder auf der Windmühle, zusammen mit seinem jüngeren Sohn. Mein Vater schreibt darüber im Tagebuch: “Der Schwiegervater hat sich eine Windmühle gekauft für 325 Millionen Rubel, und mahlt selbst täglich, trotz seiner 64 Jahre.” Die Mahlgäste brachten das Korn in kleinen Säcken, viel Mais. Es war der Sommer nach dem Hungerjahr. Ob es Tag war oder Nacht, wenn es Korn und Wind gab, mahlte die Mühle, tack, tack, tack. — An stillen Tagen mußte der Stein geschärft, und die Segel an den Flügeln ausgebessert werden. Doch jetzt steht die Mühle schon lange nicht mehr am Ende des Dorfes. Wir, meine Schwester und ich, verließen Ogus-Tobe im Herbst 1922, und sind nie mehr dorthin zurückgekehrt. Großmutter war wie eine Glucke, sie wollte alle ihre Kinder und Kindeskinder in der Nähe haben und hätte uns gerne zurückgehalten. Im Jahre 1925, als wir schon in Kanada waren, schreibt sie: “Es geht uns gut, wir haben eine gute Ernte gehabt und können uns kaufen, was wir wollen.” Im nächsten Jahr war es noch ähnlich. 1927 schreibt meine Cousine, auch aus Ogus-Tobe: “Die Kinder dürfen dieses Jahr keinen Weihnachtsabend stellen; jetzt wird es der Chor mit vielen Liedern tun. Auch die Sonntagsschule ist verboten.” Die Ernte war in dem Jahr gut. Die Heizung hatten die Großeltern sich nach oben verlegt. Das Klavier wurde verkauft, “es ging nicht anders, wird uns zu Weihnachten sehr fehlen,” schreibt Großmutter im Jahre 1929. Sie haben wohl schon gewußt, was ihnen bevorstand, denn Großmutter schreibt noch im selben Brief: “ich weiß nicht was ich mit den alten Briefen machen soll.” — Sie hatten alle Briefe von ihren Kindern aufbewahrt. — “Ich hab sie alle verbrannt, es war schon noch ein netter Haufen,” schreibt sie etwas später. Nachher wurden alle Briefe, Dokumente und Tagebücher von der Regierung konfisziert. Im Juli schreibt die Tante aus Ogus-Tobe: “Eben waren sie bei uns, um alles aufzuschreiben, doch wohl zum Aussiedeln; neun Familien.” Später im Dezember schreibt Großmutter: “Der Weizen steht prachtvoll.” Diese Ernte werden die Eigentümer nicht mehr einheimsen. 1928 schreibt Hanz Janzen: “Wir in Sarona haben ja zu Brot genug, wenn wir’s behalten können; die Steuern sind hoch, aber in Folge der hohen Getreidepreise haben wir sie erledigen können. In 78 diesem Herbst ist ganz Sarona zu einer kollektiven Landbearbeitung übergegangen, denn die individuellen Wirtschaften werden zu hoch besteuert, so daß sie nicht weiter bestehen können.” Im Jahre 1929 schreibt Hans Janzen, der meine Tante zur Frau hatte, aus Sarona, daß ihnen der Taufunterricht verboten sei. Jedoch haben sie neben den Morgenandachten auch noch Nach¬ mittagsandacht, “die hauptsächlich dazu dient, die taufbedürftige Jugend zu unterrichten. Auf dem geistlichen Gebiet werden uns ja Hindernisse in den Weg gelegt, aber wenn wir das behalten könnten, was wir noch dürfen, so wollen wir zufrieden sein,” schreibt er weiter. “Gottesdienste am Sonntag; wenn auswärtige Prediger kommen, auch an Werktagen; Bibel-, Gebet- und Sing¬ stunden dürfen gepflegt werden. Aber es wird wohl noch anders kommen.” Er sollte Recht haben. Ich habe Auszüge aus Briefen von Sarona eingefügt, weil Hans Janzen die Ereignisse so sachlich wiedergegeben hat, und weil sein Bericht das ergänzt, was auch in Ogus-Tobe geschah. “Ich will Euch die Vorkommnisse vom 1. Februar 1930 an jetzt berichten” schreibt Hans Janzen. “Schon im Januar wurden die Dörfer wegen der Kollektivisierung häufig besucht und mit dem Stempel der Kontrarevolution bedroht. Auch mit andern Drohungen wurden wir angespomt, die Kollektivisierung anzunehmen, worauf wir aber nicht eingingen. Die Stimmlosen (früheren Eigentümer) hatten ja überhaupt nichts zu sagen, sie wurden nicht einmal zu den Versammlungen zugelassen. Nicht eine Stimme für die Einrichtung eines Kollektivs wurde nach drei Versammlungen abgegeben. Dessen ungeachtet wurde zur vierten Versammlung auch das russische Nachbardorf hinzugezogen. Man plante, das russische Dorf und Sarona in ein Kollektiv zu vereinigen. Von 70 Stimmen waren dann 26 für die Kollektivisierung. Das Protokoll lautete aber: “Mit Stimmenmehrheit durchgeführt”. Ein paar Tage darauf las man schon einen Artikel darüber in der Zeitung, mit was für einem Enthusiasmus wir die Kollektivisierung angenommen, und obendrein noch beschlossen hätten, die Stimmlosen auszu¬ siedeln. Obzwar diese Frage nicht einmal zur Sprache gekommen war. So eine niederträchtige Lüge! Am Sonntag, dem 2. Februar, “so schreibt mein Onkel weiter, wurde das Vermögen der Stimmlosen aufgeschrieben, das meiste Bargeld weggenommen, sogar Trauringe von den Fingern gezogen. Ich fuhr gerade ins Krankenhaus zur Bruchoperation, die ich, Gott sei Lob und Dank, glücklich überstanden habe. Den 11. Februar waren unsere Nachbarn, Jasch Poettgers, schon aus ihrem Haus rausgeworfen und in unser Haus hineingezogen. Was sie in 30 Minuten herauskriegen konntem, war ihres. Es hieß sogar niemand dürfte die Stimmlosen aufnehmen, dem sollte das nämliche passieren. Nun darnach kehrten wir uns nicht. Es war dieses aber nicht genug, nach zwei Tagen mußten alle Stimmlosen packen und wurden mit Fuhrwerken zum Bahnhof gebracht, von wo sie weiter in die Stadt, in Quarantäne gestopft wurden. Die ganzen Familien, Kinder, Blinde, Alte, alle. 79 Als die Reihe an Ogus-Tobe kam, war der oben erwähnte Platz schon überfüllt und die Eltern durften mit den Uebrigen aus dem Dorf noch zu Hause bleiben. Schwager Kornelius Klassen, Aaron Willms, und noch andere von dort, waren schon im November arretiert und saßen (waren in Haft) ebenfalls in der Stadt. Sie waren wegen der Immigration nach Sibirien verurteilt worden; außerdem wurde ihnen Agitation gegen die Kollektivisierung in die Schuhe geschoben. Es ist bei uns nämlich so, wenn etwas nicht flascht, sind die Stimmlosen schuld, und ist es nicht ein Kulak, so ist es ein Schädling zu welchen auch ich schon gezählt werde, wenn ich auch nichts habe. Aber stimmt man nicht ganz mit ihrer Meinung, so ist man ein Kontrarevolutionär, und so ist schon niemand mehr sicher. So haben unsere Stimmlosen schon sechs Wochen lang in der Stadt ganz abgesperrt gelebt. Niemand durfte sie sprechen, Essen bekamen sie knapp, so daß sie von zu Hause aus unterstützt werden mußten. Im ganzen waren es von hier (aus Sarona) mit Kindern, 48 Mann. Nach den sechs Wochen, den 27. März 1930, wurden die tausenden Menschen, die in der Stadt einsaßen, und auch die, welche bis jetzt hatten zu Hause bleiben dürfen, in rote Waggons verladen, (Frachtwagen) und bei verriegelten Türen nach dem Norden verschickt, darunter auch unsere lieben, alten Eltern.” (Die Großeltern waren dann beide 73 Jahre alt.) “Es war wie ein langer Leichenzug, als die Wagenkolonne der Vertriebenen das Dorf verließ,” schrieb meine Cousine aus Ogus-Tobe, die nicht zu den Stimmlosen gehörte. Ogus-Tobe wurde den 30. März 1930 ausge¬ siedelt. “Wohin weiß niemand,” schreibt Hans Janzen weiter, “so still wird es gehalten. Die meiste Post wird dochwohl auch aufgefangen, oder es ist ihnen nicht erlaubt zu schreiben, denn wir kriegen fast keine Nachricht. Von Mama war eine Karte, daß sie auf der Kasaner Bahn weitergeschickt werden, sie wußten aber noch immer nicht wohin.” “Es ist schrecklich,” schreibt Hans Janzen den 10. April 1930, aus Sarona. “Betet für uns hier, wenn ihr uns nicht anders helfen könnt. Salomon Ediger, (er war Bankier in Itschki gewesen) soll heute eine Karte von Trudchen (wohl seine Tochter) bekommen haben, daß sie mit ihren Kindern, — denn er war ja schon vorher verschickt — auf einer Station, hinter Moskau, wahrscheinlich auf der Kasaner Bahn, abgesetzt worden ist, ganz verlassen, hungrig und kalt. Es habe sich aber ein Mann über sie erbarmt und sie zu sich genommen.” Sobald die Stimmlosen aus ihren Häusern vertrieben waren, fanden sich gleich neue Einwohner. “Unser armes Sarona,” schreibt Onkel Hans, sie hatten dort wohl eine kollektive Landbearbeitung eingeführt; um jedoch harmonisch miteinander arbeiten zu können, bedurfte es der christlichen Einigkeit. Auch in Ogus-Tobe zogen die Leute aus den Pachtdörfern in die freigewordenen Häuser der Stimmlosen. Die Ernte, noch von 80 den Kulaken eingesät, war sehr gut. Man hat aber dennoch festgestellt, daß sich der Boden dort vorwiegend zu Weinbau und Schafzucht eignet. Ein Teil des früheren Ackerlandes ist mit Wein bepflanzt; der andere Teil dient der Schafzucht. Das ganze Dorf ist abgebaut! Dem Erdboden gleichgemacht! In Ogus-Tobe ist nur der Hof von Aaron Willms stehen geblieben, der jetzt als Schafhürde dient. Das Uebrige, alle Bauten sind nach Semsot verlegt worden, weil dieser Ort dem Bahnhof näher liegt. Meine Cousine, die zu Besuch in ihre Heimat zurückgefahren war, konnte Großvaters Hof nicht finden, bis sie auf zwei Fliederbüsche stieß, von denen sie wußte, daß sie zu beiden Seiten des Tores gestanden hatten. Nur ein liegen-gebliebener Grabstein, auf der Stelle, wo früher der Friedhof war, ließ darauf schließen, daß hier einst eine Beerdi¬ gungsstätte gewesen sei. Wo sind all die Vögel geblieben, die dort in den Bäumen nisteten? Die Sprehe, welche die Kirschen stahlen? Die Schwalben, die in Stall und Scheune nisteten? Sie hatten immer reichlich den Tisch gedeckt, auf dem Hof und im Garten. Zur Maulbeerzeit schmausten sie den ganzen Tag in den hohen Maulbeerbäumen, die wir nicht erreichen konnten. — Die Bäume wurden schon früh von den neuen Einwohnern zu Brennholz abgeholzt. Versunken ist alles, die weinumrankten Lauben, die Hänge¬ matte unter dem Hollunder, die Kletterrosen bei der Veranda, die Bank unterm Aprikosenbau, hinten im Garten. Die Reseden und Nelken in Großmutters Blumengarten, die Hyazinten und Nar¬ zissen früh im Frühling, und im Herbst die herben Astern. Die Tuja und Lebensbäume, mit Morgenblumen dazwischen, den Gartenweg entlang. Johann P. Isaak, Ogus-Tobe mit seiner zweiten Frau — jetzt Saskatoon. 81 Volksschule in Ogus-Tobe, Krim, Feodosia, 1935 mit Lehrer Harder und Lehrerin, Frl. Römchen. Hochzeit in Ogus-Tobe, 1918. Brautleute sind Käthe Keil und Abr. Fedherau. Eing. Johann Isaak. Jakob Penner berichtet kurz über Ogus-Tobe: Ogus-Tobe war ein großes mennonitisches Bauerndorf, an schnurgerader Straße mit ihrer schön angelegten Dorfschule. Die umliegenden Dörfer waren meistens Krim—Tataren: Akeo Monai, Kontousch, Semissotka. Die Tataren waren sehr freundlich zu den 82 Mennoniten. Die Hauptbeschäftigung war in Ogus—Tobe, Ge¬ treidebau und Baumwolle. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Ogus—Tobe ein Armeefriedhof für die rote Armee angelegt und das Land an die übrigen Dörfer angegliedert. Das Dorf Tschongraw Das Dorf Tschongraw wurde im Jahre 1912 von meinem Großvater Gerhard Wiens, seinen Kindern und seinen Geschwistern gegründet. Die Ursache, daß wir alle zusammen in der Krim ansiedelten, war einfach, da wir so zertreut in der Ukraina lebten, und die Familie das Verlangen hatte, mehr beieinander zu wohnen. Wir sehen darin auch die Führung Gottes, denn wären wir wohnengeblieben, wo wir vorher alle wohnten, wären wohl viele von uns auch den Machnowzen zum Opfer gefallen. Die Großeltern mit ihren Kindern gehörten der Mennonitengemeinde an, Großvaters Geschwister waren Glieder der Brüdergemeinde. Im täglichen Umgänge machte dieses aber keinen Unterschied, man liebte sich und bei Geburtstagen waren immer alle zusammen. An den großen Feiertagen, wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten, kamen alle Kinder und Großkinder bei den Großeltern zusammen. Das waren immer herrliche Tage und Gelegenheiten, wo man lachte, spaßte und auch ernste Geschichten erzählen konnte. Vielleicht wäre es am Platze, der Reihe nach die Bauern des Dorfes anzugeben. Meine Großeltern wohnten an einer Seite in der Mitte des Dorfes. Nach dem Nordende wohnten als erste Peter Warkentins, Schwiegersohn, dann folgten Jakob G. Wienses, meine Eltern. Nach dem Süden von den Großeltern folgten Abram Hildebrandts, Heinrich Toewses, auch Schwiegersöhne. Eine andere Tochter, Jakob Janzens, wohnten in Schostak. Drei Söhne, Gerhard, Peter und Hans und eine Tochter Liese, waren noch zu Hause. Auf der anderen Seite der Straße, vom Südende kommend, wohnten zunächst zwei Stiefbrüder von Großvater, Jakob und Heinrich Hüberts. Dann folgte Großvaters Bruder Johann Gerhard Wiens, der bekannte Missionar aus Indien. Als nächstes folgte die Schule, die Kirche und die Lehrerwohnung, alles unter einem Dach. Nun kam die Mittelstraße, die zum Friedhof führte. Hier war auch der allgemeine Dorfbrunnen. Das Wasser mußte 33 Faden gepumpt werden. Als nächste folgten Jakob Rogalskys, Großvaters Schwester. Dann als letzte schließlich haben wir Gerhard Isaaks, Großvaters Stiefschwester. Die Ansiedler hatten gleich zu Beginn den Dorfsbrunnen mit einer Wasserleitung zu den einzelnen Bauernhöfen verbunden, so daß wir in allen Viehställen und auf dem Hofe Krähne und Tröge hatten. Im Hause gab es noch nicht Wasserleitung, da die Gebäude immer noch nicht fertig waren. Dazwischen kam der 1. Weltkrieg und von da an ging alles sowieso bergab. Zuallererst hatte man bei der Ansiedlung eine Baracke gebaut, um mit allem unterzukommen. Dann folgte das Wohnhaus, nicht 83 weit von der Straße. Auf dem Straßenende waren Vorzimmer, große Stube, Schlafzimmer und kleine Stube. Anschließend folgte ein größerer Raum, der als Wagenschuber gebraucht wurde, sowie die Wohnung für die Vorarbeiter, mit zwei kleinen Zimmern, Küche und einem größeren Eßraum für die Arbeiter und Knechte. Die Frau des Vorarbeiters kochte für das ganze Gesinde. Am Vorder¬ haus war rechts die Küche angebaut. Alles dieses war unter einem Dache. Nicht weit ab vom Haus war auch das Viehhock, eine Umzäunung, wo die Kühe im Sommer übernachteten. Gegenüber war der Viehstall, für Pferde und Kühe, der Schweinestall, und gleich anschließend der Hühnerstall. Etwas weiter nach hinten folgten nun die Spreu- und Maschinenscheune. Großvater hatte auch schon eine große Querscheune und sein Haus war auch etwas größer. Unsere Wohnhäuser wurden Nebenhäuser genannt. Die Einteilung des Landes wurde so gemacht, daß ein jeder Bauer einen Teil anschließend an der Wirtschaft hatte, das übrige lag einige Werst außer halb. Das Land war nur leicht, steinig und hügelig. Der Emteertrag war verschieden; durchweg gab es in den Tälern besseren Ertrag. Im Frühling, bei der Saat der Felder, kamen wir meistens für die Nacht nach Hause. Beim Brachen blieben wir jedoch öfters über Nacht auf dem Felde. Man nutzte die Weide für die Pferde aus. Nach Möglichkeit bearbeiteten alle Nachbarn zugleich und zusammen die Felder, dann hüteten die Viehhirten die Pferde und brachten sie morgens zeitig zur Stelle, um sie noch etwas extra mit Hafer zu füttern. Früh morgens begann man wieder mit dem Pflügen, und erst die heiße Mittagssonne mahnte dann wieder zur Rast aund zur Stärkung an Korb und Krippe. Nachmittags machten wir die Runde, bis es kühl und dunkel wurde. Winterweizen und Gerste wurden im September eingesät; wenn die Feuchtigkeit gut war, war der Weizen ziemlich stark, bis der Winter kam. Dann folgten die schönen Monate des Einerntens auf dem Felde, nachdem der Winter vorbei war. Oft blieben wir auch beim Mähen über Nacht auf dem Felde. Die Dreschzeit war immer eine vielbeschäftigte aber schöne Zeit. Mehrere Bauern schlossen sich für diese Arbeit zusammen, um so genügend Arbeiter zu haben. Man ging der Reihe nach von einem Hofe zum anderen. Die Maschinen wurden immer umgefahren. Einige füllten die Leiter¬ wagen mit den Garben auf dem Felde, meistens Frauen oder Jugendliche fuhren mit den Wagen die köstliche Ernte zur Dreschanlage. Wenn der eine Wagen fast leer war, mußte der andere Wagen schon da sein, die Maschinen durften nicht im Leerlauf gehen. Alles ging wie an einem Schnürchen. Der Weizen wurde nach Bijukonlar zur Bahn gebracht zum Verladen. Es wurde so organisiert, daß alle Bauern zugleich Weizen lieferten, um so die Waggone nacheinander aufzufüllen. Im Nachbardorfe Altendji war eine Wassermühle; dahin brachten wir den Weizen zum Mahlen. Hier gab es auch große Obstgärten, wo wir unsere Aepfel einkauften. Später fingen die Bauern auch an, 84 Weizen direkt nach Simferopol zu fahren, wo man durch Makler oft bessere Preise erhielt. Diese Gelegenheit wurde dann genützt, um noch andere Einkäufe zu machen. Die Pferde wurden im Gasthofe gefüttert, während wir sonstige Geschäfte bestritten oder vielleicht im Gasthofe aßen. Mit leeren Wagen waren wir in etwas mehr als drei Stunden zu Hause. Wir haben auch viel Arbusen (Wassermelonen) und Melonen gepflanzt. Wenn die Stengel erst abzutrocknen anfingen, waren die Früchte reif. Vater würde mit Kennermine die Arbusen abknipsen, um nach dem Klange festzustellen, ob sie auch reif waren. Wie schmeckte doch diese Frucht! Im Herbst wurde dann der Baschtan (Arbusenfeld) abgeräumt. Da gab es manche Schlacht zwischen den verschiedenen Gruppen; die kleineren, noch nicht reifen Arbusen wurden gebraucht, um sich damit zu bewerfen. Die größeren legten wir in den Weizen, so hatten wir noch Weihnachten köstliche Arbusen. Die kleineren wurden in hölzernen Fässern “eingelegt” zum Säuern. Man hatte so das runde Jahr hindurch “saure Arbusen”. Im Sommer kamen vom Gebirge her die Tataren mit Weintrauben, Kisil und Aepfeln. Sie hatten meistens Ochsenge¬ spanne und längere zweiräderige Wagen, mit Holzachsen. Das knirschte und quiekte ganz jämmerlich. Sie vertauschten ihre Ware am liebsten für Getreide. Für uns Kinder war das immer eine besondere Freude, wenn diese Fruchtwagen durch unser Dorf fuhren, einmal der Neuigkeit halber, dann aber auch wegen der herrlichen Frucht. Während des Ersten Weltkrieges mußte mein Vater in der Nähe von Aluschta seinen Dienst mit anderen mennonitischen Männern im Walde verrichten. Mein Vater, Jakob G. Wiens, und mein Onkel Peter Warkentin, hatten zusammen ein Fuhrwerk und ihre Arbeit bestand darin, die Arbeitskompanie mit Proviant zu versorgen. Einmal durften mein Couseng und ich mitfahren und hatten so die Gelegenheit, die Berge näher zu besichtigen und auch im Schwarzen Meere zu baden, ein Erlebnis, das man nie vergessen wird. Nach der Dreschzeit kam das Kornbrechen. Der Wagen fuhr eine Reihe entlang, und an jeder Seite brachen mehrere Personen die Kolben von den Stauden und warfen sie gleich auf den Wagen. Die Kolben wurden zu Hause auf einen Haufen im Hofe gefahren und dann meistens im Kreise der ganzen Familie und womöglich mit den Nachbaren zusammen geschält. Da gab es viel zu erzählen. Wir Kinder wälzten uns im Blätterhaufen und machten lange Zöpfe oder Schnurrbärte aus den braunen Kolbenhaaren. Ja, wo sind die Zeiten. Lang, lang ist’s her! Das Maisstroh wurde abgehackt nach Hause gefahren und als Viehfutter verwendet. Unser Dorf war durch einen kleinen Fluß abgegrenzt. Im Sommer wollte er immer wieder austrocknen, weil ein jeder einen Damm machte und das Wasser zur Bewässerung gebrauchte. An den Ufern wurde Heu gemacht. Jeder Bauer bekam seinen gerechten Teil angewiesen. Der 1. Mai war immer ein besonderer Tag für uns Kinder. Da feierten die Schulen; ein großes Vergnügen 85 war es immer, wenn dann die Wagen mit frischem Heu angefüllt waren und wir Kinder dann hinausfahren durften. Girlanden und Kränze schmückten dann die Wagen und auch die Häupter der Mädchen. Schöne Zeiten, die nie wiederkehren. An der Burultscha hatten Dicks ein schönes Gut mit einem netten Wald, da fuhren wir meistens hin und hatten viel Vergnügen, im grünen Walde alles zu untersuchen und zu erforschen. Hier war auch ein Kreideberg, auf welchem viele Feuersteine zu finden waren. Die Kreide brauchte man zum Färben der Häuser. Die Feuersteine dienten den Rauchern, ihre Hupka zum Glühen zu bringen und die Zigarren damit anzuzünden. Wir hatten auch unsere eigene Kalkbrennerei, da es überall viel Kalksteine gab. Der Vorgang war etwa folgend. Man hob ein großes, brunnenartiges Loch aus, je nachdem man Steine brennen wollte. Von einer Seite grub man dann einen schrägen Gang, der dann am unteren Ende des Brunnens sich mit demselben verband. Dann fertigte man so etwas wie ein Feuerrost an, damit man von unten mit Stroh oder Holz heizen konnte, der Brunnen war vorher mit Kalksteinen angefüllt. Oben wurde der Haufen abgerundet welcher dann mit etwa sechs Zoll Lehm belegt wurde, so daß die Steine zugedeckt waren; nur einzelne kleine Löcher wurden gemacht, damit ein Windzug entstehen konnte. Nun wurde Tag und Nacht geheizt, bis die Steine glühend waren und kein Rauch mehr aus den Löchern kam. Nun ließ man den Ofen abkühlen und dann wurden die gebrannten Steine irgendwo auf dem Hofe abgeladen und in einem großen, ausgemauerten Graben in der Erde mit Wasser begossen. Nun fing es an zu kochen und zu brodeln. Die Steine zerfielen, man rührte die Masse um, bis alles sich in einen gleichmäßigen Schlamm verwandelt hatte. Diesen Vorgang nannte man “Kalklöschen”. Wenn man den gebrannten Kalkstein längere Zeit in der Luft liegen ließ, zersetzte er sich auch, aber die zurückbleibende Asche hatte keine Kraft und taugte nicht zum Antünchen der Häuser. War der Stein aber mit Wasser gelöscht, war der Kalk gut und blieb fest an der Wand nach dem Anstreichen. Wir haben auch viel Kalk verkauft; er wurde in Fässern trans¬ portiert. Die Häuser wurden mit Schneckensteinen oder Muschelsteinen gebaut, die in unseren eigenen Steinbrüchen geschnitten wurden. Die Steine wurden schon in der Gruft nach Maß in Länge und Breite geschnitten. Dadurch wurde das Bauen der Häuser eigentlich sehr erleichtert. Auch die Straßenzäune wurden oft mit diesen Steinen aufgeführt und die Pfosten der Tore waren gleich aus einem Stein aufgesetzt. Die Erde war ziemlich klebrig, und wenn es regnete, besonders beim Schmelzwetter, waren die Wege fast unpassierbar. Die Wagenräder konnten sich leicht ganz mit Kot anfüllen und dann war es schwer weiterzukommen für die Pferde. Oft mußte man stillhalten und die Räder reinigen. Schnee gab es wohl jährlich, oft auch viel, aber da wir in der Krim Seeklima hatten, blieb der Schnee nicht lange. Schlittenfahrten konnten oft kurze Freuden 86 TSCHONGRAW Tschongraw, du Nebeltal! Mein Träumender Sehnsuchtsblick kehrt ins Dorf der Kindheit zurück, wo Freud’ und Leiden ohne Zahl dem Leben Sinn und Inhalt gaben. Auf hügelig steinigem Lande goldene Weizenfelder wogen. Erntearbeiter ruhen am Rande des Weges; glänzende Pferde zogen Fuhre um Fuhre zum Dorfe hinein. Zu beiden Seiten erstreckt sich der Wald, umrandet das Dorf mit sattgrünen Bäumen, — der Kinder Lieblingsaufenthalt, der Jugend erstes Liebesträumen — einladend zu kühlender Rast. Zwischen Wald, Obstgärten und Hecken die Hackfruchtfelder sich erstrecken. Die Dächer im Abendrot blinken, als ob sie dem Wanderer winken zur Einkehr am heimatlichen Herd: Der Vater liest die Bibel, das Kind studiert die Fibel, die Mutter, die Mägde sitzen an Spinnrädern, die nur so flitzen, und Großmutter erzählt. Und mitten im Dorf Kirch’ und Schule stehn, ein Bau, wo geistig-geistliches Leben den Menschen einen Inhalt geben, im Glauben fest zu stehn, für Zeit und Ewigkeit. Tschongraw, du liegst noch heute in Sicht der blauen Berge; doch anders sind die Leute und anders ihre Werke. Und kehren die Jahre auch nicht zurück, die frohe Kindheit raubt uns kein Geschick. Hans Wiens bereiten. Selten war es möglich, mit Sicherheit eine längere Reise mit Schlitten antreten zu können, denn das Schmelzwetter trat oft unvorhergesehen ein. Die Bauernhöfe waren so angelegt, daß jeder Hof vorne einen Blumengarten, vielleicht auch eine gewisse Anzahl Obstbäume 87 haben konnte. An der Straße waren oft Akazienaleen. Jede Wirtschaft hatte aber hinter den Ställen noch mehr Land, wo man Gemüse anpflanzte und auch einen größeren Obstgarten hatte. Ganz hinten hatte dann jeder Bauer noch einen kleinen Wald, der dann das notwendige Brennholz für den Winter lieferte. Anfangs zwanziger Jahre wurde in unserem Dorfe die Evan¬ gelische Mennonitische Brüdergemeinde gegründet mit ihrem ersten Leiter, Aeltesten Hermann Rempel, der aus der Mennoniten- gemeinde austrat. Bei der Gründung der Gemeinde waren die Brüder J. G. Wiens und A. H. Unruh aus der Brüdergemeinde dabei. Ein jeder, der die Erfahrung seiner Wiedergeburt mitteilen konnte, wurde auf Wunsch aufgenommen. Nach dem Zusammen¬ schluß ließ Br. Hermann Rempel sich von einem Prediger der Brüdergemeinde im Fluß taufen und dann taufte er seine Glieder selber weiter. Wir erlebten eine wunderbare Zeit, und das Geistes wehen war so spürbar zu vernehmen. Die Bewegung ging weiter, und im Jahre 1922 war ein anderes großes Tauffest in der Evangelischen Brüdergemeinde, dieses Mal in Lustigstal. Diese Bewegung ging weiter, und wir sind in andere Dörfer gefahren bis Augustube, Schöntal und bis Spat. Sogar bis Simferopol sind wir gefahren und haben dort in den Baptisten- und Evangelischen Gemeinden gesungen. Durch diese Bewegung wurde unser Horizont geweitet und wir konnten Menschen, die nach Gott fragten, helfen und ihnen den Weg zeigen. Ein großer Segen bedeutete für unser Dorf natürlich auch die Bibelschule. Darüber werden bestimmt andere schreiben. Erlebnisse und Erfahrunge, aufgeschrieben von Jakob J. Wiens, früher Tschongraw, Krim, jetzt 414 Lee Ave., Waterloo, Ontario. Krim — die alte Heimat Etliche Erinnerungen aus derselben von Margaret Reimer Die Halbinsel Krim hatte eine einzigartige Lage. Sie lag im Schwarzen Meer und war fast ganz von Wasser umringt. Zur Rechten wurde sie vom Asowschen Meer umschlossen. Dieses Meer war mit dem Schwarzen Meer durch eine Meeresenge verbunden. Im Norden der Krim lag das flache Salzmeer, der Siewasch genannt. Hier wurde Salz gewonnen, gewaschen und getrocknet, indem man es in lange Haufen aufschüttete. Später wurde dann das Salz in Frachtzüge verladen und weiter transportiert. Hier über den Siewasch ist man früher mit der Fähre hinübergefahren, ehe die Eisenbahn gebaut wurde. Doch im Westen des Siewasch, fand sich ein Streifen trockenes Land von etwa 4 Werst Breite und verband so die Insel mit dem Festland. Soweit war sie die Halbinsel Krim. 88 © N ^ s 'S C N a £ es cä « O ® 03 . V V . CS goa s| o.l5 > .2 ■« ^ « öS ^ u a j a g | §.s« o ° -g « - x Q 2^.2 . un ® _C o ^ J3 CB ® -G w 3 r® J ü | ^ 1 K j - c 3 • cß o> '5 a cä* fl 4) Eä s® j L- 2 . O ’V s ■§ N 2 2 ■£ - u ja 3 ®«Ä-S g>? 8^>= 6f «Jä® ■§ sl gl“ u.,5.5 b iitSü l|S 2^> b « 0) - .S -rj u OJ § O 3 T3 'O > - H •s s s I öc E CB s .2 > T ®Q|0 *■ .a « s 3 j-SI-S £ jL ä 71 gO, S >-V 1 “f3-1 gcc ■ fl e cfi J’öS.fl' h 0> *2 Ä ü « hj © o) : g 00 £ ja :« - j= 03 " -3 US***. § s 11 g; ho O 0) ® -m i 2 > l-S 3 a s 'S t jä «■g« 3 gji P 4> 0) 'S O >■ B > a=9.f 3 * £& «■§* 5!oi»i •SK O £ H 89 1925: Unsere letzte Aufnahme in Simferopol, kurz vor unserer Ausreise nach Canada. Gerhard und Marg. Reimer mit Ferdinand und Eieanor. Durch diesen Streifen Land hatte man von Perekop (einer Stadt) aus einen Weg aufgebaut in die Krim bis an die Stadt Simferopol und die Hafenstadt Sewastopol. Es wurde dieser Weg auch Perekopscher Weg genannt. Auf diesem Wege wurde die Post in die Krim geliefert, auch Passagiere wurden hier weiter befördert. Pferdekutschen standen dazu bereit und wurden auf den dazu erbauten Stationen gewechselt, das heißt die Pferde und Kutscher. Als die Bahnlinie etwa um 1880 erbaut wurde, baute man eine Brücke über den Siewasch, und zwar mehr nach dem Osten, beim Eingang in die Krim. Auch eine Brücke für die Wagen wurde hergestellt; ich bin auch zweimal hinübergefahren. Mit dem Zuge bin ich oft gefahren. So wurde der alte Postweg nicht mehr als solcher gebraucht, doch war er noch da, als wir da noch wohnten. Weiter in der Krim fand man große Flächen steiniges Land, meistens mit einer dünnen Erdschichte bedeckt. Dieses Gestein ist muschelartig und es gab viele Steingruben, wo es zu großen Steinen zum Bau der Häuser zersägt wurde. Die ganze Krim ist sozusagen von solchen Steinen aufgebaut. Als Schülergruppe besuchten wir einmal eine Steingruft. Das war wirklich interessant. Tiefe Gänge waren in der Gruft und das Gestein war von verschiedener Farbe. Die zerschlagenen Muscheln wurden in der Krim gebraucht, wie bei uns hier der Kies (Gravel). Auf den Bahnhöfen und unter den Schienen, auf den Stegen und sonstwo, wurden diese zer¬ schlagenen kleinen Muscheln geschüttet. Ihre Verwendung war praktisch und reinlich. Als Kinder haben wir oft nach den kleinen ganzen Muscheln gesucht und daraus für uns eine Perlenschnur gemacht. Wenn man im Frühling durch die Krim fuhr, bot sich dem Auge ein unvergeßliches Bild. Das flache Land war wie übersät mit 90 wilden Blumen, wie ich es bis heute anderswo noch nicht gesehen habe: Lilien, Veilchen, rote und gelbe Tulpen und viele andere Blumen, blühten tausenfach auf kurzen Stengeln. Das war wirklich eine Pracht. Dann hatte man sich auf diesem Erdteil so ganz anders angesiedelt. Die Krim, so klein sie auch aussieht, hätte eine lange Geschichte zu schreiben, und zwar eine blutige. Man hat um sie gestritten, um dieses paradiesisch-schöne Stückchen Erde zu besitzen. (Darüber ist manches geschrieben worden und ich möchte auch nicht weiter darauf eingehen). Die Türken haben hier mehrere 100 Jahre geherrscht, und die Namen, die sie den Ortschaften gegeben haben, galten auch meistens zu unserer Zeit. Es wohnten auch viele Tataren in der Krim, und die meisten waren nach meiner Meinung nicht reich. Doch gab es auch türkische Edelmänner, die große Ländereien besaßen. Auf diesem Lande pachteten sich weniger Bemittelte Land oder arbeiteten für einen Teil der Einnahme. Möchte nun etwas wiedergeben, was mein Onkel Johann in seinem Tagebuch von der Ansiedlung in der Krim geschrieben hat. Er schreibt: “Mein Vater und ich waren in die Krim gefahren und hatten in Spat unsere Geschäfte gemacht und Land gekauft. Dann fuhren wir weiter auf die Steppe, sieben Werst von Spat. Da war ein Tatarendorf, und mein Vater kaufte hier zwei Tatarenhäuser und einen Stall. In eines der Häuser zogen wir hinein und in dem andern blieb der Tatar noch wohnen. Die Die Familie Kornelius Bärgs (der Stiefsohn von Jakob Kornelsen). Er und seine Frau Liese (Schwester zu Lehrer Unruh) stammen beide von der Krim. Beide sind in Kitchener begraben. Das Baby ist Frau von Corny Rempel (Marga)., von Kitchener. Eing. M. Reimer. 91 Tataren hatten bei dem Edelmann auf die Garbe gesät; nun war der Edelmann gestorben und die Witwe hatte alles Land verkauft und die Tataren mußten räumen. Die Saatzeit fing auch bald an und als wir sie beendet hatten, fuhren der Vater und ich wieder zurück nach der Molotschna, nach Lichtenau, zu Ostern. Nach Ostern fuhren wir mit der Mutter und den jüngeren Geschwistern, deren waren noch fünf, und mit allen Milchkühen und mit dem ganzen Hausrat wieder zur Eisen¬ bahnstation, verluden alles in die Waggone. Vater und Mutter mit meinen jüngeren Geschwistern fuhren wieder mit dem Passagierzug in die Krim. Ich mit einem gewißen Onkel Boldt blieben wieder im Frachtwaggon bei den Kühen und kamen auch glücklich nach paar Tagen in Spat an. Am anderen Tage zogen wir dann mit allem, was wir hatten, nach Minlertschik in unser Tatarenhäuschen ein. Der Tatar im andern Hause zog auch bald aus, und so wohnten wir dann glücklich in unseren Tatarenhäuschen. Im andern Frühling 1885 bauten wir uns dann ein neues Haus im neuen Dorf, erst ein Nebenhaus und zogen dort herein. Etliche Nachbarn hatten schon vorher gebaut und die andern Bauten folgten später nach.” Auch mein Vater hat erzählt, wie sie von einem türkischen Edelmann Land gekauft hätten und darauf das ganze Buragan angesiedelt haben. Doch von den Tataren, die dort auch auf Pacht wohnten, hätten sie auch zwei Häuser gekauft. Die Tatarenhäuser waren anders gebaut als unsere; sie waren halb in der Erde und lang und schmal gebaut, mit wenigen kleinen Fenstern und die Tür war so niedrig, daß man sich beim Durchgehen bücken mußte. Von außen waren sie mit Lehm beschmiert und sahen ärmlich aus. Leider bin ich nie in einer Tatarenhütte gewesen. Die Dörfer sahen sehr kahl aus, selten war ein Baum zu sehen. Das Gegenteil von den Mennoniten. Ein Zweigweg führte bei ihnen ins Dorf hinein, doch durchfahren konnte man nicht. Die Wege führten immer an ihrem Dorf vorbei. So können wir annehmen, daß reiche Edelleute von der Türkei kamen und hier große Ländereien kauften; ärmere folgten ihnen nach und fristeten hier so ihr Leben auf den Gütern der Reichen. Diese Armen blieben hier wohnen, als die Russen die Krim eroberten, und die sind es auch, die wir zu unserer Zeit kannten. Doch kann ich mich nicht erinnern, das Tataren als Bettler umhergingen. Sie lebten einfach, hatten ihre Schafe und ihr Gemüse. Mit beidem handelten sie auch. In dem ersten Teil des 18. Jahrhunderts kam auch Johann Cornies nach der Krim mit Produkten, um zu handeln. Er sah die großen Steppen und kaufte lOOOde Desjatinen Land und andere folgten ihm, und betrieben hauptsächlich Schafzucht. Bald fand man aus, daß die Krim auch gutes Land hatte und geeignet sei, Getreide zu ziehen. So zogen in den Jahren 1860 und später, viele Mennoniten nach der Krim. Darüber hat H. Goerz so schön berichtet in dem Buche: Die Mennonitische Ansiedlung der Krim. 92 Dietrich Ennsen, die Schwester meines Großvaters. Auch Ansiedler in Buragan. Wänderten in den 1890ger Jahren nach Amerika und schickten dieses Bild von hier. 1877: Gerhard Hueberts, die Schwester meines Großvaters. Auch Ansiedler von Buragan. Wanderten auch in den 1890ger Jahren aus nach Amerika. Es sind dieses die Eltern von Dr. Huebert in Winnipeg. Der war vielen als Artzt zu jener Zeit bekannt. Er starb in den 1930ger Jahren. Doch möchte ich etwas mehr von meinem Heimatdorf Buragan berichten. Die geographische Lage war verschieden—es gab verschiedene Ländereien. Man schaute nach gutem Land und richtete sich demnach ein. So hatte auch Buragan sein besonderes Gepräge. Es war ein schönes Dorf und es waren auch wohlhabende Einwohner darunter. Es hatte zwei Straßen, doch man wohnte nur an einer Seite. Der Dorfsbrunnen war auf dem Ende. Auf einem Ende der Straße war eine holländische Mühle. Das Dorf hatte auch einen Laden und eine schöne Schule, wo auch die Gottesdienste abgehalten wurden. Buragan hat gute Lehrer auch Prediger gehabt. So war die Lage des Dorfes: Lehrer sind gewesen: Johann Fast, später Missionar; Peter Klassen, (war auch Prediger); und Karl Friedrichsen. Jakob Enns und Johann Tjart sind auch Prediger gewesen. Buragan ist 1878 angesiedelt worden. Meine Großeltern Peter Ennses und drei seiner Geschwister waren auch darunter. Sein Bruder Jakob Enns starb dort, seine Frau und die zwei Schwestern meines Großvaters wanderten in den Jahren 1890 nach Amerika aus. Mein Großvater hatte auch auswandem wollen, doch die Großmutter hatte noch Eltern und alle Geschwister dort,—und das Band hielt fest. Im Jahre 1901 kaufte ein Gutsbesitzer, Herr Rapp, von Feodosia, eine Reihe des Dorfes ab, das Land und die Häuser. Die andere Reihe des Dorfes hielt sich noch bis 1904 und dann verkauften auch alle und zogen weg. So war das Dorf als 93 Meine Großeltern Peter Ennsen, etwa zur Zeit der Ansiedlung 1878. “mennonitisches” aufgelöst und es wohnten da seitdem Lutheraner und Katholiken. Ganz in der Nähe von Buragan lag Tabulde. Das war der Zentrumsplatz der Lutheraner. Hier wohnte auch Dokter Haus¬ knecht. Seine Kinder gingen auch in Buragan zur Schule. Als die Mennoniten dort alle ausgezogen waren, zog auch er nach Halbstadt, in der Molotschna. Nach der andern Seite von Buragan lag Schickei oder Schech-Eli. Dies hatten vier Familien gegründet, deren Kinder auch die Buraganer Schule besuchten. Meine Tante hatte sich auch dahin verheiratet, doch alle zogen weg, und Philipp Wiebe, ein Mitbe¬ gründer, kaufte allen ab. Im Jahre 1920 wurde er und sein Sohn auf ihrem Gute umgebracht. Auch Viktor Hausknecht, der älteste Sohn, fand fast zu derselben Zeit, auf dem Wege in derselben 94 In Eupatoria am Schwarzen Meer abgenommen. Von links steht Anna Goossen und vorne sitzt ihr Bruder Peter. Als 2. steht Liese Wall und neben ihr Bruder Jakob. In der Mitte meine Schwester Anna und vorne sitzt Anna Hamm (Nichte von Lehrer Unruh). Hinten steht ein Wiebe, auch Verwandter und ich. Eingesandt, Marg. Reimer. Gegend seinen Tod durch Rotgardisten. Auch ein gewesener Bibelschüler wurde in dem Jahre draußen auf dem Felde erschossen. (Darüber wird in einem andern Teile des Buches berichtet.) Nun noch etwas aus dem Leben in Baragan. Mein Großvater hatte auf dem Hofe eine Werkstube errichtet und das war sein Lieblingsplatz. Großvater liebte schnitzeln, abdrehen und hobeln. Er konnte feine Sachen machen, auch für uns, seine Großkinder. Er hat auch Särge gemacht, wenn es notwendig war. Bezahlt wurde damals dafür nicht genommen; man tat es als ein Teil der Teilnahme. Auf dem Hofe war eine Schrotmühle. Diese wurde von einem Pferde, welches in die Runde gehen mußte, betrieben. Es kamen auf unsem Hof auch oft Fuhrwerke mit Russen und Tataren, die Getreide brachten oder Schrot holten. Dann wunderten wir Kinder uns, wenn es so heiß war und wir barfuß gingen, daß die Tataren-Männer dagegen Filzstiefeln anhatten und eine Pelzmütze auf dem Kopf trugen. Das taten sie durchweg mit der Vermerkung— es sei so kühler im Sommer. Wenn ich an Buragan denke, habe ich manche schöne Erinnerungen. Großvater und unser Vater haben für uns Kinder, drei schöne Schaukeln gemacht. Sie waren alle draußen unter den Bäumen angemacht. Eine war mit einem Sitz und ringsum mit einem kleinen Gitter. Diese war für das kleinste Kind. Dann folgte eine gewöhnliche, wo zwei stehen konnten und zwei sitzen. Doch statt Stricke waren die Händel aus schönem, glattem, poliertem Holz gemacht, und oben und unten am Brett eingefügt. So schaukelte es sich vortrefflich und wir Kinder haben es auch gut 95 ausgenützt. Dann hatten wir eine Rundschaukel, die uns viel Vergnügen machte. Dann erinnere ich mich so deutlich, wie mein Vater uns Kinder um die Abendbrotzeit oft ins Wohnzimmer nahm. Hier holte er seine Violine oder auch Flöte hervor und spielte Lieder, und wir Kinder mußten singen. Wir saßen dann gewöhnlich auf der kleinen, gepolsterten Bank, mit abgedrehten Seitenlehnen, von unserm Großvater gemacht. Damals hatten wir zu dritt Raum. Oder Vater saß mit uns am Tisch und erzählte Geschichten und malte dabei die Figuren dazu. Das ging uns sehr gut und machte viel Spaß. Unser Vater war bis in sein Alter geschickt im Malen. Auch nahm der Vater uns oft auf seinen Geschäftsreisen mit. Wenn wir dann zu Stellen kamen, wo reichlich Blumen blühten, hielt er still und wir hatten die Freude, unsere Händchen mit Blumen zu füllen. Auch ein Blas-Orchester hatte Buragan. Es spielten junge Männer. Auch unser Vater war darunter. Einen Kapellmeister hatten sie von Simferopol. Karassan lag 10 Werst von Buragan entfernt. Es war ein schönes, reiches Dorf. Es hatte eine Mädchen- und Zentralschule, Geschäfte, Aerzte und eine große Kirche. Karassan war die Zentrale der Mennonitengemeinde, während Schöntal die der Brüdergemeinde war. In Spat waren beide Richtungen vertreten. In Karassan wurde 1920 von Aeltesten Herman Rempel die Evan¬ gelische Gemeinde gegründet. In Schöntal hat Aeltester David Duerksen gewohnt und später Dietrich Derksen. Letzterer ist mit seiner Frau in Ontario gestorben. Spat war ein größerer Ort, hatte mehr Geschäfte und große Mühlen. Es war ein Vorteil, daß es an der Bahnlinie lag und anschließend an der Station Sarabus. Von hier ging auch eine Bahnlinie nach Eupatoria über Sakie, wo ein Kurort war und Schlammbäder gegeben wurden. Im Jahre 1918, als die Deutschen die Krim eingenommen hatten, besuchten meine Schwestern, unsere Cousine und ich Spat und Minlertschik. Wir fuhren auch mit Verwandten und Freunden nach Eupatoria. Die Stadt lag am Strande und hatte viele Badegäste. Am Ufer fand sich auch ein Photograph mit einer aufgestellten Leinwand. Auch wir stellten uns davor und nach paar Minuten reichte er mir das fertige Bild. Das war damals noch etwas Neues. Minlertschick lag nicht weit von Spat, und da kann ich nicht Vorbeigehen. Hier hatten sich meine Großeltern Jakob Komelsen angesiedelt. Gleich beim Eintritt ins Dorf merkte man den Wohlstand desselben. Es hatte auch einen allgemeinen großen, tiefen Brunnen und Wasserleitungen waren nach jedem Hofe und Hause eingerichtet. Es war da auch ein nettes Schulhaus, wo Lehrer A. H. Unruh seinen ersten Arbeitsplatz fand. In Minlert¬ schick bin ich oft gewesen und es ging mir da immer sehr gut. Anmerkung: In der Lehrer-Wohnung, zu Minlertschik von 1895-1904 wohnte Lehrer Unruh und seine Mutter. Es kamen auch ihre Kinder, sie besuchen. So lernte mein Onkel Kornelius die Liese, Lehrer Unruhs Schwester kennen, wenn sie zu 96 Besuch kam. Später haben sie geheiratet. Der Liese war dasselbe Los zugefallen wie ihrem Bruder Abraham. Auch sie mußte das Elternhaus, nach ihres Vaters Tode, als 6-7 jähriges Mädchen verlassen. Sie kam zu den wohlhabenden Gutsbe¬ sitzern Martens. Dieses Gut lag mit einer Reihe anderer, an der südlichen Seite der Molotschna und zogen sich fast bis zur Krim. (Gerhard Lohrenz hat von der Entstehung der ver¬ schiedenen Güter in Lose Blätter geschrieben). Lehrer Unruhs Mutter kam nach der Hochzeit seiner Schwester Liese zu ihr und meinem Onkel Kornelius. Hier war sie, als der Erste Weltkrieg, die Revolution und Hungerszeit war. Im Herbst 1922 rief der Herr sie ins himmlische Heim. Sie starb im Hause ihrer Kinder. Lehrer A. H. Unruh konnte der schweren Zeit wegen, nicht auf dem Begräbnisse seiner Mutter sein. Möchte noch etwas von meinem jüngsten Onkel Jakob Kornelsen berichten. Er wohnte mit den Großeltern in Minlertschik. Als ich zur Bibelschule ging, hat er und seine Frau, mir viel Gutes getan. Anno 1929 ging auch er mit Familie nach Moskau. Wurde aber nach dem Norden geschickt und ist dort nach schwerer Arbeit in einem Hospital gestorben. Auch seine Frau und zwei Töchter sind dort gestorben und zwar nach vielen schweren Erfahrungen. Seine älteste Tochter Anna, verheiratet mit einem Jakob Duerksen, kam nach Paraguay und starb in der ersten Zeit. Sie hinterließ ihren Mann und den kleinen Sohn Jakob. Dieser Jakob Duerksen ist vielen bekannt; er ist in Winnipeg im College gewesen und ist dort im Süden, Lehrer und Prediger. Meine Großeltern Jakob Komelsen sind beide in Minlertschik gestorben und begraben. Ehe wir in das Dorf kamen, lag das Gut von Epps. Die Tochter Anny Epp besuchte auch die Bibelschule. An der andern Seite von Minlertschick, etwas weiter, lag das Gut Kitaj. Hier wohnten Peter Janzens, deren Sohn Jakob Janzen auch in der Bibelschule zu Tschongraw gewesen war und auch unter den ersten Graduanten war. Etwas weiter, nach dem Norden, traf man das Pachtdorf Borongar. Das Dorf war auffallend seiner Lage wegen, denn eine Seite lag hoch und die andere Seite niedrig, und hier war auch der Weg. Wir besuchten hier Lehrer Unruhs (die Cousine meines Vaters) nicht A. H. Unruhs. Dfes Schulhaus, wo auch auf einem Ende die Lehrerwohnung war, stand auf der hohen Seite. Das Küchenfenster war mit der Erde gleich und die Hühner konnten durchs Küchenfenster hinein schauen. Alles schien so niedrig und enge. Wir Kinder wurden hinausgeschickt zu spielen. Ich war ungefähr fünf—sechs Jahre alt. Da überkam mich solche Sehnsucht nach Hause oder zu den Großeltern. Meine ältere Schwester war nicht mit und alles wollte mich hier erdrücken. Mit Tränen kam ich zur Mutter und klagte über Zahnschmerzen. Meine Mutter untersuchte mit einem Hirsestengel vom Besen und meinte ich solle mich bei ihr etwas hinsetzen. Das half. Der Zahn tat nicht mehr weh (wenn er überhaubt hatte) und der Tag ging auch zu Ende. 97 Anfangs erwähnte ich einmal, daß man sich in der Krim leicht verirren könne. Da möchte ich nun ein Erlebnis erzählen, wie eine Schwester und ich uns einst verirrten. Es war im Herbst 1920. Wir gingen zur Bibelschule in Tschongraw. Nun wollten Tine Loewen, die von Spat war, und ich dorthin fahren, um manches zu holen. Wir borgten uns bei unserem Wirt, Jakob Wiens einen Wagen mit zwei Pferden. Es war ein Kastenwagen—(Opsautzwoage). Wir wußten so ziemlich den Weg. Bei Bescheran vorbei und so kamen wir nach Spat zu Tines Eltern. Der Vater hatte eine holländische Mühle und wir luden da einen großen Sach Mehl auf und manches andere. Dan andern Tag fuhren wir bis Minlertschick und auch hier wurde manches aufgeladen. Dann kam das außergewöhnliche, nämlich eine Kuh wurde hinten angebunden. Das war so mit meinen Eltern verabredet. Doch nun hatte die Kuh noch ein kleines Kälbchen von etwa einer Woche alt und so kam es ganz hinten im Wagen auch mit. Dann gab man uns den guten Rat, wie wir am sichersten und schnellsten Weg nach Tschongraw kommen könnten. Ueber Kitaj sollten wir fahren und dann über die Bahnlinie. So taten wir es auch. Dann gab es mehrere Wege und wir wußten nicht, welchen Weg wir einschlagen sollten. Doch die Pferde drehten so halb—willig in einen Weg, den wir dann auch fuhren. Das gab mir einen guten Gedanken (so dachte ich wenigstens). Da wir beide nun nicht mehr wußten, wo wir waren und welcher Weg einzuschlagen wäre, besprachen wir uns, wir würden auf jedem Kreuzweg, zu denen wir kämen, die Leine der Pferde schlaff lassen und somit ihnen den Willen geben, einen Weg eizuschlagen. Wir aber wollten beten, der Herr möchte die Pferde richtig lenken. So machten wir es auch. Die Pferde drehten auf jeden Kreuzweg auf einen gewissen Weg und wir fuhren weiter, wenn auch nur langsam, mit einer Kuh hinten am Wagen. Als wir bei einem Tatarendorf vorbei kamen, brach die Dämmerung herein. Wir empfanden, daß es Zeit war, für uns vom Wege zu kommen. Leider wußten wir immer noch nicht, wo wir waren. Dann kam wieder ein Kreuzweg. Die Pferde wollten rechts, doch links sahen wir Lichter und wir bogen den Weg ein. Daß es nicht ein Tataren Dorf sei, erkannten wir an den hellen Lichtern. So kamen wir auf Jakob Janzens Hof. Auf der andern Seite wohnte die Witwe Nik. Wiens mit ihren Kindern. Wir kannten sie alle. Bei Janzens fanden wir sehr freundliche Aufnahme und unser Vieh besorgten sie auch. Am andern Morgen war unser Fuhrwerk fertig vor der Tür und wir brauchten nur einsteigen, um unsere letzten etwa 7 Werst bis Tschongraw zu fahren. Wieder gab man uns guten Rat, wie wir fahren sollten. Leider kam noch einmal ein Kreuzweg. Doch jetzt sagten wir uns: jetzt wissen wir. Die Pferde taten auch wie wir lenkten, obgleich sie Lust zeigten, den andern Weg einzuschlagen. Doch nun hatten wir einen kleinen Umweg gemacht ^während der Weg, den die Pferde gehen wollten, direkt ins Dorf führte. So war es auch am Tage vorher. Hätten wir den Weg rechts genommen, wären wir noch zur Nacht nach Tschongraw gekommen. Ja, wir zwei junge Mädchen hatten zu wenig Umgang mit Pferden gehabt 98 und wußten nicht einmal, das ein Pferd seine Krippe kennt. Der Herr aber hatte seine schützende Hand über uns unschuldige und unwissende Mädchen gehalten. Wir aber waren wirklich verirrt gewesen. Heute staune ich über unsere guten Wirte, die uns die Pferde anvertraut hatten, Das Kalb gab ich dem Wirt, da die Kuh in seinem Stall sein durfte und er sie auch besorgte. Melken und Butter machen taten wir selbst. Schmalhans war nicht unser Küchenmeister, aber der Speisezettel war einfach. Wir waren drei Schwestern in unserem Quartier und hatten unsere eigene Kost. Nun ich bei Tschongraw bin, möchte ich hier etwas stille stehen. Das Dorf war erst 1912 erbaut worden, war schön angelegt und hatte große Wohnungen. Hier hatte der Herr eine Bibelschule entstehen lassen. Es war ein passender Ort dazu in jener Zeit. Wie die Schule entstand, arbeitete und geschlossen wurde, habe ich voriges Jahr in einem Büchlein zusammengefaßt. The Crimea Bible School. Nur soviel möchte ich wiedergeben, was mein Mann über Gründung und Zweck der Schule geschrieben hat: (In dem Buch “Mennonitischen Märtyrer” Band 2.) Es war im Herbst 1918—als die Bibelschule im Dorfe Tschongraw (etwa 30 Meilen von der Kreisstadt Simferopol) in der Krim ins Leben gerufen wurde. Der Gründer war Prediger und Missionar Johann G. Wiens, der seinen Wohnsitz im genannten Dorf hatte. Er kam vom Missionsfelde in Indien, wo nach 6-jähriger Tätigkeit die Tür durch den Ersten Weltkrieg geschlossen wurde, und das war der Moment, wo es dem Herrn gefiel, die Tür für die Bibelschularbeit zu öffnen. Den jungen Leuten in unseren Kreisen, die sich für den Missionsdienst vorbereiten wollten, war die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen, durch den Weltkrieg genommen worden. Um solchen entgegenzukommen, bot das Missionskomitee der MBG. es dem Bruder Johann G. Wiens an, den jungen Leuten, die es wünschten, in dieser Hinsicht Lektionen zu erteilen. Sobald dieses bekanntgegeben war, fingen die Anmeldungen zu kommen, und gleich mit der Bemerkung “zum Eintritt in die Bibelschule”. Anfänglich kamen die Anmeldungen mehr von jungen Brüdern der Gemeinden, die auch eine Empfehlung zwecks Vorbereitung- für den Dienst am Evangelium mit¬ brachten. Dieses war ein klarer Wink dafür, daß der Herr für diese Arbeit die Türen geöffnet hatte. Es wurden auch Schwestern zu diesen Lektionen zugelassen, die am Unterricht teilnehmen wollten, zwecks persönlichen Gebrauchs oder auch zwecks Anleitung in der Bibelarbeit an Kindern und an der Jugend.” Auch ich hatte das Vorrecht, die Bibelschule zu besuchen. Unsere Klasse konnte noch den ganzen Kursus mit einer Jahresfeier beendigen. Im andern Jahr 1924, am 10. März, wurde die Schule für immer geschlossen. Wir haben nur ein Gruppenbild von der Schule, der schweren Jahre wegen war es nicht möglich. Es wurde 99 vor Lehrer Unruhs Abfahrt nach Kanada genommen. Die Schule arbeitete damals schon nicht mehr und die meisten Schüler waren verfahren. Wie wir zu dem Bilde der Schule, die ja in dem Versammlungs¬ hause stattfand, gekommen sind, hat eine andere Geschichte. Wir waren 1925 nach Kanada gekommen, doch blieben wir im Briefverkehr mit unsem Eltern Gerhard Froeses in Tschongraw (sie waren die ersten Schwiegereltern meines Mannes). Im Jahre 1927 schrieben sie uns, daß die Krim ein Erdbeben erschüttert hätte, es seien auch etliche Häuser beschädigt und so auch das schöne Versammlungshaus in Tschongraw. Den Giebel habe man zu¬ sammenschrauben müssen und etliche Risse ausgebessert. Da bat mein Mann von Winkler aus, man möchte doch das Haus zu photographieren versuchen, ehe es zu spät sei. Das hat man dann auch getan. Die Regierung jedoch erlaubte es nicht, das Haus allein abzunehmen, es müßten auch Menschen darauf sein. So stehen auf dem Bilde mehrere Tschongrawer. Von links auf dem Zaun (von Schneckensteinen) Prediger Gerhard Isaak und Vater Froese. Beide kamen im Jahre 1930 über Moskau nach Deutschland. Von hier kam Br. Isaak nach Paraguay, die Eltern Froese nach Kanada. Der kleine Junge sitzt mit seinem Vater Hans Wiens. Auch sie kamen über Moskau, wo der Vater des Jungen in die Hände der Regierung fiel und starb. Der kleine Junge kam mit seiner Mutter auch nach Paraguay und ist der bekannte Hans Wiens, der jetzt in B.C. wohnt. Dann sitzt Mariechen Froese, die heute auch in Winnipeg wohnt. Geschwister Schellenbergs stehen am Zaun gelehnt. Beide haben die Bibelschule besucht und der Bruder war unter den ersten Graduanten. Später sind sie in den Norden geschickt worden. Die andern drei sind auch Einwohner des Dorfes. (Die Bäume sind später abgekoppt, zu unserer Zeit war das nicht.) Nun wohnt niemand mehr von unsem Lieben in Tschongraw, doch das Bild der Schule und Versammlungshauses, das uns als Erinnerung bleibt, ist uns wunderbar erhalten. Ja, die ganze Krim bleibt uns eine schöne Erinnerung. Dort gründeten meine beiden Großeltern eine schöne Heimat. Dort haben meine Eltern sich kennengelernt und hatten in Minlertschick Hochzeit. Buragan war meine Heimat, und hier habe ich und meine fünf Geschwister das Licht der Welt erblickt. In Tschongraw durfte ich die Bibelschule besuchen und hier lernte ich auch meinen Mann kennen, meinen gewesenen Lehrer Reimer. Wir haben dort noch etliche Jahre Freuden und Leiden geteilt und sind dann nach Kanada ausgewandert. Die alte Heimat ist nicht mehr, und wir brauchen sie auch nicht mehr. Der Herr hat uns in einen ruhigen Hafen geführt. Viel Gutes könnte man von hier mitteilen. Doch haben wir dort Freuden erlebt und auch Leid tragen müssen, so ist hier auch beides vertreten. So viele Freuden, die eine große Ursache zur Dankbar¬ keit sind, und so viele Leiden, die wir nicht allein zu tragen vermögen. Es gibt auch Tränen des Abscheidens. 101 Doch wir suchen eine bessere Stadt, nicht mit Händen gemacht. Und wir, die wir uns noch von der Krim erinnern können, sind nicht zu ferne von unsere letzten Heimat. Dort ist das Sehnen gestillt. Jetzt haben wir noch Zeit, an unser reiches Leben auf zwei Kontinenten nachzudenken und dem Herrn zu danken. Doch: “Lasset uns auf sehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens” (Hebr. 12, 2). * * * Aus einem Brief von Schwester Wiens (Helene Kanke] an Margaret Reimer, Kingsville, Ontario Dies ist eine Kopie des Briefes von meiner Freundin aus Sibirien, Lena Kanke (Voth-Wiens). Mit ihr war ich zwei Jahre in einem Zimmer, als wir in Tschongraw die Bibelschule besuchten. Zudem stammte auch sie von Buragan und ihre Eltern waren die zweiten Nachbarn von meinen Eltern. Dies ist ein Auszug ihres Briefes, den ich im Jahre 1958 erhielt. Nach etlichen Jahren starb sie. Doch diese Zeilen zeigen die Erfahrungen einer Witwe aus dem Norden. Geschwister Voth haben sich in Tschongraw kennengelernt. Beide besuchten die Bibelschule. Als die Schule geschlossen war, hatten sie im September 1924 Hochzeit. Im andern Jahre gingen sie nach dem Norden Sibiriens und arbeiteten unter den Ostjaken (einem Stamm). Nach etwa zwei Jahren wurde es ihnen verboten und er arbeitete in einer Stadt Sibiriens als Photograph. Dann mußten sie auch den Platz räumen. Nun folgt weiter der Brief: . . .Heinrich Voth (ihr Mann starb im Jahre 1933 an Typhus, bei Isilj-Kulj, Omsker Gebiet. Wir wurden von Pjatigorsk, wo Heinrich als Photograph arbeitete, zurückgeschickt, von wo wir gekommen waren. Heinrichs letzte Worte waren: “Gerne würde ich noch bei euch bleiben, doch es ist besser für euch, wenn ich nicht bin. Doch was werdet ihr ohne mich machen? Geh zu meinen Verwandten, zu unserm Volk,” fügte er noch hinzu. Ich wurde auch krank und lag fünf Wochen in Isilj-Kulj im Krankenhaus. Meine drei Kinder hatte man zu seinen Ver¬ wandten gebracht. Kätchen, die älteste, 6 Jahre alt, hatte man als Kinder-Mädchen abgegeben. Als ich aus dem Krankenhaus kam, fühlte ich mich so allein unter unserm Volk, die alle Angst hatten, eine Witwe mit drei kleinen Kindern aufzu¬ nehmen. Zudem war ich noch stimmlos, d.h. auf Arbeit konnte ich nicht eingerichtet werden. Als ich Sonntag zur Kirche ging, weinte ich alle meine Tränen, die in mir waren, aus, stand auf und ging hinaus. Als ich an dem Sonntag nach Hause kam, riefen meine Kinder: “Mama, wir haben von 102 Akazien-Schoten die Körner ausgemacht, koche uns bitte eine Bohnensuppe davon, es wird sehr gut schmecken.” Tränen hatte ich alle in der Versammlung gelassen, an dem Ort, wo auch mein Mann einst auf der Kanzel stand, und ich so, durch seine Reden erquickt wurde. Dieses war im Jahre 1934, wo ich zum letzten Mal in der Versammlung war und wo ich meine letzten Tränen der Verzagtheit ließ. Wir aßen unsere Akaziensuppe, verdiente mit Spinnen, Kartoffeln, kochte einen Grapen voll für die Kinder auf drei Tage, und fuhr nach dem Ort, wo wir gewohnt hatten und wo man uns das Stimmrecht genommen hatte. Dort reichte ich eine Bitte ein und wurde wieder berechtigt, dank der guten Zeugnisse, die mir unsere gewesenen Arbeiter gaben. Doch wurde mir vorgelegt, in dem Kollektiv anzutreten, wo wir früher wohnten. Ich holte meine Kinder, bekam ein kleines Stübchen. In unserem gewesenen Hause war jetzt die Kanzelei und Kinder¬ krippe. So fing mein Leben von vorne, von neuem an. Die Parole meines Lebens war: “Where There is a will, There is a way.” Diese Parole stärkte meinen Willen und bahnte mir den Weg. Ich wurde als erste Köchin im Kollektiv angestellt. Zuerst war es mir schwer, oft fragte ich Frauen: Was tut man alles in den Borscht hinein beim Kochen u.s.w. Meine Parole hier unter dem einfachen Arbeiter-Volk, gab mir Kraft. Hier unter dem einfachen Volke, neben denen, die einst bei uns gearbeitet hatten, stärkte sich mein Wille und gab mir Kraft zur Ernährung meiner Familie, mit eigenen Händen. Und ich war stolz darauf. Man übergab mir die Liquidierung der “Gramotneja” das meint—die Analphabeten. So saß ich an den Abenden und unterrichtete meistens Männer—im Schreiben, Lesen und Rechnen. Es machte mich glücklich, wenn die schon nicht jungen Männer, jetzt lesen, schreiben und rechnen konnten. Es regte sich in mir der Wunsch, eine wirkliche Lehrerin zu sein. Ich schrieb nach Moskau um Aufnahme in die Fernkurse “Ausländischer Sprachen”. Ich machte die erforderliche Kontroll-Arbeit auf welche man mir berichtete, ich könne gleich für den 1. und 2. Kursus, Examen abgeben. So bekam ich eine “Swidjeteljstwo” (eine Bescheinigung) für den zweiten Kursus “Institut deutscher Sprachen. "Da zog ich 1936 nach der Stadt Omsk, wo man mich als Lehrerin einrichtete, mit der Bedingung, mein Studium fortzusetzen und den dritten und vierten Kursus zu beendigen. Im Jahre 1938 ging ich eine “Atestazija” durch, bestand sie und bekam die Anerkennung voller Hochschulbildung. Besonderes Lob bekam ich in Metho¬ dik und Pädagogik und somit das volle Recht, in Mittelschulen zu arbeiten. Mein Verdienst stieg bis 1800 Rubel. Ich konnte nun auch meinen Kindern Bildung geben. Sie haben hier in Omsk das Pädagogische Institut beendet. Die älteste Tochter 103 arbeitet schon etliche Jahre in demselben Institut als Lehrerin in der englischen und deutschn Sprache. Die andere arbeitet bei Moskau. So, meine Lieben, habt ihr einen Blick in mein äußeres und inneres Leben. Von 1936 lebe ich ausschließlich unter dem russischen Volke, das in einfacher Weise sein Brot brach. Man fühlte unter denen, die auch einmal nichts waren, die Nächstenliebe. Als Lehrerin arbeitete ich bis 1952. Habe viele liebe Schüler gehabt, die mich als Lehrer und Klassenführer— achteten und bis heute noch lieben. Durfte auch bei Haus¬ besuchen, gute Ratschläge geben. Jetzt ruhe ich aus. Be¬ komme Pension. Mein zweiter Mann ist ein Neffe von Lehrer Wiens, der Sohn des Aeltesten Jak. Wiens. Ich wollte Dir, meine Liebe, nur ein Zettelchen und ein Bild zur Erinnerung senden, doch es ist ein großer Brief geworden. Die Gedanken gehen und immer wieder kommen frische hinzu. Es ist mir schon als ob ich mit Dir spreche. Ach Grete, versteht ihr mich? Nein, nein, es kann nicht sein! Ihr lebt in einer ganz andern Welt. Ach, warum schreibe ich Dir denn dieses alles!—Alles muß ja selbst erfahren werden, um, verstehen zu können, dessen bin ich überzeugt. Nun schreibe mir bitte, wie ihr meinen Brief verstanden habt. Gewöhnlich höre ich euch zu per Radio, wie man die alten Lieder singt, singe auch mit. Die Ansprachen in englischer Sprache höre ich auch, welches mir Freude macht. Ich spreche mit der Tochter oft englisch, um nicht zu vergessen. Auch singen wir oft das Lied: “oh it is wonderful! Very, very wonderful, All his love and grace to me.” Und so klar sehe ich unsern Dirigenten—Lehrer Reimer—vor mir. Unsere Bassisten—Abrams und Voth, und andere. Wo sind nur alle unsere Lieben? Liebe sehr Musik, daher erquicke ich mich an den schönen Gesängen per Radio, aus allen Ländern gesungen in verschiedenen Sprachen. Und erinnere mich an unsere früheren Chöre. Auch habe ich einen guten Mann, der um mich ist. Euch alle noch einmal sehen, das gibts schon nicht mehr. Daher schickt mir bitte eure Bilder. Nun zum Schluß, seid herzlich gegrüßt von mir, Helene Wiens Eingesandt von Margaret Reimer. 104 SjfrtJtiväJJA Tschongraw Chor. Eingesandt Johann Janzen. 105 Lehrer Cornelius Wall und Frau, Lehrer in der Dorfschule zu Tschongraw, später im College, Winnipeg. Eing. Johann Janzen. m Johann Janzen, Kiptschak, Krim. Eing. Johann Janzen. Gerhard und Anna Froese, Diakone, auch Schulkomiteemitglied und Kassierer in Tschongraw. Später auch Diakon in Winnipeg, Südende. 106 4> - 3 bcj* es o h !-5 — .2 OJ IzBS .§£ |fi ■ ** ” f E 6 a I §5 a£3 I 2 fe cc * g fc O s b . seja “ C £ J «= 5 « ä _ t> £ © c ^3 ö T > -© 2 »; ° b S -o «? | cj « E « -o öc .1 e c 0 ) c §1 J§* 5,-g » iS O g H^iiJ ® ^ ,fl 8*5 J2 2 * M - w ^3 ^ 3 *8 _-S ä flhm !* q> ^6 +t 0> ^ T3 “Ö ® ttJ 13 2 jq 5 .E c iS *5 • • J£ c ® * SO S ._ s <81 - s b s 3 § § = >03 'S B K S < N = ja 6C w o E 2 3 " ” £ > g £ s a 5 •§ ■§ = g 2 «(S ä 'S ■§ « x ^ sfl .5 ® b u v O) v 11 £ S 5 $ c x * -*j G ® ‘C ® ec b|3o 1s | 3== §3*4 § | ä | J B (S 9 ® ^ C , W ^3 "" S -O m B ■«’S B CO CZ3 „ b o c b 5 T 3 fl fl »3 a* B -*j O *p" y fl *X3 4> fl fl „® i- «l!ji :§ £ *, ® “ -K3 bc ® "8 ^ *E § S fl n ® fl H g E* fl .0 D O r 3 ^ - <8 m £ > fc < S-§S ® s-g ».§^2 11315 ff a a ^ b a S S 3 o 5 s fl * a 5 M ^ E ® 2? « £ « »- 5 43 a ja s a O •- O m v o H > c/3 ^ S Cß J Mädchenschule in Karassan, Krim, 1915; Lehrerinnen, links Frl. Maria Wilmsen, rechts Frl. Maria Janzen. Eing. Maria Dyck. Beim Mähen Die Gegend um Minlertschik hatte reiches Land. Ich erinnere mich, die Bauern erzählen zu hören, daß die Minlertschiker zu den reichsten Bauern in der Krim gehörten. Das mag wohl stimmen; ich will es nicht bestreiten; wie könnte ich das je tun, da ich doch ein Minlertschiker bin. Schon bei Spat, das nur 7 Werst von uns entfernt lag, war der Acker nicht so ertragreich. Die Minlertschiker sagten, daß die Spater so dünn Butter auflegten, daß man immer durch die Butter die Farbe des Brotes erkennen konnte (arme Spater); die Spater wieder waren so neidisch auf die Minlertschiker, daß sie ihnen nachredeten, daß sich bei diesen die Butter auf dem Brote unter der Nase zusammenschob, so legten die Minlertschiker Butter auf. Eines weiß ich, es war eine Lust mit der Mähmaschine in die wogenden Aehrenfelder zu fahren. Der Schnitt war “kurz und bündig”, die Garben goldig und schwer. Die meisten Bauern hatten die gewöhnlichen 6 Fuß Selbstbinder. Aber in den Hungerjahren konnten sich einige Bauern auch die zwölf Fuß-Binder anlegen. Diese wurden auch von sechs Pferden gezogen oder besser gesagt, geschoben. Das Schneide- und Bindewerk lag vorne, das Ganze wurde von hinten von einer kleinen Plattform aus bedient, die mit dem Selbstbinder durch lange, dicke Röhre verbunden war. Der hintere Teil hatte ein kleines Rad, das von der Plattform aus von einem Steuermann bedient wurde, um beim Wenden auf den Enden des Feldes die richtige Manöver zu machen. Mit Fußpedalen wurde von hier der Selbstbinder vorne bedient. Ich durfte unserem Nachbarn, Johann Dueck, bei der Mäharbeit die Pferde lenken helfen, denn auf dem Ende mußte eine Pferdegruppe die ganze Maschine herumwenden. Es war wirklich ein wunderbares Erleben, wenn die Felder so allmählich zusammenschmolzen, indem der Zwölffußer große Schwaden hinwegnahm und die Garben eine nach der anderen herausgeworfen wurden. Ich kann es keinem Bauern verdenken, daß er sich stolz und behaglich fühlte, bestimmt nicht weniger als heute bei dem modernsten Ernteverfahren. Aber dieses behagliche Gefühl konnte bestimmt auch zur Selbstsicherheit führen. Ob man auch zu selbstsicher geworden war? Die folgenden Jahre haben uns manches gelehrt. Ich fühlte mich fast wie ein kleiner Pilot auf der Maschine. Der Strohgeruch, gemischt mit dem Dufte mancher Blumen und Kräuter, ist unvergeßlich. Eines Tages fragte ich den Bauern, wie er zu zolcher Maschine gekommen wäre, wo er sie gekauft habe. Onkel Johann erzählte mir, daß er die Maschine eigentlich nicht gekauft, sondern eingetauscht habe. In den Hungerjahren, die wir soeben hinter uns hatten, und deren ich mich noch schmerzhaft erinnern konnte, habe er diese Teure Maschine von einem Manne eingehandelt, der mit seiner Familie am Verhungern war. Ein oder zwei Sack Weizen und einige Pfund Butter und Speck hatten den Trick gemacht. “Der Mann hatte etwas zu essen und ich besitze nun die langersehnte Mähmaschine.” Dieser Handel hat mich oft im Leben tief beschäftigt. Ob solcher Handel auch anders von Gott beurteilt werden könnte, als wir Dinge abwerten? Gott weiß, er weiß auch, warum manche Dinge kommen mußten, wie sie kamen. Zum Mittagessen hielten wir dann auf dem Ende des Feldes, wo der lange Trogwagen stand, an dem die fetten Pferde gefüttert wurden. Im Schatten des Wagens standen Behälter mit Wasser, welches kühl und frisch war, indem man feuchte Lappen oder Säcke um die Behälter gewickelt hatte. Nun kamen auch die Garbensetzer (Kopitzensteller), meistens Frauen und Kinder, darunter auch Dienstmägde zur Raststelle. Ueber den letzten Hügel sah man schon die Droschke oder die Drogge kommen, mit dem Mittag¬ essen. Heute: Pflaumenmuß, Kartoffeln und Schinkenfleisch, gekochte Eier, Kaffee und Butterbrot. Zu Vesper gab es dann wieder Kaffee und irgend einen “Platz” oder Zwieback, Streusel¬ kuchen, Pfeffernüsse und dergleichen. Erntezeit, eine schöne Zeit Ja, die Krim war uns zur Heimat geworden. Martin Durksen Gedenken an die Krim Wo die goldnen Weizenfelder wogten leis im Sommerwind, Wo gespielt du und gelacht und geweint als Kind. Jugendzeit und Jugendträume im lieben trauten Elternhaus. Hufe klappern, frohes Muhen, wenn die Herde kam nach Haus. Sommerzeit, die Zeit der Ernte, Garben binden, schwerer Tag, 109 Und es füllten sich die Scheunen mit der goldnen Saat. Erntedank- und Schlachtentage, Rüsten für die Winterzeit, Feierabend, froh erklangen Lieder über Steppen weit. Russenknechte, Russenmädchen zogen heim zur Heimat wieder, Und sie sangen wunderschöne, heimwehschwere Lieder. Winter, schneebedeckt das weite Land; Oefen heizen schon am Morgen, Hausarbeit und Handarbeiten, Schlittschuh laufen, Vieh versorgen. Männer machten Schmiedearbeit, die Maschinen reparieren; Kam der Frühling erst ins Land, dürft’ man keine Zeit verlieren. Jahre kamen, Jahre gingen, Krim die Weizenkammer wurd’ genannt, Und der Wohlstand sehr sich mehrte ringsumher im Land. Doch dann kam das große Elend—Horden plünderten im Land— Kaiserreich wurd’ abgeschafft, ganze Dörfer abgebrannt. Ueber fruchtbar schwarze Erde, wurden Menschen nun getrieben Zur Verbannung in Sibirien—Wo? Ach wo sind sie geblieben— Heimat—über deine verwüsteten Steppen weht ein kalter Wind, Und an vielen Massengräbern weint ein einsam Kind. Viele Dörfer sind verschwunden, ab und zu ein Baum noch steht, Seine morschen, alten Aeste flüstern leise ein Gebet. Wo einst endlos Weizen grünte, liegen Gräber unbekannt: Deine fruchtbar schwarze Erde wurd’ mit Blut getränkt, Tausende von Schmerzenstränen sind auf dir geweint: In Verbannung und in Not, Tausende von all den Lieben— Andre flüchteten zur Grenze, alles war zurück geblieben. Fort, nur fort, keiner wollt’ nun mehr zurück, Das Leben zu retten war schon Glück. Gott der Herr hat Gnad’ gegeben und er rettete viel Leben. Ihm zu loben, ihm zu folgen sei auch ferner das Bestreben. In Brasiliens Urwald-Wälder weit von Rußland fort, Häuschen klein, mit Stroh gedeckt, ward der Zufluchtsort, Keine Steppe: dunkler Wald wurd’ zur Heimat nun, Und so mancher müde Wandrer darf in dieser Erde ruhn. Heimat heißt nicht Krim, heißt nicht Brasilien, Heimat ist bei Gott im Licht: Reichtum, Armut, Glück und Leiden soll uns von ihm scheiden nicht: Wenn wir auch warum oft fragen, hier so vieles nicht verstehn, Mit Gottes Hilfe wollen wir’s wagen, denn er wird alles recht versehn. “Gedenken an die Krim” ist aus Erzählungen meiner Eltern zusammengesetzt, welche im November 1929 über Moskau aus der Krim auswanderten. Elisabeth Toews Curitiba—Parana, Brasilien Aschhügel “Mohillen” und Kurgane Obzwar die Krim als Halbinsel, von allen Seiten von Wasser umgeben, gab es nur wenige Flüsse. Die Dörfer waren meistens so 110 angelegt, daß sie auf der freien Steppe waren, ausgenommen Spat und einige andere Dörfer, die am Salgierfluß oder anderen Flüßchen lagen. Die Altkolonier waren berühmt als Schwimmer und Taucher, da sie am oder in der Nähe des Dnjeper wohnten. Diese pflegten von den Krimem zu sagen, daß diese auf den “Asch-Mohillen” schwammen. Ich frage einige ältere Brüder und sie berichten etwas folgend über die Aschhügel und Kurgane. Die Aschhügel waren überall zu sehen und oft hatten Bauern dieselben auf ihrem Landbesitz. Es waren wohl Stellen, wo die früheren Einwohner all die Reste und die Asche aufhäuften. Diese Stellen dienten auch den Tieren, wie Hunden und Esel als Desinfektionsmittel, indem sie sich in der Asche wälzten und so die Läuse und Zecken bekämpften. Bruder Johann Klassen erzählt mir, daß sie solche Asch-Mohill nicht weit von ihrem Hause hatten. Wenn sie etwas herumwühlten und gruben, fanden sie allerlei Reste von Töpferwaren, Tonpfeifen zum Rauchen und auch Geldmünzen. Als die Bahnlinie bis Spat kam, wurden verschiedene dieser Hügel niveliert und da hat man sehr viele Sachen gesammelt, die von der Kultur und Lebensweise der früheren Bewohner der Krim zeugten. Viel wertvolles Material ist damals jedenfalls verlorengegangen, das man in einem Museum hätte sammeln können. Dann gab es die Kurgane, größere Hügel, die nach Angabe von Geschichtsforschern und Archeologen als Grabstätten von Prinzen und Adeligen vergangener Zeiten gedeutet werden. Diese Hügel konnte man irgendwo auf der Steppe sehen; sie erhoben sich ziemlich hoch über dem Boden. Sie waren nach demselben System der Pyramiden aufgebaut. Sie standen in einer Reihe vom Sonnenuntergang zum Sonnenaufgang, berichtet mir Bruder Klassen (Bill) aus Ontario, und hier wurden die Adeligen begraben. Je nach der Würde und nach dem Rang, war die Höhe der Hügel. In denselben sollen die Fürsten mit allem Waffenschmuck und oft mit ihren Frauen, begraben worden sein. Man nimmt an, daß manche dieser Kurgane noch aus der Zeit der Skythen, einem Reitervolke des Altertums, herrühren. Bruder Klassen berichtet weiter, daß ihr Hof in Spat ein Friedhof gewesen sein müßte, denn überall fand man Skelette, die mit dem Angesicht nach oben und nach Sonnaufgang gerichtet, lagen. Er berichtet auch von einem Besuche in den Bergen, wo man in Höhlen ganze Haufen von Schädel finden konnte und Reste von Menschen¬ knochen, jedenfalls von Tatarenstämmen, die hier mit ihren Fürsten und Adeligen lebten. Bestimmt gibt es heute in Rußland mehr Geschichtsmaterial über diese Dinge, als es früher gab. Etliche Erinnerungen aus der Krim von David und Maria Thiessen Meines Vaters Eltern zogen in die Krim, als ihre 4 Kinder noch 111 klein waren, und wollten da wohnen und Schafe ziehen. Doch als Vater 7 Jahre alt war, wurde er eine Waise und kam zu seinem Vormund nach Ohrloff, Molotschna. Da erhielt er seine Dorfschul¬ bildung und später entschloß er sich für den Lehrerberuf, studierte daraufhin in Berdjansk und machte seine Examen und wurde Lehrer in Buragan, wo sein Vetter, Johann Fast, Lehrer gewesen war und sich entschlossen hatte, weiter zu studieren und als Missionar nach Java zu gehen. Vater verheiratete sich dann mit Anna Warkentin, Ohrloff, und es ging ihnen sehr gut in Buragan im Lehreramt. Das Dorf war nicht groß, aber die Leute liebten sich da alle und wir ältesten 5 Kinder sind da geboren. Die Eltern hatten so viele Bilder (Photos) von den Leuten da mit ihren Kindern. Doch ungefähr im Jahre 1897 wurde da alles verkauft und Vater wurde Lehrer in Tilentschie. Es ging ihnen da auch sehr gut, doch kamen Leute von Spat und mieteten ihn für ihre Schule. Vater war ein froher Mann, aber gehorchen mußten wir. Im Winter war ja immer Unterricht, aber im Sommer, dann liebte Vater Reisen zu machen auf verschiedenste Art und Weise; in der Krim war ja dazu auch die beste Gelegenheit. Er hat sie bereist per "Pedes”, per Auto, Wagen und Rad, aber als wir erst großgenug waren, bin ich 4 Mal mit Vater an der Südküste gewesen. Ach, ging das aber gut, und wo sind wir nicht überall gewesen: In Bachschiezsaraj, Jalta, Aluschta, Alupka, auf dem höchsten Berg Tschaterdach, in Sewastopol, von Jalta mit dem Schiff. Vater kannte ja alles so gut, und wenn jemand mal müde war, dann ging er froh mit ihm hinten nach. Wie schön war es in Jalta, wenn die Weintrauben reif waren, so gute Trauben gibt es hier nicht. Wir waren im kaiserlichen Schloß, haben in Schulen und Klöstern geschlafen; manchmal auch unter freiem Himmel. Vater machte ein Feuer, und wir standen rundherum und hatten unsere Morgenandacht. Anno 23 machten wir unsere letzte Reise, das war schon nach dem Krieg. Da besuchten wir auch des Fielaxera- kommando an der Südküste. Die Männer mußten dann nach Schädlingen an den Wurzeln der Weintrauben suchen. Und in Jalta war es so warm, daß auch Feigen draußen wuchsen. Und die Bergwiesen, was waren da für Blumen, die man bei uns nicht fand! Es war eine Lust, da zu wandern. Und wieviel haben wir beim Wandern gesungen! Ach, es war eine Lust, mit Vater zu wandern. In Sewastopol zeigte er uns den Hafen und den Kirchhof. Es war alles so interessant. Ich wundere mich gamicht, daß der Kaiser da jeden Sommer hinfuhr. Da wir nahe an der Bahn wohnten, sahen wir jeden Sommer seine 2 Züge bei uns vorbeifahren. Die Bahnlinie wurde ja schon etliche Wochen vorher stark bewacht. Als der Kaiser das letzte Mal bei Sarabus war, kam die ganze Familie heraus und es wurde ihnen ein Blumenstrauß überreicht. Sie waren alle da, die ganze kaiserliche Familie. Wenn wir solche Reisen gemacht hatten, nahmen wir zurück den Zug und obzwar müde, waren wir doch froh, daß alles so gut gegangen hatte. Wir sind hier in Kanada weit gereist, aber die Südküste der Krim war wunderbar. Ja, die Krim war unsere Heimat! 112 Ein Traum, der in Erfüllung ging Abram Siemens, Chicago, früher Krim, 6. Oktober 1924 Es war im Januar 1915, als ich mich zu einer Mobilisation in der Stadt Takmak einfinden mußte. Hier hatte ich gleich in der ersten Nacht einen bedeutungsvollen Traum. Mir war’s, als säße ich am Tische im elterlichen Hause, und lese in der Bibel, während meine Angehörigen um mich her versammelt waren und mir zuhörten. Der Abschnitt, den ich las, war eines sehr traurigen und ernsten Inhaltes, so daß ich innerlich ganz bewegt wurde und zu weinen anfing. Je weiter ich las, desto mehr wurde ich ergriffen, und unter Schluchzen sprach ich, bei einem Verse innehaltend: “Wie schrecklich ist das!” Da erwachte ich und richtete mich auf, um über den eigenartigen Traum nachzudenken. Ich war noch ganz erregt, und mein Herz bebte in mir ob des Gedankens, daß der Herr vielleicht zu mir geredet habe. Doch was war es nur, das ich soeben glesen hatte, und was stimmte mich so traurig? Könnte ich doch nur den eben verlesenen Text ermitteln, dachte ich bei mir selbst. Doch da fiel mir auf einmal ein, daß, wenn dieser Traum vom Herrn sei, er mir auch den betreffenden Text angeben werde, und sofort sprach ich meinen Wunsch aus: “Herr, nenne mir doch die Bibelstelle!” “Jeremia 9:19,20”, sagte eine Stimme zu mir, so klar und so deutlich, daß ich von dem tiefsten Bewußtsein durch¬ drungen wurde: “Es ist der Herr!” Gern hätte ich das betreffende Wort Heiliger Schrift gleich nachgeschlagen und gelesen, da ich aber nur ein russisches Neues Testament bei mir hatte, konnte dieses nicht gleich geschehen. Ich prägte mir nun die gegebene Schriftstelle erst gründlich ein und ging dann zur Ruhe, denn es war Mitternacht. Als ich nach Hause kam, las ich den Text und die damit in Verbindung stehenden Verse in der Bibel nach. Sie waren mir ganz fremd, da ich sie nie zuvor gelesen hatte. Ich erzählte den Traum meinen Verwandten und einigen Freunden, aber die Bedeutung desselben blieb mir noch einige Jahre verborgen. Doch die Jahre flohen, die Verhältnisse veränderten sich, und des Herrn Wort, Jer. 9:19,20,21, trat in Kraft! “Der Tod ist zu unsem Fenstern hereingefallen,” das heißt, unverhofft und unerwartet schnell hereingebrochen, “und in unsere Paläste, und in unsere prunkvolle Gebäude gekommen, die Kinder zu würgen auf der Gasse und die Jünglinge auf der Straße.” In verschiedenster Weise hat der Tod unter unserem Mennonitenvolke in Rußland seine Ernte gehalten: in dieses so sichere Haus brach er ein durch Mörderhand, in einem anderen holte er seine Opfer durch epidemische Krank¬ heiten und noch auf anderen Stellen forderte er seinen Tribut durch das schreckliche Hungergespenst, so daß in der Tat “die Leichname lagen wie der Mist auf dem Felde und wie Garben hinter dem Schnitter, die niemand sammelte,” wie es in Vers 21 heißt. Vers 18: 113 “Ach wie sind wir so gar verstört und zu Schanden geworden! Wir müssen das Land räumen; denn sie haben unsre Wohnungen geschleift,” findet volle Anwendung in unserer tragischen Ge¬ schichte. Somit ist das Wort, welches Gott seiner Zeit wider Israel redete, auch in besonderer Weise an unserem Mennonitenvolke in Rußland buchstäblich in Erfüllung gegangen. Ohne Zweifel hat Gott dabei keine andere Absicht verfolgt, als uns von dem irdischen Sinne loszumachen und uns für den Himmel zu erziehen. Möchten wir uns alle beugen unter die gewaltige Hand Gottes, auf daß er uns erhöhe zu seiner Zeit (1. Petri 5:6) Dieser Bericht ist dem Buche: “Hungersnot in Rußland” entnommen. Eingesandt von P.H.K. Die Mennoniten und ihre Nachbarn Wir alle wissen, was Zusammenleben mit anderen Menschen bedeutet. Schon ein Leben unter den natürlichsten Verhältnissen bringt seine Schwierigkeiten mit sich. Besonders wichtig ist dieser Faktor, wenn man einen neuen Lebensabschnitt beginnt oder in eine neue Heimat zieht, die einem noch nicht unbedingt zur Heimat geworden ist. Wenn Migrationen stattfinden, wird dieses Gebiet oft zu einem problematischen Gebiet. Die mennonitischen Siedlungen in der Krim lagen ziemlich zerstreut unter den verschiedenen Volksgruppen. Unter solchen Umständen waren die Nachbarn von größter Bedeutung, da, wie schon gesagt, die Mennoniten in der Krim nicht in geschlossenen Kolonien ansiedelten. Man kam hier mehr in Berührung mit der Nachbarschaft als in anderen Kolonien Rußlands. Die Stammbevölkerung der Krim bildeten die Tataren, aber es gab auch viele Russen und Deutsche, und unter den letzten verschiedener Konfessionen. Die Tataren waren ein mehr ruhiges, fast zur Trägheit geneigtes Volk. Sie wohnten in kleineren Dörfern. In den größeren Ortschaften gab es auch Moscheen (Moham¬ medanische Gotteshäuser). Die Tataren waren meistens ärmlich, begnügten sich mit wenigem, trieben nicht gerne Landwirtschaft, sondern beschäftigten sich mehr mit Viehzucht und Weinbau, außerdem fuhrwerkten sie gerne. Die Tataren waren durchweg ein ehrliches Volk, selten würden sie sich etwas zuschulden kommen lassen. Es gab unter ihnen auch adelige Familien, die Mursahs oder Mursaken, die ein größeres Ansehen genossen als die gewöhnlichen Tataren; sie waren meistens auch besser ab in wirtschaftlicher Hinsicht. Ich glaube, daß alle krimer Mennoniten darin übereinstimmen, daß das Verhältnis zu diesen Menschen durchweg gut war, besonders auch in den Revolutionsjahren. Anders dürfte es wohl in anderen Siedlungen, wie im Terek, mit den Mohammedanern gewesen sein. In der Krim gab es auch viele deutsche Dörfer, man nannte sie 114 Kolonisten. Warum, weiß ich nicht, denn auch die Mennoniten koloniesierten, d.h. sie siedelten an. Die größere Teil gehörte zur evangelisch-lutherischen Konfession, aber es gab auch deutsch¬ katholische Dörfer. Die meisten der deutschen Kolonien befanden sich im südöstlichen Teile der Krim. Sie waren durchweg wohl¬ habend. Ihre wichtigsten kirchlichen und kulturellen Zentren waren Neusatz und Zürichtal, schon näher an den Gebirgen gelegen. Man will aber doch meinen, daß die mennonitischen Dörfer immer noch herausstachen, besonders wegen der schönen Gärten und vielleicht auch des mehr einheitlichen Baustils wegen. Die anderen deutschen Kolonien wiesen weniger Bäume und Gärten auf, die Tataren- und Russendörfer waren meistens ziemlich kahl. Ich kann mich dessen noch gut erinnern, wie mein Vater oft in die verschiedenen Dörfer fuhr, vielleicht Leute besuchend oder auch geschäftlich. Das waren für mich immer besondere Gelegenheiten, das Leben der anderen zu beobachten. Als Arbeiter auf den Wirtschaften in der Erntezeit und auch als Dienstpersonal durch den Winter, wurden aber hauptsächlich russische Leute angestellt, die in vielen Fällen von Perekop und Poltawa kamen. Immer wieder liest man, daß die Mennoniten den anderen gegenüber ein gutes Beispiel gewesen sind, besonders ein Vorbild in der guten Wirtschaftsführung. Wir wollen das auch ruhig stehen lassen. Und doch ist wohl bei vielen Mennoniten die Frage aufgestiegen, ob wir unser Teil ganz getan haben. Es wäre vielleicht schwer gewesen, anders zu handeln. Die Zeit war eben anders. Es gab damals noch kein MCC und Wirtschaftsprojekte als Hilfe für ärmere Leute. Hier steigen in mir einige Fragen auf; die uns vielleicht doch zum Nachdenken anleiten. War es genug, ein Beispiel in guter Wirtschaftsführung zu sein? Gab es keine Möglichkeit, praktisch die Russen und Tataren unter die Arme zu fassen, vielleicht im Schulsystem, in Wirtschaftsfragen? Wenn unsere Jugend sich zu Jugendstunden und Chorübstunden versammelte, wäre kein Weg gewesen, auch die Knechte und Mägde im Dorfe irgend wie anzuleiten, vielleicht im Schreiben und Lesen, in Abendschulen und anderen Veranstaltungen? Waren die Wohn- und Ernährungs- Verhältnisse immer gut für die Angestellten? Vielleicht ist auch mehr getan worden, als man im allgemeinen weiß. Br. J. J. Unger berichtet, daß er beide, mennonitische Kinder, und russische Kinder unterrichtete. Ich weiß auch, daß mein Bruder Peter sich mit den russischen Arbeitern abmühte, um ihnen das Schreiben und Lesen beizubringen, und so wird es wohl mancher getan haben. Aber größere Anstrengungen gab es jedenfalls nicht. 115 Aus: “Geschichten vom Peet und seinen Kameraden” von J. P. Klassen. 1. Auf dem Baschtan bei Djed Prokopp “Pr-r-r!” rief der Vater und zog die Leinen an. Nach einigen Schritten hielten die Braunen auf dem Baschtan neben der Wächterbude. “Guten Morgen, Djed (Großvater) Prokopp! Sind die Karasu- basarki (frühreife Arbusen, Wassermelonen) schon reif?” grüßte der Vater den uralten Baschtanwächter, der auf seine noch ältere Schrotflinte gestützt vor seiner Wächterbude stand. “Ein Dutzend Arbusen und acht Melonen habe ich heute früh gepflückt. Da liegen sie. Die sind reif und sie sind’s, wenn ich es sage! — Als wir in 1854-55 Sewastopol verteidigten,—ich war ja vom Anfang bis zum Ende mit dabei! (Hier zwinkerte er mit seinen kleinen wässerigen Augen Peet zu und wies auf zwei Medaillen, die er Tag und Nacht auf seiner Brust trug.) Also, als wir Sewastopol verteidigten, wollte seine Excellenz, der Graf von Totleben einmal Arbusen haben. Freiwillige wurden aufgefordert, sich zu melden, seiner Excellenz die Arbusen zu besorgen. Sie sollten sich durch die Linie der Belagerer schleichen und die Arbusen von dem Baschtan der Belagerer unter ihrer Nase für den Grafen stehlen. Wir meldeten uns unserer sechs. Und alle sechs Mann wurden auch geschickt. Drei kamen nur zurück!—Drei wurden entweder gefangen genommen oder gar erschoßen, denn uns flogen die Kugeln um die Ohren, wie dem Imker die Bienen. Und denken Sie sich, Wirt,—nur Meine, (meine betonte er so sehr, daß es mit einem großen M geschrieben werden muß) nur Meine Arbusen waren reif! Die Arbusen, die die anderen gebracht hatten, waren alle grün! Dafür, daß ich dem Feinde vier reife Arbusen unter der Nase wegstahl und sie dem General Totleben brachte, hat seine Excellenz mir eigenhändig diese Medaillen an die Brust geheftet, ja, eigenhändig! — Fünfzehn Jahre bin ich schon Baschtanwächter gewesen und wenn ich eine Arbuse abpflücke und sage “sie ist reif”, dann ist sie reif, Wirt!—Diese Arbusen sind reif! Darauf kannst du dich verlassen!” “Das weiß ich, Djed Prokopp,” lachte der Vater. Schau ob du noch einige reife finden kannst! Der Peet kann sie hier Zusammen¬ tragen. Ich fahre noch nach dem großen Kagelfeld. Wenn ich zurückkomme, nehme ich sie mit nach Hause. In der Woche werden wir kaum herkommen können.” Djed Prokopp pflückte noch ein Dutzend Arbusen und sechs Melonen, die Peet neben die Wächterbude trug. Dann setzten sich die beiden in die kühle Bude und Djed Prokopp zerschnitt mit seinem gewaltigen Klappmesser, das schon die Verteidigung Sewastopols mit durchgemacht hatte, eine schöne Arbuse in 116 Scheiben, welche Peet eine nach der anderen auf-und ausputzte, während er aufmerksam zuhörte, was der alte Soldat ihm von der Verteidigung Sewastopols erzählte. . . . Viel zu schnell für Peet, kamen seine Eltern zurück. Dem alten Soldaten konnte er stundenland zuhören, ohne zu ermüden, wenn der von seinen Kriegserlebnissen und Abenteuern erzählte. War der doch fünfundzwanzig Jahre lang Soldat gewesen und hatte es bis zum ältesten Unteroffizier gebracht; ein Rang, der Peet Respekt einflößte! Auf dem Heimwege mußte Peet wieder die Pferde lenken und hatte keine Zeit zum Nachdenken, denn der Szokoll machte immer wieder Versuche, den Kopf zwischen die Beine zu kriegen und durchzubrennen. . . . Zur Kirche mußte Peet dann auch noch gehen, aber die Predigt klang nur an sein Ohr, drang nicht ins Herz. Im Sinn und im Herzen bewegte er nur die Abenteuer des Djed Prokopp, der bei der Verteidigung Sewastopols mit dabei gewesen war und so wunder¬ voll darüber erzählen konnte. Ja, der war ein Kerl, ein wahrer Held!—Wie die Franzmänner die achte Redoute hatten einnehmen wollen, und wie Djed Prokopp mit nur zwölf Mann den Sturm abgeschlagen und noch zwanzig Franzosen gefangen genommen hatte! ... Ja, das war was! Nicht eben nur gerade so;—dazu gehörten Mut, Tapferkeit und vieles andere mehr! So wollte Peet auch werden: das nahm er sich in der Kirche vor. . . . Und als der Prediger “Amen” sagte, war Peet ganz verdutzt, sich in der Kirche zu befinden und nicht auf der achten Redoute in Sewastopol!—Der Peet war mit seinen Gedanken und dem Sinn oft ganz wo anders als wo er hätte sein sollen; er ließ seine Gedanken wandern. . . . 2. Peet fährt mit nach Simferopol Am Freitag dieser Woche wollten Peets Eltern nach Simferopol, der Hauptstadt der Krim, fahren, ihre Sommereinkäufe zu machen. Am Frühstückstische sagte der Vater zu Peet, daß er mitfahren dürfe, da eine Schleppharke für ihn auszusuchen. War der Peet überrascht und froh! Er konnte und wollte nicht ’nmal mehr essen, nachdem sein Vater es ihm mitgeteilt hatte. Er wollte sofort vom Tische eilen um nachzusehen, wie viel Geld er noch sein eigen nannte, aber die Mutter bestand darauf, daß er sich ganz satt esse. Um sieben Uhr morgens ging’s los. Peet saß wieder, wie am Sonntage, auf dem Kutschbock und lenkte die Pferde, aber der Vater hielt die Ende der Leinen fest in der Hand; dem Szokoll war nicht zu trauen! In flottem Trabe eilten die Braunen der zwanzig Werst entfernten Stadt zu. In zwei Stunden war sie erreicht. Aber was gab es da auf dieser zwanzig Werst langen Strecke nicht alles zu sehen! Zuerst ging’s durch das große Russendorf S-ka. Da gab’s auf jedem Hofe zu sehen, was für Peet ganz neu war. Und auf dem Hofe 117 des reichen Bauern Szosnitzki die drei ungeheuer hohen Fichten! Bald hinter dem Dorfe führte der Weg ganz nahe an der wunderschön gelegenen Wassermühle vorbei. Halb versteckt lag sie unter den großen Bäumen. Das Wasser rauschte schäumend über das große Rad. ... In den Bäumen bei der Mühle und dem hinter dem Mühlgraben liegenden Obstgarten sang ein vieltausend stimmiger Vogelchor, daß es nur so klang! Dann ging der Weg ganz nahe an der wankenden und sich neigenden Mauer der himmelhohen Pyramidenpappeln entlang, wohl einige Werst. Und hinter der Mauer musizierte wieder ohne aufhören ein zahlloser Vogelchor. So dicht war die Mauer der Pappelbäume, daß man nur eben unten zwischen den Stämmen einen Blick in den Garten werfen und einen der gefiederten Sänger erblicken konnte. Dann kam die in einem parkähnlichen Garten gelegene russische Kirche von Bulgarskij-Sarabus. Jedesmal wenn Peet da vorbei fuhr, wünschte er sich, in dem Garten wohnen zu können; ganz nahe der Kirche. Er liebte das Läuten der Kirchenglocken so sehr, und die mennonitischen Kirchen hatten alle keine Glocken. Als sie jetzt gerade gegenüber der Kirche waren, fing das Glockenspiel an. Peet ließ die Pferde im Schritt gehen, um besser und länger hören und sehen zu können. “Was gibt’s Peet? Warum so langsam?” fragte der Vater. “Ich möchte das Glockenspiel besser und länger hören; ich liebe es so sehr!—Warum haben die Mennoniten keine Glocken auf ihren Kirchen und auch keine Türme?” fragte Peet. Aber weder sein Vater noch seine Mutter konnten ihm darüber Aufklärung geben. Als das Glockenspiel aufhörte, gab Peet den Braunen die Zügel und lustig trabten sie auf der Chaussee (gepflasterter Hochweg) die sie jetzt erreicht hatten, hin. Jetzt gab’s des Interessanten schon so viel, daß Peet es fast nicht geraten konnte, alles wahrzunehmen. . . . Da die Berge, die Ausläufer der Traurischen Gebirge; dort der mit vier Pferden bespannte Omnibus; hier überholte sie eine mit drei schneeweißen Pferden bespannte Kutsche (Trojka). Das Pferd in der Mitte ging zwischen zwei Deichseln und hatte über seinem Kopfe einen hölzernen Bügel, Bogen, an dem eine große Glocke hing. Es trabte so schnell, daß die beiden Beispänner in gestrecktem Galopp rennen mußten. In der Kutsche saß ein hoher Offizier. Sechs Kavalleristen in glänzenden Uniformen begleiteten die Kutsche. Und da, keine hundert Schritte ab weidete ein bulgarischer Hirte seine Schafherde. Vor der Herde gingen neben dem Hirten einige Ziegen, hinter der Herde kamen einige schwer bepackte Esel, während mehrer Hunde die Herde umkreisten. Und was war das?!—Auf einem Fahrrade fuhren zwei Jungens seines Alters! Das Rad hatte zwei Sattel! Nein,—sowas! Ach, wenn ich doch auch einmal auf solchem Zweisitzerrade auf den mit weißem Sande bestreuten Wegen in solchem wunderschönen Park fahren dürfte! Und jetzt ging’s über die große Steinbrücke über den Fluß Salgir, bald darauf über die zweite Brücke und nun lag die Stadt in 118 einem von Bergen umgebenen Kessel vor ihren Augen! Peet konnte sich nicht satt sehen. . . . Ja, früher, als man noch mit Pferden und in der offenen Droschke fuhr, bekam man beim Fahren auch noch was zu sehen! Heute jedoch in den “streamlined”, in den von allen Seiten und von oben verschlossenen Marterkasten, die man Automobil nennt, hat der Reisende gar keine oder doch nur sehr wenig Gelegenheit, die Schönheit der Gotteswelt und der Natur zu beobachten und zu genießen. Mit sechzig oder mehr Meilen Geschwindigkeit in der Stunde flitzen die Massenmörder von einer Küste Kanadas zur anderen, und fragt man dann solchen Reisenden, der in einer Woche Tausende von Meilen gerast ist, was er denn alles auf der langen Fahrt gesehen hat, dann weiß der von der langen Reise nicht mehr zu erzählen, als der Peet von seiner zwanzig Werst kurzen Fahrt nach der nächsten Stadt! — Einst und jetzt! — Und jetzt fuhren sie über die Bahnkreuzung in die Stadt hinein. . . . Dem Szokoll gefiel es in der Stadt aber mal gar nicht. So wild gebärdete er sich, daß der Vater sich auf den Kutschbock setzen mußte, um die Kontrolle über ihn nicht zu verlieren. Er schnaubte, riß in den Leinen, sprang hin und her und scheute vor jedem und allem! Als sein Getue dem Vater schließlich doch zu bunt wurde, riß er ihm einige Schnitte mit der Peitsche in die Flanken. Von dann an wußte er, daß er sich nicht so dumm haben durfte und folgte gehorsam der lenkenden Hand. Als sie erst mehrere Häuserviertel entlang der Salgirstraße gefahren waren, bog der Vater in einen Hoftorbogen und fuhr in den Kijewer Auffahrtshof. (So ein Hoftorbogen ist ein langer, breiter und hoher gewölbter Gang, der von der Straße aus durch mehrstöckige Häuser in einen Hof oder auch auf eine andere Straße führt.) Während der Vater und der Hofknecht, ein waschechter Zigeuner und ausgezeichneter Hufschmied, der, wenn es erforder¬ lich war, den Pferden neue Hufeisen untemagelte, die Pferde ausspannte und in den von einer Seite ganz offenen Stall führte, löste Peet das Heunetz von den Hinterfedem der Droschke und legte den Pferden Heu vor. Dann nahmen Vater, Mutter und Peet ihre Ueberzieher und gingen in das Kaffeehaus des Auffahrtshofes (Postajal), wo sie alle ihre Sachen teils auf ein Sofa, teils unter dasselbe legten. — Hier sehe ich nun im Geiste, daß viele meiner Leser, besonders die jüngeren, die Land und Leute, Sitten und Gebräuche in Rußland nicht kennen, in Kanada aber schon in Cafe’s und Restaurants gewesen sind, etwas ungläubig mit dem Kopfe schütteln . . . Ein Sofa im Cafe!? Alle Sachen ins Cafe tragen!? Hier fackelt der Onkel Peter! Nun, meine lieben Jungens und Mädel, unter einem türkischen Kaffeehaus eines Auffahrtshofes der halb orientalischen Stadt Simferopol dürft ihr euch nicht im entferntesten etwas Aehnliches wie etwa ein Cafe in Kanada vorstellen. Ich will versuchen, euch das Kaffeehaus zu beschreiben. Der 119 Raum war 21 Fuß breit und etwa dreimal so lang. Von der Mitte des Torbogens aus führte eine Tür vom Ende in den Raum, der nach dem Hofe hin sechs große Fenster hatte. Entlang der beiden Seitenwände und auch zu beiden Seiten der Eingangstür standen große, hochlehnige, weichgepolsterte und mit rotem Stoff über¬ zogene Sofas, immer eins am anderen. Gegenüber jedem Sofa stand ein kleiner Teetisch; um die drei Seiten jeden Tisches je ein Stuhl. Am anderen Ende des Raumes zog sich quer über seine ganze Breite der Schanktisch, auf dem drei oder mehr gewaltige, immer kochende und dampfende Samoware (Teemaschinen), die wohl jeder drei Eimer Wasser faßten, standen. Da standen auch die vielen Teegläser, Untertassen, die kleinen Teekessel und die winzig kleinen Kaffeetässchen. Hinter dem Schanktische, in der Mitte an der Wand, war von Backsteinen (Ziegel) der große Kaffeeherd aufgebaut, ähnlich wie hier ein sehr großer Kamin (fire place). Gerade über der Feuerstelle stand ein großer kupferner Kessel, unter dem beständig ein Holzkohlenfeuer glimmte und das Kaffeewasser in dem Kessel immer am Siedepunkt erhielt. Da waltete der Kaffeemeister seines Amtes, auf das er gewöhnlich sehr stolz war. Verlangte ein Gast Kaffee, nahm der Kaffeemeister ein kleines kupfernes Kännchen, das einen etwa 14 Zoll langen stielähnlichen Griff hatte, und schüttete zwei oder mehr Teelöffel voll Kaffee hinein. Dann ließ er durch einen Hahn aus dem Wasserkessel nur ganz wenig siedendes Wasser auf den Kaffee im Kännchen laufen und stellte es dann auf das glimmende Holzkohlenfeuer. Es bedurfte nur Sekunden, dann kochte und wallte der Kaffee in dem Kännchen. Nun wurde er in eine winzig kleine, bereitstehende Kaffeetasse gegossen und kochend serviert. —Ob euch solcher Kaffee schmecken würde?! Der war so schwarz wie Teer und fast so dick wie Syrup und so bitter wie? . . . Doch kenne ich kein besseres Erwärmungsmittel, wenn man verklammt und so richtig durchge“hubert” ist, oder als Belebungs¬ mittel, wenn man übermüdet und zu Tode erschöpft ist. Rechts von der Tür saß auf einem Sofa, mit untergeschlagenen Beinen, die Füße auf dem Sofa, gewöhnlich der Besitzer des Hofes und des Kaffeehauses, der Türke Osman Mustafa Oglu und seine Freunde. Sie spielten in den Regel entweder Domino oder ein verzwicktes Würfel- und Steine-Setzspiel, hinter dessen Geheim¬ nisse Peet trotz eifrigen Lernens und Forschens niemals gekommen ist. Die türkischen Freunde, wie auch Mostafa Oglu, waren reiche Leute und faulenzten da auf den Sofas von früh bis in die Nacht hinein und rauchten ohne aufzuhören die Nergile (Türkische Wasserpfeife). Jedoch Osman, wie ich ihn der Kürze wegen nenne, bemerkte jeden eintretenden Gast und begrüßte ihn mit orientalischer Würde, mit einer gemessenen Handbewegung bezeichnend, welches Sofa der Gast mit seinen Sachen belegen möge. Und da waren die Sachen so sicher wie im eigenen Hause, denn Osman hatte immer nur ein Auge bei seinem Spiel, das andere paßte auf seine Gäste 120 und deren Sachen auf. Ließen die Gäste ihre Sachen und Einkäufe auf ihren Fuhrwerken im Hofe, wurden diese oft gestohlen. Darum wurde auf und unter die Sofas in solchem Kaffeehause so viel gepackt, daß es mehr einem in Unordnung geratenen Warenhaus oder einem Altkleider-Handel ähnlicher sah, als einem Cafe in Kanada. Auch an vielen der Teetische wurde Domino gespielt, Tee oder Kaffee getrunken und so viel geraucht, daß die Luft in dem Raume gewöhnlich so voll Tabakrauch und Qualm war, daß man kaum von einem Ende des Raumes zum anderen sehen konnte. Und ein Lärm! Wie hier beim Fußballspiel, denn da wurden auch viele Geschäfte abgeschlossen und dabei ging’s in Rußland nie still zu. Und doch war es für Peet (und andere deutsche Jungen und Mädel seines Alters und seiner Zeit) immer ein großes und freudiges Ereignis, wenn er da stundenlang sitzen und auf seine Eltern warten konnte und mußte, wenn die ihre Einkäufe machten oder Geschäfte abschlossen. Die Zeit wurde ihm da nie lang; auch später nicht, als er schon älter und gar ein Mann wurde, denn da gab’s immer so viel zu sehen und zu beobachten! . . . Da waren Russen, Türken, Kaukasier, Tataren, Juden, Griechen, Deutsche, Rumänen und Armenier und Dutzende andere Völker vertreten. Alle redeten, lachten, schrien, handelten und machten Geschäfte, wobei die Hände fast mehr redeten als der Mund, weil einer des anderen Sprache nur schlecht verstand. Und wenn der Peet sich dann noch einen großen Kringel, warm aus dem Ofen, in der Bäckerei kaufen und ihn mit einem Glase Tee verspeisen durfte, da war für ihn bis dazu die Grenze der Wünsche von einer Stadtfahrt wohl so ziemlich erreicht gewesen.— Anspruchsvoll, nicht? Als Peet die Leinen, Zäume und Peitsche tragend, hinter seinen Eltern in den Raum trat, begrüßte Osman seinen Vater mit einem klatschenden Handschlag und sagte auch seiner Mutter einige freundliche Worte, ohne sich zu erheben oder auch nur die Füße vom Sofa zu nehmen. Dem Peet bot er das Mundstück seiner Wasserpfeife an. Peet solle nur mal einen einzigen Zug tun, dann würde er mit einemale, auf einen Schlag, s-o-o-o-o- groß! werden. Und Peet, der den alten Türken Osman Mustafa Oglu schon so lange kannte, wie er zurück denken konnte und nie um eine Antwort verlegen war, stieß dem Türken mit dem Peitschenkstiel auf seinen großen und dicken Bauch und sagte: “Und s-o-oo-oo dick!” “Schäme dich, Peet!” schalt seine Mutter. Dem dicken Türken aber, der sehr stolz auf seinen großen Bauch war, gefiel die Antwort so gut, daß er lachend seinem Teemeister befahl, dem Peet später, wenn er es bestellen würde, ein Glas Tee mit “drei” (das meinte drei große Stücke Zucker) umsonst zu servieren. “Bedanke dich dafür!” flüsterte Peets Mutter, und Peet bedankte sich in einer Weise, die ihm den freundlichen Türken zu seinem stets hilfsbereiten Freunde machte. Peet sagte: “Herr Osman Mustafa Oglu, wenn Sie 121 mir auch noch den zum Tee gehörenden Kringel umsonst servieren lassen, sage ich Ihnen ein “Bolschoe Spassiebo!” (Großen Dank). Der Türke und seine Freunde lachten über diese Antwort und den bedingten Dank, daß ihre dicken Bäuche schaukelten und waberten, und Peet bekam von jedem eine Kupferkopeke;—fünf Kringel konnte er kaufen! Sein Vater aber wandte sich und sagte seufzend zur Mutter: “Dee Peet, dee Peet! Emma wada geiht sein Temperament met am derch!” Und Peet sah, wie Vater und Mutter sich anschauten und das Lachen nicht ganz unterdrücken konnten; ihre Augen wenig¬ stens lachten! . . . Und dann durfte Peet mitgehen, als sie auf der Salgirstraße, in der die meisten Geschäftshäuser lagen, ihre Einkäufe machten. Nachdem sie in einem Restaurant zu Mittag gegessen hatten, gab der Vater dem Peet fünfzig Kopeken und sagte: “Dafür kannst du dir kaufen, was du willst. Gehe nicht von der Salgirstraße, daß du dich in der Stadt nicht verirrst! In dieser Straße findest du alles, was dich interessieren könnte. Ich und Mutter gehen in die Neustadt zum Arzte und werden einige Stunden wegbleiben. Gib den Pferden den Hafer und tränke sie! Und auf der Straße träume nicht, halt die Augen offen!” Zu finden, was ihn interessierte, brauchte Peet nicht lange zu suchen und nicht weit zu gehen. Ueber alles in der Welt interessierten ihn Bücher, denn aus Büchern konnte man lernen und Wissen schöpfen. Gegenüber dem Auffahrtshofe befand sich in dem Durchfahrtstor ein Buchgeschäft, wo alte und neue Bücher und auch selten gewordene Bücher verkauft wurden. Dahin steuerte Peet jetzt mit seinen neunzig Kopeken in der Tasche und wollte dafür sehr viele, etwa eine halbe Droschke voll neuer und alter Bücher kaufen! . . . Mit so viel Geld konnte man schon was anfangen! Krimer, die Pioniere der Kolonie Fernheim, Chaco, Paraguay, waren I. Gerhard P. Isaak. Am 12. Juli 1869 wurde Gerhard Isaak in Schoenau, Molotschna—Kolonie, Ukraine, geboren. Er wuchs im Dorfe Alexanderkrone auf, bekehrte sich früh zum Herrn und schloß sich der Rückenauer Mennoniten-Brüdergemeinde an. 1894 trat er mit Aganeta Hiebert aus Tiegenhagen in den Ehestand. 1897 zog das junge Paar mit den Schwiegereltern nach dem Gute Steintal, wo ihnen 3 Kinder geboren wurden. 1910 wurde Gerhard Isaak zum Prediger ordiniert. 1912 zog er mit seiner Familie nach der Krim, in das Dorf Tschongraw. Als im Jahre 1918 die Bibelschule von Missionar Johann Wiens und andern begründet wurde, war er Mitglied des Komitees und stand der wirtschaftlichen 122 Seite vor. In jenen Revolutionsjahren war es nicht leicht, das Werk zu führen. 1924 wurde die Bibelschule von der Regierung aufge¬ hoben und die Lehrer wanderten nach Kanada aus. Von 1926-29 war Prediger Gerhard Isaak Leiter der Menno- niten Brüdergemeinde in der Krim, bis er der Gemeinde meldete, daß er die Absicht habe auszuwandern. Nach kurzer Wartezeit in Moskau war es ihm möglich, mit seiner Familie nach Deutschland zu kommen. 1930 kam er und drei Familienmitglieder mit einer Splitter¬ gruppe nach Paraguay. Seine Frau, die krankheitshalber mit Tochter Suse zurückgeblieben war, starb 1931 in Deutschland. Die neugegründete Kolonie Femheim kämpfte um den Aufbau. 1931 wurden die beiden Männer Kornelius Langemann und Gerhard Isaak nach Ostparaguay gesandt, um bessere Siedlungsmöglich¬ keiten zu studieren. Nach der Rückkehr riet er als väterlicher Begleiter den Siedlern im Chaco zu bleiben. “Im September 1931 bewilligte Herr O. O. Miller vom MCC 500 Dollar für den Bau eines Krankenhauses. Mit dem Bau konnte 1932 begonnen werden. Die Verwaltung übernahm ein Kranken¬ hauskomitee: Pred. G. Isaak, G. Schartner und Hebamme Duerksen. Die erste Apotheke wurde in der Kanzlei des Industrie¬ werkes eingerichtet, die Schwester Suse Isaak verwaltete. . . . Als der Chacokrieg ausbrach, war das zweistöckige Krankenhaus unter Dach. Während des ganzen Krieges wurde es dann vom Militär als Lazarett beansprucht. Die Militärärzte: Dr. Bangs, Dr. Almedo und Dr. Morales behandelten in dieser Zeit auch unsere Kranken unentgeltlich. Br. G. Isaak war Hausvater und seine Tochter, Frau Maria Wiens (heute Neufeld), Wirtschafterin . . .” (Jubiläumsschrift der Kolonie Fernheim). In besonderer Weise lagen ihm die Indianer, die in der Kolonie lebten, am Herzen. 1932 wurden die ersten Missionsmöglichkeiten erwogen. In der Nacht vor der KfK Sitzung (Kommission für Kirchliche Angelegenheiten) am 9. Juli trug er in sein Tagebuch seine Gedanken über die Gründe einer zu eröffnenden Mission wie auch Programm ein, das Evangelisation, medizinische Betreuung, Erziehung wie auch Seßhaftmachung der Indianer einschloß. Doch durch den Chacokrieg, der zwei Monate nach der Sitzung, zwischen Paraguay und Bolivien ausbrach, wurden alle gefaßten Pläne der KfK vorläufig zum Stillstand gebracht und konnten erst nach Beendigung des Krieges 1935 wieder aufgenommen werden. 1933 heiratete er die Witwe Maria Legiehn. Von 1934-39 war er Leiter der Mennoniten Brüder-Gemeinde in Femheim. Seine Allianzgesinnung trug viel zum gegenseitigen Verständnis der drei Gemeinderichtungen Fernheims bei. Im Gemeindeblatt “Das Band” heißt es über ihn: “Bruder Isaak war vielen ein Vater in Christo.” Einen Monat vor seinem Heimgang predigte er über Gal. 6, 2. “Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen,” einer Gemeinde, die durch manche inneren Unruhen ging, Nach kurzer Krankheit ging er am 14. November 1945 betend 123 hinüber in die Ewigkeit. Die Beerdigung fand unter sehr großer Teilnahme statt. II. Bernhard J. Wall Am 5. Oktober 1902 wurde dem Ehepaar Johann und Sara Wall der Sohn Bernhard geboren. Bernhard verlebte seine Kind- heitsjahre im Dorfe Ebenfeld auf der Krim. Für sechs Jahre verlegten seine Eltern den Wohnsitz nach Gnadenheim, Molotschna, wo er die Zentralschule besuchen durfte. Ebenfeld, sein Geburtsort, wurde gleichzeitig auch seine geistliche Heimat, wo er in die Nachfolge Jesu Christi trat und in der Evangelisch-Mennonitischen- Bruderschaft getauft und als Mitglied aufgenommen wurde. Am 8. November 1925 heiratete er Lena Wall. 1929 flüchtete er mit seiner Familie über Moskau nach Deutschland und entschloß sich, nach Paraguay auszuwandem. Seine Familie gehörte zu den 67 Familien, die mit der 3. Gruppe am 12. Mai 1930 in Bremerhaven den Dampfer “Sierra Cordoba” bestiegen und am 18. Juni den Ort Trebol, Chaco, erreichten. Die Familie Bernhard Wall siedelte im Dorfe Friedensruh an. In den ersten Jahren war Br. Wall Lehrer im Dorf Kleefeld. Am 19. November 1933 wurde er von seiner Gemeinde als Prediger ordiniert. In der EMB diente er nicht nur als Prediger, sondern auch als Schreiber und zeitweilig als Gehilfsleiter. Treu und hingegeben war er im Dienst der Gemeinde und der Wortver¬ kündigung. Er hatte ein klares Zeugnis. Br. Wall diente auch der Kolonie als Revisor in der Revisions¬ kommission und als Kolonieschulrat und in zwei Wahlperioden als Vorsitzender des Koloniekomitees. In der ersten Wahlperiode, vom 31. März 1944 bis 16. Februar 1949, unterstützte er den Bau der neuen Zentralschule in Filadelfia. “Ein Beweis des wirtschaftlichen Fortschrittes war die neue Cooperative und die neue Baumwollent- kemungsanlage. In dieser Zeit wurden die Flüchtlinge aus Deutsch¬ land in unseren Kolonien (Menno und Femheim) aufgenommen. Bei der Gründung der Nachbarkolonie Neuland hat Herr B. Wall tatkräftig mitgeholfen” (Jubiläumsschrift 1955). In der zweiten Wahlperiode von 1958-1961 wurde das Land der einzelnen Dörfer eingeteilt, so daß jeder Bauer sein Land zugeteilt bekam. In dieser Zeit wurde auch für die Verwaltung der Kolonie eine Verfassung ausgearbeitet, die von der KolonieverSammlung angenommen wurde. In besonderer Weise hat er sich um seinen Sohn Bernhard, der sich als Kind durch einen Pferdeschlag eine Verwundung am Kopfe zuzog, bemüht. Reisen nach Asuncion und Buenos Aires wurden unternommen, doch entscheidende Hilfe konnte nicht gefunden werden. Sein Geist ist als Folge dieser Verwundung umnachtet und schon viele Jahre befindet sich Sohn Bernhard im Sanatorium Hoffnungsheim. Nach 11 Jahren Leiden an Arterienverkalkung rief ihn der Herr über Leben und Tod am 16. Oktober 1975 heim. Auf seinem Grab 124 lag ein Kranz mit der Inschrift: “Aus Dankbarkeit, die Kolonie Femheim” (Mennoblatt No. 22 1975.) III. Heinrich Duerksen Auf dem Gute Emiljanowka in der Nähe der Tereker Ansiedlung im Kaukasus wurde am 18. Mai 1910 Heinrich Duerksen geboren. Wegen Raubüberfällen mußte die Familie Duerksen schon 1918 fliehen. Ihr Ziel war die Krim. Doch wegen der Revolution und Anarchie, die damals in Rußland herrschte, kamen sie nach fast anderthalb Jahren ans Ziel. Doch auch dieses Gut mußte über Nacht verlassen werden, als die Roten in dieses Gebeit eindrangen. Im Dorfe Minlertschick fand die Familie freundliche Aufnahme und blieb in diesem neuen Wohnort bis zur Auswanderung am 28. Oktober 1929, über Moskau nach Kiel, Deutschland. Obzwar alle (in der Familie) gesundheitlich Kandidaten für Kanada waren, entschloß sich die Familie freiwillig für Paraguay. Am 12. Mai 1930 fuhr die Familie Duerksen mit der 3. Gruppe ab nach Südamerika und siedelte im Chaco im Dorfe Schönwiese an. Es war zu Beginn des Chacokrieges Oktober 1932, als der Kanonendonner von Toledo in den westlichen Dörfern der Kolonie Femheim zu hören war, als Heinrich Duerksen mit Frl. Sara Kroeker aus Gnadenheim die Hochzeit feierte. Br. Duerksens Interesse für das Gemeinde- und öffentliche Leben offenbarte sich darin, daß er in der Sonntagsschule arbeitete und für einige Zeit auch der Leiter der Sonntagsschule in der Kolonie Fernheim war. 1938 wurde er von der Mennonitengemeinde zum Prediger gewählt und 1941 ging er als Wirtschafter für drei Jahre in die Missionsarbeit nach Yalve Sanga. 1946 wurde er in den Kolonierat und 1949 zum Vorsitzenden oder Oberschulzen gewählt. Einer der ersten notwendigen Schritte war die Regelung der Löhne der Volksschullehrer. Bis dahin machte jedes Dorf das Jahresgehalt mit seinem Lehrer ab; jetzt wurde das Gehalt von der Kolonieverwaltung bestimmt und von ihr ausgezahlt. Das trug zur Stabilisierung des Schulwesens bei. In der Jubiläumsschrift (1955) heißt es über seine Tätigkeit: “Sein Ziel ist die Stärkung der eigenen Industrie zur Verarbeitung unserer landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Für diesen Zweck wurde in Deutschland eine große Dampfmaschine, Maschinen zur Verarbeitung des Baumwollsamens und eine komplette Oelraffinerie gekauft. Auf Laguna Pora wurde eine Palosantofabrik aufgebaut. Ein wichtiges Anliegen ist ihm auch die Vergrößerung der Anbaufläche in unserer Kolonie und die Verbesserung der Milchwirtschaft durch den Ankauf reinrassiger Zuchtstiere und Milchkühe, und durch den Bau einer neuen Molkerei”. Durch die Vermittlung des MCC gelang es der Verwaltung, einen Kredit bei einzelnen Mennoniten in Ontario und den USA aufzunehmen, der in 13 Jahren planmäßig abgetragen wurde. Auch der Millionenkredit in Form von landwirtschaftlichen Materialien und Maschinen von der US-Regierung für die fünf 125 mennonitischen Kolonien in Paraguay, gab dem Wirtschaftsleben einen starken Auftrieb. Für die Entwicklung der Wirtschaft sind die Wege von größter Bedeutung. 1954 kam Vern Buller von Montana, USA, mit seinen Maschinen und baute einen Hochweg von der Kolonie bis Fred Engen, KM 145, der Endstation der Eisenbahn der Gesellschaft Carlos Casado. Nun konnte der Transport mit Lastkraftwagen durchgeführt werden und die Bauern alle Zeit für ihre Felder verwenden. Die Ausbildung junger Leute in den Landesschulen und im Auslande fällt in Br. Duerksens Amtszeit. Dadurch erhielt die Kolonie ausgebildete Geschäfts- und Buchführer, Lehrer und Aerzte. Es gelang auch, daß die Mittelschule bis zum Abitur vom Erziehungsministerium volle Anerkennung bekam. Das hatte den Vorteil, daß die jungen Leute bis zur Universitätsreife in der Kolonie bleiben konnten. Heute werden bis zum Krankenhaus alle Koloniezweige von eigenen Leuten geführt. Zweimal zu 9 Jahren, von 1949-1958 und 1961-1970, durfte Br. Duerksen geschätzte Dienste der Kolonie Fernheim leisten. Hans Wiens, Vancouver, B.C. P.S. Noch vor der Herausgabe dieses Buches haben wir erfahren, daß Herr Heinrich Duerksen im Januar wieder für einen Termin als Oberschulze der Kolonie Fernheim gewählt worden ist. Liste der Krimer die 1930 in Paraguay Eingewandert sind FAMILIE VOGT — KUTJUKI FRIEDENSFELD Vater: Heinrich H. Vogt geb. 28.11.1881 Pomau—gest. 26.10.1968 in Paraguay, eingewandert in die Krim 1908 Frau: Elisabeth geb. Enns, geb. 26.6.1886 Kutjuki — gest. 28.5.1960 in Paraguay Kinder: 1. Sohn, Heinrich geb. 27.11.1910 Kutjuki Frau Agathe geb. Peters 14.2.1912 Friedensruh Molot. 2. Tochter, Tina Rempel Wwe. geb. 8.3.1909 Kutjuki 3. Nikolai Vogt geb. 17.6.1912 Kutjuki Frau Neta Hildebrand Chort. 4. David Vogt geb. 13.7.1914 Kutjuki Frau Lena Klassen geb. in Sibirien 5. Gerhard geb. 30.8.1916 Kutjuki Frau Lena Dueck geb. 20.3.1916 More, Krim 6. Liese Vogt geb. 29.4.1921 Kutjuki 7. Hans Vogt geb. 26.9.1923 Kutjuki Frau Elsi Neufeld Steinfeld 126 FAMILIE REGIER WIESENFELD Vater: Jakob Regier geb. 21.12.1870 Morgenau, Ukraine eingewandert in die Krim nach Tirekly-Tchichili Frau: Maria Wall geb. 12.12.1878 Sarabaschk, Krim beide in Paraguay gestorben. Kinder 1. Sohn, Jakob geb. 17.2.1900 Frau geb. Doerksen 24.6.1902 2. Abram geb. 14.8.1901 Frau Maria Pettker 9.2.1902 3. Tochter, Maria Löpp 27.1.1904 4. Sohn, Hans geb. 23.1.1911 Titikli Tchichili Fischau Molotschna Titikli-Tchichili Orenburg Alt Tilintschi heute in Friesland Alt Tilintschi heute in Friesland Familie Regier hat in den letzten Jahren in der Krim in Kanilowka gewohnt. FAMILIE GERHARD ISAAK — TSCHONGRAW FILADELFIA Vater: Gerhard Isaak geb. 12.6.1869 Alexanderkrone Frau: Aganete Huebert geb. 26.3.1971 Alexanderkrone eingewandert in die Krim Tschongraw 1912 Beide gestorben. Vater 14.11.1904 in Paraguay Mutter, 26.3.1931 Deutschland Tochter: 1. Suse geb. 29.9.1897 2. Maria Wiens, Neufeld geb. 4.10.1899 Mann, Hans Wiens geb. 1.11.1898 gest. 4.1.1930 FAMILIE ESAU — TOKULSCHAK Vater: Heinrich Esau geb. 24.12.1873 u. gest. Mutter: Elisabeth Janzen 19.2.1881 Kinder: 1. Sohn, Abram geb. 14.1.1909 Frau, Sara Wohlgemuth 11.1.1915 2. Sohn, Johann geb. 4.6.1911 Frau, Lena Klassen 3. Sohn, Peter geb. 12.2.1914 gest. in Paraguay 30.7.1940 Steintal Ukr. Steintal Ukr. Bl-feld Moskau SCHOENBRUNN Krim — Tokultschak Molotschna Tokultschak Kutjuki Tokultschak Steinfeld Ukr. Tokultschak FAMILIE GERHARD WOHLGEMUTH SCHOENTAL Vater: Gerhard Wohlgemuth geb. 27.5.1884 Krim Frau: Lena Penner geb. 2.2.1887 Krim Beide in Paraguay gestorben Kinder: 1. Sohn, Abram Wohlgemuth 127 FAMILIE JOHANN DUERKSEN — MENLERTSCHIK SCHOENWIESE Vater: Johann Duerksen geb. 18.4.1870 Mutter: Kaethe Heinrichs geb. 22.9.1878 eingewandert in die Krim 1919 Beide in Paraguay gestorben. Kinder: 1. Sohn, Jakob geb. 1.1.1901 Frau, Anna Komelsen geb. in gest. in Paraguay 1931 2. Sohn, Heinrich geb. 18.5.1910 Frau, Sara Kroeker geb. 17.11.1912 3. Sohn, Peter geb. 20.7.1912 Frau, Neta Petes gestorben 4. Sohn, Martin geb. 8.5.1919 Großsohn: Jakob Duerksen geb. 7.4.1928 Frau, Gredel Unruh geb. 17.3.1926 Schoensee Schoensee Kaukasus gest. 1950 Minlertschik Krim Terek-Kaukasus Samara Terek-Kaukasus Kalentarowka Menlertschik Molotschna FAMILIE JOHANN WALL — EBENFELD FRIEDENSRUH Vater: Johann Wall geb. 14.9.1865 gest. 1952 Ebenfeld-Krim Frau: Sara Harder geb. 16.3.1872 gest. 1964 Molotschna Kinder: 1. Sohn, Bernhard geb. 1902 gest. 1975 Ebenfeld Frau Lena Wall geb. 1906 Tokultschuk 2. Peter geb. 1906 gest. Canada Ebenfeld Frau, Sara Unruh Schöntal gegenw. Canada 3. Sohn, Heinrich geb. 20.4.1909 Ebenfeld Frau, Lena Fast 4. Tina Dueck, geb. Wall geb. 22.3.1914 Ebenfeld FAMILIE JOHANN DUECK — MORE SCHOENBRUNN Vater: Johann Dueck geb. 16.9.1868 Margenau-Molotschna eingewandert in die Krim 1880 gest. in Paraguay 1930 Frau: Kath. Driediger geb. 19.1.1875 Jalentusch-Krim gest. in Paraguay 18.3.1931 Kinder: 1. Sohn, Abram geb. 1901 Frau, Liese Wiens geb. 2. Sohn, Aron geb. 1903 3. Sohn, Heinrich geb. 1906 4. Sohn, Kornelius Dueck geb. 1908 5. Tochter, Maria Duerksen geb. 1910 6. Sohn, Peter geb. 1912 7. Tochter, Liese Unger geb. 1914 8. Tochter, Lena Vogt geb. 1916 9. Sohn, Gerhard geb. 1900 10. Frau, Justina geb. 1902 More — heute Brasilien Tschongraw More More More More — heute Wwe More More More — gestorben gest. in der Krim heute Frau Wiens 128 FAMILIE KORNELIUS WILLMS — LUSTIGSTAL HOHENAU Vater: Kornelius Willms geb. 10.1.1880 Molotschna nach der Krim ausgewandert 1898 Kutjuki 1929 in Moskau festgenommen und in der Verbannung geblieben. Frau: Eva Wohlgemuth geb. 1.5.1881 Kutjuki gest. Paraguay eingewandert in Paraguay aus der Krim 1931 Kinder: 1. Sohn, Kornelius Frau, Lena Janzen 2. Hans Willms gest. 1975 Heimatlos in der Heimat P. Friesen, St. Catharines, Ontario Wie kann es geschehen, daß ein erwachsener Mensch sich auf einmal in der eigenen Heimat heimatlos fühlt? Dieses haben viele mit uns erlebt und das war unsere Erfahrung in dem Dorfe Beck- Bulatschie. Die Vorgeschichte begann mit dem Zuge und Fieber der Krimerdeutschen nach Moskau zu fahren, um dort die Papiere zur Auswanderung auszuarbeiten. Es war dieses im Herbst 1929, wo nicht nur aus der Krim, sondern aus allen Gebieten Rußlands die Deutschen, besonders die Mennoniten, nach Moskau fuhren, um diese letzte Möglichkeit zu versuchen. Die meisten Mennoniten- dörfer in der Krim wurden fast ganz leer. In unserem Dorfe blieben nur drei bis vier Familien, und das waren Lutheraner. Lange nicht alle kamen bis Moskau, da die Stationsbehörden den Auftrag erhalten hatten, keine Fahrkarten nach Moskau zu verkaufen. Viele waren schon unterwegs aufgehalten worden. Alles wurde an¬ gewandt, um die Leute nicht fahren zu lassen. In den Vorstädten Moskaus wurden die Wohnungsmöglich¬ keiten immer knapper. Die Nachricht hatte sich schnell über ganz Rußland in allen Mennonitenkolonien und Dörfern verbreitet, fast unglaublich. Mein Bruder und ich schätzten uns glücklich, daß wir wenigstens doch noch mit unseren Familien bis Moskau gekommen waren. Vielen der Leser wird ja das Leben in Moskau noch gut bekannt sein. Nach etlichen Wochen des Wartens und Höffens, man hatte sich in Gruppen eingeteilt und die Gruppenleiter arbeiten für die Gruppen bei der Regierung um die Erlaubnis, auswandem zu dürfen, überraschte uns die Polizei des Nachts in unseren Wohnungen und nahm überall die Männer mit. Auf der Straße stand ein großer Lastwagen, auf welchem schon viele unserer Freunde waren. Es wurden noch einige Männer aus den umliegen¬ den Häusern geholt und dann wurden wir in ein großes Klubhaus gesperrt. Am frühen Morgen waren es schon über hundert Mann, 129 die man zusammengebracht hatte. Um die Mittagszeit fing man mit dem Verhör an. Wir wurden einzeln vorgenommen und ausgefragt; man wollte Namen herausbekommen von Personen, die uns aufgefordert hätten nach Moskau zu fahren. In der dritten Nacht wurden wir auf Lastwagen geladen und zum nächsten Dorf gebracht und in leere Viehwaggone gesperrt zu je drei oder vier Mann. Nach etlichen Stunden wurden die Türen geöffnet, und wen sahen wir da draußen stehen? Es waren unsere Familien. Die Polizei hatte auch die auf großen Lastwagen bis hier gebracht. Man hatte die Frauen und Kinder oft mit Gewalt aus dem Häusern geholt und mit den Sachen zusammen auf die Lastwagen geladen. Sollte es nun wirklich doch zurück in das weite Rußland gehen? Ja, es ging dorthin, von wo wir gekommen waren. Wir wollten es zuerst nicht glauben, aber bald merkten wir, daß es südwärts ging. Ueber Kiew ging es bei der Arkadaker Siedlung vorbei, wo die Leute aus Arkadak abgeladen wurden. Die Reise ging nur sehr langsam, aber endlich hielt der Zug auf dem Bahnhof Kurman-Kemeltschie. Ein jeder wurde in sein Heimatdorf gebracht. Nun erst merkten wir und glaubten es, daß wir heimatlos in der Heimat sein sollten, denn unser Ziel war ja das Ausland gewesen. Wir waren jetzt da, wo wir alles verlassen und für immer Abschied genommen hatten. Was sollten wir jetzt anfangen? Wie sollte es weitergehen? Würden wir jetzt heimatlos in der Heimat sein? All unser Hab und Gut war entweder von uns verkauft, verschenkt oder später auch wegge¬ stohlen worden. Unsere Häuser standen leer und verlassen und voller Spinnge¬ webe, denn es waren inzwischen eine Reihe von Wochen vergangen. Wie sollten wir uns heimisch fühlen, wenn im ganzen Hause nicht ein Möbelstück geblieben war. Jetzt konnten wir verstehen, was heimatlos in der Heimat bedeute. Aber Not bricht Eisen und man wurde erfinderisch. Türen wurden ausgehoben und auf Bausteine gelegt, so hatten wir Tische und auch Bettgestelle. Manches andere Möbel, daß in die Nachbardörfer geschleppt worden war, fand man und es wurde zurückgeholt. Die erste Hilfe kam uns aus dem naheliegenden Tatarendorf; es waren Neusiedler aus dem Krimer- Gebirge. Sie waren oft unsere Gäste, in der Ansiedlungszeit und wurden gute Freunde. Gleich am nächsten Tag nach unserer Rückkehr kamen sie mit ihren Fuhrwerken und boten ihre Hilfe an. Gerne nahmen wir ihre Hilfe an und ließen uns in die Nachbardörfer fahren, um nach unseren Pferden und Kühen zu suchen. Man wollte uns unser Vieh nicht gerne zurückgeben, aber die Behörden hatten Order gegeben, daß man alles Gekaufte für denselben Preis wieder zurückgeben sollte, wie sie es von uns erstanden hatten. Manche unserer Sachen und einiges von unserem Vieh und Pferden konnte nicht wieder gefunden werden. Ein oder zwei Kühe konnten die meisten noch finden und sie zurückkaufen. Unser Bargeld ging aber bald zur Neige. Es war uns auch möglich, etwas von dem Weizen und Mehl zurückzukaufen und bald gab die Regierung auch pro Personen etwas Mehl heraus. Hungern brauchte damals keiner; es war noch immer Herbst 1929. Das Wetter blieb fast bis Weih- 130 nachten schön. Unsere Hauptbeschäftigung, als Männer, war Kroketspielen und größere neue Reisekoffer anzufertigen. Die Frauen backten wieder Zwieback und rösteten sie zur Reise, denn die meisten Mennoniten gaben es nicht auf, daß sie noch nach Kanada aus wandern würden. Wir fühlten uns heimatlos im wahrsten Sinne des Wortes. Es kam wohl kaum jemandem der Gedanke oder der rechte Wille, nochmals anzufangen. Von den Sowietbehörden wurden wir nicht schlecht behandelt. Es kamen Polit-Agenten in das Dorf und hielten Versammlungen, wozu wir aber ungeme gingen. Man wollte uns zu guten Sowietbürgern machen. In ganz Rußland fing man mit der Kollektivisierung an und auch wir sollten in Kollektiv¬ wirtschaften zusammengeschlossen werden. Wir waren damals ganz frei und offen auf den Versammlungen und machten es klar, daß wir nicht mehr Sowietbürger wären, hatten wir doch alles aufgegeben. Später, nach drei oder vier Jahren, hätten wir uns solche Freiheit zum Sprechen nicht erlaubt. Zum Winter zogen immer einige Familien in einem Hause zusammen, denn Brennholz für die Oefen war nicht viel, da aber der Winter in der Krim nicht sehr streng noch lang ist, kamen wir gesund und voller Hoffnung bis zum nächsten Frühling durch. Alle Bücher, die man auftreiben konnte, gingen von Hand zu Hand, Lesestoff war knapp. Erst nach dreizehn Jahren konnten einige Rußland verlassen. In dieser Zeit des bitteren Leidens und großer Enttäuschungen, lernten wir vieles, wovon wir früher keine Ahnung gehabt hatten. Die Saatzeit kam heran, die Regierung wollte uns Saatgetreide vor strecken, aber keiner aus dem Dorfe wollte die Arbeit tun und konnte sie auch nicht tun, denn alle unsere Landwirtschaftlichen Geräte, Saatmaschienen und Pflüge und was man sonst zur Feldarbeit gebrauchte, war verschleppt. Bis zum Sommer wurde wirtschaftlich nichts unternommen. Der Weizen wurde reif und damit gab es auch kein Mehl mehr als Mithilfe. Der Hunger-Korb kam immer niedriger, und wenn wir die Ernte nicht selber einbringen würden, konnte es schwer werden. Die Nachbardörfer hatten im Frühjahr mit ihren Traktoren geholfen die Felder zu pflügen und zu bestellen. Alte Mähmaschinen wurden jetzt aufgesucht und so gut wie möglich repariert. Nun ging das Ernten los. Der Winterweizen war gut, den wir noch vor unserer Fahrt nach Moskau eingebracht hatten und dieser Weizen gab eine besonders gute Ernte. Gedroschen wurde nach alter Art mit dem Ausfahrstein. Auch die Gerste, die uns die Nachbarn eingesät hatten, durften wir ernten. So waren wir und das Vieh wieder für den Winter versorgt. Die schwerste Zeit für den nächsten Winter kam aber noch. Wir wurden so mit Steuergeldern belegt, daß wir bald kein Geld mehr hatten und zu verkaufen war auch nichts mehr. Nach Weihnachten machte man uns den konkreten Vor¬ schlag: Entweder ihr gründet ein Kollektiv oder ihr werdet aus dem Dorfe getrieben. Unter diesem Zwang wurde das Kollektiv in Beck- 131 Bulatschie gegründet. Im Januar 1931 wurde dann der Kolchos “Kirow” gegründet. Etwas über das Krimertreffen, das am 27. Juni 1975 in der Springfield Heights Mennoniten- gemeinde — Kirche, 570 Sharon Bay, Winnipeg abgehalten wurde. Es war ein herrlicher Sonntag—Nachmittag, an welchem 130 Personen zusammengekommen waren, um Gott zu danken für den Teil der Geschichte, der mit dem Leben der Mennoniten in der Krim im Zusammenhänge steht. Wir hatten Vertreter aus Ontario und Saskatchewan, auch Gäste und Freunde waren zugegen. Das Organisationskomitee bestand aus folgenden Brüdern: Ben Wall, Johann Klassen, A. A. Unruh, Jakob Janzen, Peter Koop und Martin Durksen als Vorsitzender. (Hier folgt nun das Programm des Tages) Programm 1. Lied: Wie groß ist des Allmächt’gen Güte No 32 2. Eröffnung der Versammlung vom Leiter der Versammlung Pred. Martin Durksen 3. Lied: Großer Gott, wir loben dich No 11 4. Festansprache Pred. A. A. Unruh 5. Lied: Lobe den Herrn o meine Seele No 3 6. Wir gedenken der Toten No 304 7. Psalm 50: 14-15 und Gebete No 391 8. Lied: Ich weiß nicht, warum Gottes Gnad Br. Peter Regehr 9. Opfer (Zur Deckung der Unkosten und für MCC) 10. Lied: Glaube der Väter No 384 11. Thema: Die Entstehung der menn. Ansiedlungen in der Krim 12. Lied: Nur mit Jesu will ich Pilger wandern 13. Einige Kurzberichte: — Das mennonitische Schulwesen in der Krim — Mennonitische Studenten in der Krim — Das Gemeindeleben in der Krim — Die Revolutionsjahre — Auswanderung — Moskau Gemeinsames Essen Etwa 4:30 Ein jeder zahlt für seine Mahlzeit Nach dem Essen freie Unterhaltung Br. John Albrecht setzt einen Chor zusammen Es folgen Zeugnisse und Erinnerungen — Gemeinsamer Gesang 132 Krimertreffen 27. Juni 1975 Wir gedenken! Wenn wir heute mit dankerfülltem Herzen dieses Krimer-Treffen begehen dürfen, sehr möglich das letzte dieser Art hier in Winnipeg, dann soll uns dieses zugleich vor die große Verant¬ wortung stellen, die wir als Menschen der Freiheit haben. Wir sprechen mit dem Psalmisten: “Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat:” Psalm 103,1,2. Als Bevorzugte, als Menschen in der Freiheit, gedenken wir in dieser Stunde in Ehrfurcht derer, die auch hier sein sollten, es aber nie sein werden. Wir gedenken der Vielen 1. Die zu den Verschollenen zählen; 2. Die irgendwo in den Urwäldern des Nordens; 3. In Gefängnissen und Kohlenschachten; 4. Am Wegesrand und auf der Flucht; 5. Oder in Bombenangriffen ihr Leben gelassen haben. Keine Inschrift, kein Grabstein wird uns jemals ihren Ruheort verraten, keine Blumen haben je ihre Gräber geschmückt Ihr habt kein Grab. Ihr habt kein Mal, das dereinst eure Namen nennt, und keinen, der die Stätten kennt, und eure letzte Qual. Ihr habt keinen Sarg. Ihr habt kein Grab, ihr seid gestorben ohne Trost; gequält von Hunger und strengem Frost, niemand das letzte Geleit euch gab. Seele, vergiß nicht die Toten! Wir gedenken auch derer, die heute noch leben und das Leben unter anderen Verhältnissen meistern müssen. Wir beten für sie und wissen, daß wir denselben Vater über uns wachen haben, denselben Herrn und Heiland, der Gnade und Barmherzigkeit spendet und der zu uns allen gesagt hat: “Ich bin bei euch alle Tage!” Wir halten die Toten in Ehren, wir gedenken unserer Mitbrüder, die mit uns im Lebenskämpfe stehen und sprechen mit dem Apostel Paulus “Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn.” (Hier folgt eine Minute der Stille im Gedenken derer, die uns 133 vorangegangen sind). Dann folgt ein Gebet von Prediger Martin Durksen. Auszüge aus den Kurzberichten auf dem Krimertreffen, 1975 Martin Dürksen erzählt . . . . . ich war noch nicht drei Jahre alt, wo meine ersten Erinnerungen beginnen. Wir wurden vom Janzenschuter ver¬ trieben, wo mein Vater als Verwalter gedient hatte, und nun gings in tiefer Nachtstunde auf die Flucht. Dieses hatten meine Eltern schon früher erfahren, als sie im Terek, auch auf dem Chuter des Herrn Janzen dienend, von den Tataren bedroht gewesen und geflüchtet waren. Wir kamen bis zum nächsten Dorfe Minlertschik, wo wir Aufnahme beim Prediger und Bauern Jakob Kornelsen fanden. Diese Last mit uns Flüchtlingen wurde unter verschiedenen Bauern verteilt. Wir waren später bei Borns, dann bei Johann Dücks von Berdjansk, und endlich fanden wir dann eine beständige Wohnstätte, wieder bei Kornelsen, die uns ihren Wagenschuber zur Verfügung stellten, den wir uns so gut wie möglich als Wohnhaus einrichten konnten. Obzwar meine Eltern wußten, was es hieß, ein gutes und geregeltes Leben zu führen, mit Droschke und “Abijauna” zu fahren, waren wir jetzt die ärmsten im Dorfe und man nannte uns schlechthin “Flüchtlings-Dürksens.” Als wir vom Gute vertrieben wurden, hatte mein Vater zwei Kühe mitgenommen, die er hinten am Wagen anband und das war ein großes Verbrechen gewesen. Man hatte erlaubt auf den Wagen die wichtigsten Sachen und etwas Lebensmittel mitzunehmen. Die zwei älteren Brüder Jakob und Hans wurden zurückgehalten, um der neuen Besatzung die Wirtschaftsführung zu zeigen. Von allen diesen Dingen weiß ich wenig, aber eines ist mir im Gedächtnis geblieben. Eines Morgens kamen die roten Polizisten auf den Hof und verlangten die Kühe. Sie führten die Kühe bis zur Straße aber hier wurden sie von meiner Schwester Greta aufgehalten. Sie war fertig mit dem Dreifuß auf die Militz zu hauen, sie weinte und schrie, “ich will meine Kühe noch einmal melken”. Man hielt an, und Greta setzte sich auf den Dreifuß neben die Kühe und melkte sie, sich die Tränen immer wieder wischend. Die Militz stand mit der Flinte ganz baff da und wartete gehorsam, bis sie fertig war. Natürlich mußten diese Jungens Befehle ausführen, aber manch einer hatte doch noch ein gutes Herz in der Brust. “So, nun geht”, sagte Greta, und die Militz zog mit unseren letzten zwei Kühen ab. Das ist eine meiner ersten Erinnerungen aus der Krim. Johann Klassen berichtet . . . “. . . ich erinnere mich der schweren Zeiten im Dorfe Spat, wo 134 der Glaube aller Christen auf schwere Proben gestellt wurde. Wir hatten zwei Gemeinden, die Brüdergemeinde und die Mennoniten- gemeinde. Die Beziehungen zueinander waren nicht die besten, das konnten auch wir, die Unbekehrten, gut sehen und fühlen. Man beobachtete die Menschen, ob sie wirklich fromm waren. Als die vielen Verwundeten des Krieges in unser Dorf gesandt wurden, brauchte die Regierung einen passenden Raum für das Lazarett. Der Entschluß fiel auf das Versammlungshaus der Brüdergemeinde. Herr Langemann bot nun seine Mühle an, in welcher ein größerer Färberaum war, den man für kurze Zeit als Versammlungsraum brauchte. Bald aber brannte die Kirche ab und man stellte den Rest der Bänke in eine alte Scheune bei Fasts. Herr Fast bot die Scheune an, um sich in derselben zu versammeln. Aber bald brannte auch dieses Gebäude nieder. In der Zeit geschah es, daß sich die Glieder beider Gemeinden einigten, zusammen das ausgebrannte Versammlungshaus wieder herzustellen. Man hatte fortan die Versammlungen zusammen, mit einem schönen ge¬ mischten Chor. Wie hat man sich damals doch so geliebt; es waren schöne Segenszeiten. Als dann noch ein Bruder David Wölke als Flüchtling ins Dorf kam, haben sich in den Versammlungen sehr viele Menschen bekehrt. Gott wußte, wie er die Gotteskinder beider Lager zusammenbringen konnte. Diese Zeit in Spat werde ich nie vergessen. Prediger A. A. Unruh berichtet über die Bibelschule in . . . . . mein Vater war ja Lehrer an der Bibelschule in Tschongraw. Diese Bibelschule war bestimmt vom Herrn gegeben, und sie hat sich zum großen Segen ausgewirkt. Der Geist war gut und es kamen Studenten aus den verschiedenen Gegenden und Gemeinden, alles Personen, die hungrig waren, das Wort Gottes zu studieren. Wir haben einige ganz gewaltige Erfahrungen gemacht. Als im Jahre 1921 der Brotkorb hoch hing und man nicht wußte, wie mit der Schule fortzufahren, da beschlossen die Lehrer unentgeltlich zu unterrichten und die Studenten gaben alles, was sie hatten, in die gemeinsame Kasse und Brotkammer. Einige hatten viel, andere hatten wenig. So aß man zusammen im Eßraum und kam glücklich durch das Schuljahr. Als dann die Schule ins nächste Dorf versetzt wurde, dann geschlossen werden sollte, und die Lehrer in Gefahr standen, erschossen zu werden, ist viel gebetet worden. Schließlich versprach die Regierung uns die Schule zu lassen, wenn man 2000 Rubel Strafe zahlen würde. Da haben die Bauern wirklich Opfer gebracht, um das Geld in der so knappen Zeit zusammenzu¬ bringen. Einige haben sogar ihre Trauringe hingegeben, um das Geld aufzubringen. Man wollte die Schule auf alle Kosten halten. Es kam nun doch bald so weit, daß die Bibelschule geschlossen wurde. Aber es steht fest, daß die Schule zum großen Segen für die umliegenden Dörfer gewesen ist. Die jungen Männer und Frauen, die in der Schule studierten, haben viel in den umliegenden Dörfern gewirkt und es durften sich viele zum Herrn bekehren. Wenn ich heute auf unsere Bibelschulen schaue, frage ich mich oft, ob es nur 135 Schulen sind zum Studieren oder sind die Schüler auch heute in der Lage, hinauszugehen und Seelen für den Herrn zu gewinnen. Hier erzählt Martin Dürksen nun, wie er sich noch erinnern kann, daß einige Bibelschüler nach Minlertschik kamen, tags Oefen bauten und Duchowkas einsetzten, und abends Versammlungen abhielt. “Als Jungen”, sagte er, “schienen uns diese Bibelschüler eine ganz andere Art von Menschen zu sein. Wir beschauten sie von links und rechts und bewunderten sie. Am Tage Ofen bauen und abends von der Kanzel predigen, sie erschienen uns wie eine gewisse Art Propheten. Mit einigen dieser Bibelschüler, wie z.B. Br. Nicolai Siemens und Kornelius Voth, haben wir dann später zusammen in Paraguay im Urwalde angesiedelt. Auch da ist der Dienst dieser Brüder zum großen Segen gewesen. Arnold Teichrieb, vor kurzem aus Rußland gekommen, berichtet . . . “. . . gerne will ich etwas mitteilen, da uns der Herr so gnädig geführt hat. Es will einem oft wie ein Traum erscheinen. Im Jahre 1946 wohnten wir in Mittelasien, ganz von meinen Angehörigen getrennt, und ich wußte nichts von ihnen. Im Jahre 1956 war es uns dann möglich, die erste Nachricht von den Angehörigen zu erhalten. Im Jahre 1966 hat meine Mutter dann die ersten Anstrengungen gemacht, uns aus Rußland herauszurufen, was sie drei Jahre nacheinander getan hat. 1969 hat Mutter wieder eingereicht, aber da wir unseren Wohnplatz nach Moldawija verlegt hatten, wo meiner Frau Bruder wohnte, so hat sich wieder alles verzogen. Wir hatten das Auswandern auch ganz aufgegeben. Meine Mutter gab aber nicht auf, und im Jahre 1972 hat sie wieder eingereicht. Zu dieser Zeit war unser ältester Sohn in der russischen Wehrmacht, was ein großes Hindernis war, um die Papiere zu bearbeiten. Aber in allem sahen wir des Herrn Hand, wie er alles so wunderbar gefügt hat. Etwas nie Gehörtes geschah, unser Sohn durfte nach Hause kommen und die Papiere konnten bearbeitet werden. Die Papiere waren noch nicht ganz fertig, da bekam der zweite Sohn den Ruf zur russischen Wehrmacht und auch dieser wurde nach vielem Bitten und Flehen freigelassen. Wir sahen, wie Gottes Wege so viel höher sind als unsere, und seine Gedanken sind recht. Es dauerte nicht lange und wir hatten die Erlaubnis zur Ausreise. Am 31. Januar 1973 durften wir uns mit unseren Verwandten Wiedersehen. Wir können als Familie nicht genug danken, denn der Herr hat wirklich Großes an uns getan. Wir wollen ihn immer rühmen. (Arnold Teichrieb ist Sohn von Franz Teichrieb aus Spat und wohnte bis 1941 in der Krim. Sein Vater war Postträger für die Gegend um Spat herum). Bruder Janzen, aus Bescharan, berichtet etwas aus den Revolutions¬ jahren . . . “. . . Ich persönlich habe nur etwa sieben oder acht Jahre in der Krim gewohnt, meine Eltern etwa 15 Jahre. Ich bin weit in Rußland herumgekommen. 136 Als der Krieg ausbrach, sollten alle deutschen Dörfer in der Krim, wohl auch in der Molotschna, liquidiert werden. Nur die ersten Einwanderer, die einmal Land von der Regierung erhalten hatten, würden bleiben dürfen. Alles dieses ist teilweise ins Wasser gefallen durch die hereinbrechende Revolution. Die deutschen Bauern atmeten erleichtert auf. Mein Vater sagte: “Jungens, wartet nur, das dicke Ende kommt noch, wir werden noch weinen”, und so kam es. Dann kam die Oktoberrevolution in Petersburg, in der die kommunistische Partei gewann. In der Krim waren etwa 70% der Bevölkerung nicht Russen, sondern Deutsche und Tataren und andere Volksstämme, wie auch Juden. Nun gründeten die deutschen Lutheraner und Tataren in der Krim eine Regierung, um sich gegen die neue Gefahr zu schützen. Die Tataren hatten ein starkes Reiterregiment an der Westfront. Dieser Zustand war aber nur von kurzer Dauer. Die Qualität dieser provisorischen Regierung war nicht die Beste, und als die Matrosen erst in Sewastopol ans Land gesetzt wurden, waren die Tataren bald von der Bildfläche verschwunden. Sie zogen sich gleich in ihre Dörfer zurück. Viele von ihnen wurden gleich erschossen, und die ganze Sache mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Die Matrosen führten für eine Weile das große Wort, dann kam die deutsche Besatzung, was für uns zum großen Schaden war; die Front ging hin und her. Die Mennoniten, besonders in den Pachtdörfem, waren der Revolution anfangs eigentlich zugetan. Man meinte, es verspräche eine bessere Zukunft. Aber auch dieses Bild änderte sich bald. Als die Roten dann zum letzten Male in die Krim einzogen, da verging den Meisten doch der Revolutionsgeist. Mit der Zeit wurden alle erfaßt, auch die ärmeren Dörfer. Besonders schwer wurde es, als man Auflage auf Auflage erhielt, Getreide zu liefern und Guthaben abzugeben. Die Roten führten ein hartes Regiment. Der Terror war in der Krim vielleicht nicht ganz so schlimm wie in der Molotschna, dennoch war es schwer genug; manche wurden verhaftet und weggeführt. Es wurde auch unsicher für mich, und ich habe mich dann einige Jahre auswärts aufgehalten. Als die Jahre dann aber immer schlimmer wurden, die Hungerjahre schwere Folgen mit sich brachten, entschloß sich mein Vater auszuwandem. Die Auswanderung aus der Krim ging nur langsam, denn die Leute hatten es zu gut gehabt und hofften immer noch auf bessere Zeiten. So ist es gekommen, daß viele Krimer erst später über Moskau herausgekommen sind, weniger in den Jahren 1924 bis 1926. Wir gehörten zu den Bevorzugten, die damals auswandern konnten, wenn auch mit großen Schwierigkeiten. Wir sind dem Herrn viel Dank und Lob schuldig und wir sollten keine Opfer scheuen, unsere Plfichten heute zu erfüllen, das zu tun, was wir in diesem Lande unter den guten Verhältnissen tun können. Ich bin jetzt fast 80 Jahre alt, und ich muß bekennen, wunderbar hat der Herr mich geführt, ihm will ich edle Ehre geben. Wir wissen, daß des Herrn Gnade vieles wird zudecken müssen. 137 Johann P. Isaak, Saskatoon berichtet . . . . ich bin aus dem Dorfe Ogus-Tobe. Das Dorf lag in der Nähe der Küste, das Land war gut, viele Wein- und Obstgärten fand man in dieser Gegend. In den Jahren 1915 und 1916 besuchte ich die Zentralschule in Halbstadt, Molotschna. Der Dichter Lessing sagt ja: “Lern etwas, dann wird das Glück sich plötzlich wenden.” So hoffte ich, würde es im Leben auch ergehen. Die schweren Jahre kamen. Es regte sich im Riesenreiche, aber in der Krim blieb es noch ziemlich ruhig. Aber anfangs zwanziger Jahre entschloß ich mich, die Heimat zu verlassen. Ueber Sagradowka, wo ich längere Zeit verweilte, kam ich schließlich nach Sibirien, wo ich eine Schwester hatte. Auch hier regte es sich bald, und im Jahre 1929 fingen die Mennoniten an, nach Moskau zu fahren, um dort die Ausreise sozusagen zu erzwingen. Meiner Frau Onkel, Franz Dürksens, waren schon dort, und so entschlossen wir uns auch unser Glück zu versuchen. Wir hatten unsere Wirtschaft noch an einen Rückwanderer aus dem Amur verkaufen können, und als wir nach Moskau kamen, konnten wir in die erste Liste eingeschrieben werden, die sich zusammengeschlossen hatten. Den beiden Männern, Langemann und Heinrich Martins ist bestimmt viel zu verdanken, daß es endlich möglich war, die Ausreise zu erlangen. Wenn ich von der ersten Gruppe spreche, dan handelt es sich um die erste Gruppe, die nach dem Abschluß ausfahren konnten, d.h. nachdem man keine Pässe mehr herausgab. Darüber wäre noch viel zu sagen, aber die Zeit erlaubt es in diesem Rahmen nicht. Ueberraschend schnell erhielten wir die Ausreise, man brachte uns bis Leningrad (Petersburg), und von da ging es auf dem Schiffe Felix Djerschinsky nach Deutschland, bis Kiel. Wir hatten keine Pässe, nur ein provisorischer Ausweis war mit der Schreibmaschine angefertigt, welches unsere Daten angab, genug, um zu wissen, wer wir wären. Im Kieler Hafen angekommen, ließ man uns absteigen, aber leider wußte die Hafenautorität nichts von unserem Kommen. Unser Gruppenführer, Heinrich Martins, bat um Erlaubnis mit der Hafenpolizei in Verbindung zu treten und diese gab ihm die Verbindung mit Dr. Benjamin Unruh, welcher sich sofort mit dem Präsidenten Hindenburg in Verbindung setzte, und unsere Auf¬ nahme in Deutschland war gesichert. Die russische Regierung hatte aber anders gehofft. Da Deutschland damals selber in tiefster ökonomischer und politischer Schwierigkeit war, würde Deutsch¬ land die paß- und heimatlosen Menschen nicht aufnehmen, man würde sie zurück nach Rußland nehmen, nachdem das Schiff von England zurückkehren würde. Aber man hatte sich verrechnet. Wir durften in Deutschland bleiben. Nächst Gott und seiner Macht sind wir auch Männern, wie Heinrich Martins, Dr. B. Unruh und anderen zu viel Dank verpflichtet, daß sie sich damals so in den Riß für die Flüchtlinge gesetzt haben. Anmerkung des Verfassers. Ueber dieses Kapitel müßte noch ausführlicher berichtet werden. Vielleicht übernimmt es sich jemand, das zu tun. Es ist ein wichtiges Kapitel in der 138 Auswanderung der Mennoniten aus Rußland. Ich persönlich war damals 10 Jahre alt. Unsere ganze Familie war in der Gruppe, außer, zwei verheirateten Geschwister: Greta, mit Peter Letkemann aus Minlertschick verheiratet, und Hans, der mit Anna Neufeld aus Montonai, verheiratet war. Mir stehen diese Erlebnisse auch noch so klar in Erinnerung, besonders, wie man uns damals in Deutschland so großzügig aufgenommen hat: Erst in Kiel einige Monate, dann in Mölln in Lauenburg, von wo wir dann nach Südamerika auswanderten. Der erwähnte Gruppenführer Heinrich Martins ist von Deutsch¬ land nach Brasilien ausgewandert, wo er in der Kolonie Blumenau tätig war. Sein Beruf hat ihn etwas von den Mennoniten abseitsgeführt, er nahm aber meistens an Konferenzen und Besprechungen teil, die im größeren Rahmen geführt wurden. Er ist schon vor einigen Jahren gestorben. Einige seiner Geschwister leben in Kanada. Es folgt ein Gedicht “Flucht aus der Heimat”, gelesen von Käthe Dürksen, Frau des Verfassers und Tochter der schon erwähnten Franz Durksens. Flucht aus der Heimat Die Tränen, die geflossen, bargst du und unser Glück, Nun bleibst du unverschlossen, geliebtes Haus, zurück. Stumm stehen wir im Staube, am alten Gartenzaun, um Blumen, Weg und Laube, ein letztes Mal zu schaun. Dann wenden sich die Blicke zur grauen Straße hin, und Rosen, Wein und Wicke, verlieren allen Sinn. Noch eine kurze Strecke, bleibt allvertraut, Der Busch, das Tor, die Häuserecke, der Pfad zum Wald empor. Und alles ist zerronen, Hof, Habe, Heimatland, Und alles hat begonnen, was fremd und unbekannt. Marte Petzy Aeltester Neufeld berichtet . . . “. . . meine Eltern waren Gerhard und Justina Neufeld, sie stammten aus Lindenau, Molotschna. Jung verheiratet suchten sie nach einer Wirtschaft und es fand sich scheinbar nichts besseres als eine Gelegenheit in der Krim, durch Verwandte, im Dorfe Dschulkui. Es war nur ein kleines Pachtdorf, doch ist mir dieses Dorf sehr wertvoll geworden. Ich war etwa drei Jahre alt, als meine Eltern in die Krim zogen, wo sie etwa 11 Jahre gelebt haben. Unser Dorf war 18 Werst von Karassan entfernt, wo ich einen Onkel, Johann Neufeld hatte, und in Spat war ein anderer Onkel, Peter Löwen, der auch noch Arzt war. Dieses gab Anlaß, daß meine Eltern mit uns Kindern desöftern diese und auch andere Dörfer besucht haben. Ich erinnere mich besonders, wie auf dem einen Ende des Dorfes der Weg weit in die Steppe führte, da gab es mancherlei interessante Dinge für uns Knaben, Feldmäuse, viele Vögel und besonders viel Kraniche. Mit diesen Tieren und Vögeln haben wir uns als Knaben dann immer wieder auseinandergesetzt. Auf dem anderen Ende des Dorfes führte der Weg zum kleinen Fluß 139 Krimertreffen, 27. Juni, 1975, in Winnipeg. Salgier. Hier sammelten wir uns im Sommer und hatten unsere Freude am Spiel, und oft badeten wir auch, wenn das Wasser auch meistens ziemlich kotig war. Im Winter fror das Wasser oft ein und dann liefen wir Schlittschuhe, so gut es eben ging. Da das Klima in der Krim milde war, gab es wenig gute Zeiten zum Schlittschuh¬ fahren. Ich erinnere mich noch, wie ich an solchem Tage, wo das Eis trügerisch schön war, durchbrach und nur Gott mich bewahrt, daß ich nicht unter das Eis kam. Besonders in Erinnerung bleiben mir auch die Spätherbste, wenn die Tataren aus den Gebirgen mit ihren Holzwagen, von Ochsen gezogen, in die Dörfer kamen und die süßesten Weintrauben feil boten. Und wenn ich heute an die Krim zurückdenke, dann muß ich feststellen, daß irgend etwas von mir doch in der Krim geblieben ist. Und wenn die Zeit auch nur verhältnismäßig kurz war, so wissen wir doch von einer herrlichen Krim, wo wir gelebt, uns gefreut und auch gelitten haben. Frau Dyck berichtet aus ihren schönsten Erinnerungen aus der Krim: “. . . vierundzwanzig Jahre meines Lebens habe ich auf der Halbinsel Krim gewohnt. Die schönsten Erinnerungen aus dem Leben auf dieser Halbinsel sind mit der Natur verbunden. Da das Wetter durchweg schön war, verbrachte man jede Minute draußen in der von Gott so herrlich erschaffenen Natur. Unvergeßlich sind mir die Frühlingsausflüge der Mädchenschule Karassan, an die blühenden Wiesen an den Salgier. Was gab es da nicht zu sehen und zu hören! Man hörte den trillernden Gesang der Feldlerche, die hoch in die Lüfte stieg; unten im Gras ihr Lerchennest. Das Schlagen der Wachteln, große Scharen von Rebhühnern und dann der bekannte große Vogel der Steppe, der Kranich. Jeden Stein, 140 Schlehenbusch, Mehlbeer- und Maulbeerbaum kannten wir. Unvergeßlich schön waren die Exkursionen in die Taurischen Berge, und an die Küste des Schwarzen Meeres, mit seinen sandigen Ufern. Wie auffallend fein und rein war dieser Sand mit einer Unmenge kleiner zerbrochenen Muscheln, die vom Meere geschliffen, in der Sonne wie geschliffene Edelsteine glitzerten. Eine der schönsten Erinnerungen jedoch ist eine Wanderung der Klasse unseres Mädchengymnasiums in Simferopol über den sogenannt Piriwal der Berge von Bakschiseraj nach Yalta. Lustiges Wandern mit frohem Lachen und viel Gesang. Welches Das Organisationskomitee des Krimertreffen am 27. Juni, 1975, in Winnipeg: von 1. nach r.: John Klassen, Peter Koop, Ben Wall, A.A. Unruh, Jakob Janzen, Heinrich Loewen und Martin Dürksen. Kind auf der Welt hatte diese Schönheit und Freiheit in so leicht erreichbarer Nähe? Die Berge, das Meer mit dem klaren blauen Wasser, subtropisches Klima, Salzluft, herrliche, südliche Bäume, das duftende und so wohlschmeckende Obst, am Baume gereift, die süßen Weintrauben aus den Weingärten an den Abhängen der Berge. Welch schöne Gelegenheit zum Spielen boten die Schluchten und die Höhen der Steinbrüche! In dem mittleren Teil der Krim gab’s im Winter auch Eis zum Schlittschuhlaufen. Alles Schöne der Welt auf einem Platz für jung und alt. Trotz Hungerjahren und Nöten, deren ich mich auch noch erinnere, kann ich heute sagen, schön war meine Kindheit und auch ein Teil meiner Jugendzeit auf der Krim. Diese schöne Kindheit und diese schöne Freiheit, die ich dort erlebte, wiegt vieles von dem auf, was nach dem Willen der Zeit über mich hinwegfegte. Mit Dank und Sehnsucht hänge ich noch heute an jenem kleinen Fleckchen der Erde, das ich meine Heimat nenne, an jenem Stückchen Erde aus meiner Kindheit, das mich nie ganz losläßt. Ja, die Krim, unsere Heimat, sie war schön. Ich glaube, sie ist auch in dieser Zeit immer noch so schön wie damals, was Natur Schönheit anbetrifft. Ich hoffe nur, daß die Kinder, die heute dort leben, auch eine so frohe und freie Kindheit haben, wie sie in mir für immer ruht. Hier sangen wir nun das Lied: Schöner Frühling, komm doch wieder, Lieber Frühling, komm doch bald. Bring uns Blumen, Laub und Lieder, Schmücke wieder Feld und Wald. Auf die Berge möcht ich fliegen, Möchte seh’n ein grünes Tal; Möcht in Gras und Blumen liegen Und mich freu’n am Sonnenstrahl. Arnold Teichrieb mit Frau und Mutter mit Martin Dürksen. Arnold und Familie sind erst kürzlich aus Rußland gekommen, die Mutter kam bald nach dem Kriege. 142 Martin Dürksen fährt fort, aus der Erinnerung an gewisse Personen zu erzählen . . . . Ja, die schöne Krim, sie hatte auch gute Menschen. Ich möchte auf einige Personen hinweisen, die mir aus meiner frühen Kindheit stark in Erinnerung geblieben sind. Männer mit einem gewissen Einfluß, vielleicht nicht alle mit derselben Einstellung. Da ist es zunächst Prediger Jakob Kornelsen, den ich noch im Geiste stramm und gerade auf der Kanzel sehe. Er war Bauer und Prediger, der bestimmt vielen das Heil nahegelegt hat. Dann Prediger Johann Wiebe, der auch Lehrer war. Er hat viel für die Gemeinden in der Krim getan und er wurde schon damals, als wir noch in der Krim waren, verhaftet, als junger rüstiger Mann. Nach drei Monaten kam er ganz geknickt zurück, an Leib und Seele Auf dem Krimertreffen, 1975, beim gemeinsamen Mahl. K. Schwarzenau und Frau Lydia (Tochter von Lehrer Lehn) Maria Krohn (geb. Wall), Frau L. Lehn und Frau Maria Thiessen. zerbrochen, seine Haare weiß. Wenn man ihn fragte, sagte er nur: “Fragt mich nicht!’’ Andere Personen des Dorfes haben ihren Einfluß ausgeübt, manche gut, andere weniger, einige vielleicht auch negativ; Gott weiß, er wird alles recht aburteilen. Ein Mann, den wir nicht ungenannt lassen dürfen, ist Lehrer Lehn. Er genoß Achtung und Ansehen bei Schülern und Eltern. Seine Tochter, Frau Lydia Schwarzenau und seine zweite Frau, sind heute in unserer Mitte und Frau Lehn kann uns vielleicht etwas aus dem Schulwesen der Krim sagen. Frau Lehn berichtet . . . Ich bin eigentlich nicht in der Krim geboren, sondern in der Molotschna; meine Ausbildung als Lehrerin habe ich in Berdjansk erhalten. Meine Eltern wohnten seit dem Jahre 1912 in der Krim, und das gab dann Ursache, daß ich in den Ferien oft in die Krim 143 fuhr, auch zu den Verwandten in Spat und Ogus-Tobe, und so habe ich vieles vom Krimerleben und auch vom Schulwesen damals schon mitbekommen. Nachdem ich zunächst einige Jahre in der Ukraina als Lehrerin betätigt war, entschloß ich mich im Jahre 1918 in die Krim zu gehen und war zunächst drei Jahre in Femheim angestellt. Dann kam ich nach Spat und das letzte Jahr war ich in Okretch. Während der Jahre in Femheim durfte ich mit einer kleinen Gruppe Schüler eine Art Fortbildungsschule anfangen, denn noch hatten wir mehr oder weniger volle Freiheit im Schulsystem. Von hier wurde ich nach Spat versetzt, wo auch mein Bruder, Lehrer Ediger, unterrichtete. Mit der Zeit entwickelte sich die Schule zu einer Semiljetka, d.h. siebenstufige Schule, mit Lehrer Hans Lehn als Leiter. Als ich nach Spat kam waren folgende Lehrer an der Schule: Lehn, Ediger, Emil Schäfer, später kam noch Lehrer Kornies dazu. Im Boten sind verschiedene Artikel von ihm erschienen, dann kam ein Lehrer Fröse hinzu, Fräulein Hecht, später eine Martha Wiebe, dann Fräulein Hoffmann und Frau Kornies, Lehrer Janzen und Lehrer David Neufeld. Da die Krim nun zu der großen Sozialen Republik gehörte, weit ab von Moskau, kann man sich vorstellen, daß sie nicht im Vordergründe der Interessen der Leute in der Hauptstadt stand . . . uns wurden Berater von Okretsch gegeben, Revison wurde selten gehalten, so daß wir noch lange den Unterricht mit Lied und Gebet beginnen durften. Oft haben wir dann in der Schule das Lied gesungen: “Lieber Vater, hoch im Himmel’’, und andere dieser Art. Jakob Wall berichtet über Lehrer Lehn . . . “. . . über den söben erwähnten Hans Franzowitsch Lehn möchte ich einige Worte sagen. Er kam von Orenburg nach Spat, damals hatten wir die Lehrer Schierling-Nickel. Damals wurde scherzweise gesagt: “Jetzt haben wir eine schier-vernickelte Lehne.” Plattdeutsch: “Nu ha we eni schie vinekkelde Lehn”. Er war Lehrer der deutschen Sprache und der Literatur. Lehrer Lehn war ein ausgezeichneter (outstanding) Lehrer. Von allen Lehrern, die ich gehabt habe, ist er einer der besten. Ehre seinem Andenken! Nun folgten Lieder wie “Hab oft im Kreise der Lieben”, “Wetscher bei swerkalji wsiosde, na dwore moros treschtschal” und “Scheiden tut weh” und manche andre. Frau Olga Lepp berichtet als eine Nichtkrimerin, die aber die Krim liebt. . . “. . . ich bin eigentlich nicht in der Krim geboren, ich bin aus der Altkolonie und ich dachte so, ganz ohne die Altkolonier geht’s an solchem Tage denn doch nicht. Ich bin so oft in der Krim gewesen, und sie war uns immer in Freud und Leid ein Lichtpunkt. Wir waren in paar Stunden in der Krim. Als noch die guten Zeiten waren, dann sind wir als Kinder zusammen mit unseren Eltern nach Yalta und Eupatoria gefahren, haben im Schwarzen Meer so schön gebadet, und als wir älter wurden, dann sind wir in die Krim geflüchtet, sie war immer unsere Rettung. Und wenn ich jetzt an 144 Namen unbekannt J.K. die Krim denke, dann wird mir so warm, so warm, wie es in der Krim war. Wir badeten im Meer, brannten gut ein, das war herrlich. Wenn wir am Meere lagen, hatten wir hinter uns die schönen Berge mit dem Tscheterdach und dem Piriwal. Weiter im Flachlande waren dann die vielen mennonitischen und andere deutschen Dörfer, mit ihrem Wohlbehagen und Reichtum. Eines der schönsten Erinnerungen wird die Reise von Simferopol nach Sewastopol sein. Von da gings dann nach Yalta durch die schönsten Flachländer und Steppen, aber immer etwas höher hinan, bis wir auf einemal wie abgeschlossen vor einem Berge standen. Hier übernachteten wir und am nächsten Morgen führte man uns durch ein Tor und als wir da durch waren, lag die ganze Krim vor uns. Herrlich, an einer Seite die Berge, dann das wunderschöne Schwarze Meer und die Blumenpracht und der Duft; so etwas habe ich sonst nie erlebt, auch nicht hier in Kanada. Ich finde, die Krim ist einmalig. Ich finde es wirklich erhebend, daß ich an diesem Tage teilnehmen darf, ihr seid alle so freundlich zu mir gewesen. Danke. Martin Dürksen sagt abschließend: Vergessen wir nicht, kein Krimer hat die Krim erschaffen, das hat der Liebe Gott getan und es ist auch die Güte und Gnade Gottes, daß er Mennoniten die Gelegenheit und das Vorrecht geschenkt hat, in der Krim zu leben. Nun ade du mein lieb’ Heimatland, Lieb’ Heimatland, ade! Es geht jetzt fort zum fremden Strand, Lieb’ Heimatland, ade . . . Vom moosg’en Stein am waldgen Tal, da grüß ich dich zum letzten Mal: Lieb’ Heimatland, Ade! 145 Daheim am Waldesrand Hab’ ich auch schöne Stunden In meiner Welt verbracht Schon manches Lied empfunden, Das glücklich mich gemacht. Will doch das Bild nicht weichen, Wo ich den Frohsinn fand, Im Schatten alter Eichen Daheim am Waldesrand. Wo Drossellieder schallen, Beim Heimatglockenklang, Wie Balsamtropfen fallen, Der Lerchen Hochgesang! Wo Vaterträume streichen. Die Turtel Liebe fand, Im Schatten alter Eichen Daheim am Waldesrand. In Hoffnung und Vertrauen Lebt dieser Wunsch in mir: Nur einmal noch zu schauen Das alte Waldrevier! Wo auf dem Moos, dem weichen, Das erste Lied ich fand, Im Schatten alter Eichen Daheim am Waldesrand! Theobald Heck Peter Hildebrandt, aus Coaldale, sandte mir einen Tonband, aus dem ich gewisse Auszüge nehme . . . Erinnerungen aus der schönen Heimat, der Krim: Es war als achtzehnjähriger, daß ich zum ersten Mal eine weitere Reise bis an die Küste des Schwarzen Meeres tun durfte. Wir kamen bis zum Siwasch und zu den Stellen, wo man in großen Mengen Salz gewann, indem man das Meerwasser in Buchten führte und es wieder ablaufen ließ, und dann das Salz in großen Haufen anhäufte, um es dann weiter zu transportieren. Wie hat mich das beeindruckt. Vorher waren wir durch die wogenden Weizenfelder gefahren, die sich im Winde wiegenden vollen Aehren, eine gute Ernte versprechend. Von Dschankoj kamen wir bis Fiodosia, und überall sahen wir die schönen und reichen deutschen Bauerndörfer. Später, im Dienste, standen wir in diesen Dörfern, besonders erinnere ich mich eines Bauern Wagner, der eine Ausnahmswirtschaft hatte. Die Art und Weise der Wirtschafts¬ führung dieser Leute hat uns wirklich imponiert. Später lebte ich in Dschankoj bei meinem Onkel, und mit ihm bin ich oft durch die Gegenden gefahren; er hatte damals schon ein Auto. Manche 146 Fahrten bis Simferopol, Spat, oder in die Berge, bis Yalta und Aluaschta und Kursuf. Was gab es da nicht alles zu sehen! Obstgärten, Weingärten, Gemüsefelder und Wälder, die Bergesabhänge; alles dieses hat unvergeßliche Bilder in mir zurückgelassen. Unter den Bergen zeichnete sich besonders der Kadet aus, der vor 200 Jahren noch Feuer gespien hat. Wir fanden noch viele schwarzen Lavasteine, besonders am Meeresufer, wohin sich die Lavamassen gezogen hatten. Hier hatte mein Onkel, der in Dschankoj Arzt war, eine Lungenheilanstalt, denn die Luft in den Bergen war wunderbar, man sagte, daß nur Italien noch ähnliche gesunde Stellen habe. Unter all den Pflanzungen gab es auch viele Tabaksfelder. Mein Onkel pflegte auch Bienen zu züchten, die besonders gerne von den Tabakspflanzen den Honig sammelten. Mein Onkel konnte gelegentlich sagen: “Wenn ich den Honig genieße (obzwar er sehr gut war), ist’s mir oft, als ‘prieme’ ich Tabak.” In Yalta hatten wir einmal die Gelegenheit, als der Onkel mit seinen Patienten des Lungensanatoriums dahin fuhr, den Kaiser und die ganze Familie aus nächster Nähe zu sehen. Sie hatten ihr eigenes Schiff, auf welchem sie fuhren. An einem herrlichen Pfingstmorgen kamen sie alle, die ganze Kaiserfamilie, alle in weiß gekleidet, aus dem Schiff. Von den Kriegsschiffen wurden 101 Salutschüsse abgegeben. Nur wer dabeigewesen ist weiß, was das für einen Eindruck auf uns gemacht hat. Ja, wir hatten die Kaiser¬ familie gesehen. In der Dienstzeit habe ich wunderbare Zeiten in diesen Bergen, besonders in Aluschte, verlebt. Ich bin im Massandraschloß gewesen und habe die vielen Altertümlichkeiten besehen dürfen. Die Krim hat ja eine reichhaltige Geschichte hinter sich. Da fanden sich die alten griechischen Spiele. Die Krim gehörte früher den Griechen, dann den Römern. Mauerreste und Pfeiler künden noch heute von jenen Zeiten, von den Spielen und Sportanlagen. Und wer könnte das schöne Baden im Schwarzen Meere vergessen! Wenn wir uns abends beim Mondenschein ins Wasser begaben, und ferne ein Schiff fuhr, konnte man im Widerschein einen langen Silberstreifen sehen. Wenn wir dann schwimmend das Wasser teilten, erschienen die in die Luft fliegenden Tropfen wie Feuerbällchen. Ich erschrak das erste Mal darüber, und als ich meinen Onkel fragte, sagte er nur; “so ist das mit diesem Wasser, ich weiß auch nicht warum.” Nein, die schönen Zeiten in der Krim kann man nicht vergessen. Später diente ich in der weißen Armee. Es fanden große Kämpfe statt, einmal am Siwash und dann bei Feodosia. Die Weiße Armee zog sich bis Feodosia zurück und dann bis Ogus-Tobe, welches ganz nahe an der Meerenge lag. Ueberall, im Asowschen und Schwarzen Meer waren nun die englischen Schiffe aufgezogen. Die Rote Armee erlitt damals eine schwere Niederlage; sie konnten dem schweren Artilleriefeuer nicht widerstehen. Dann aber erhielten sie starken Nachschub vom Don, und schließlich fiel auch dieser letzte Teil der Krim in ihre Hände. (Dieser Teil wird ziemlich 147 ausführlich von Herrn Hildebrandt erzählt, kann hier nicht alles wiedergeben.) Auch die Dienstzeit kam zu Ende. Ich muß sagen, wir haben schöne Zeiten erlebt; es gab aber auch sehr schwere Zeiten. Eines haben wir in der Krim versäumt, wir haben den Menschen in der Umgegend nicht das Evangelium gebracht, und das ist eigentlich eine große Schuld. Wir haben aber in den nachfolgenden Zeiten viel gelernt. Heute wird viel und gute Arbeit durch MCC und die Missionsbehörden getan. Wir preisen Gott dafür. Mennonitische Studenten in der Krim Dr. N.J. Neufeld berichtet . . . In der Stadt Simferopol, Krim, studierten in den Jahren 1918 bis 1923 eine ganze Reihe mennonitischer Studenten. Sie studierten Medizin, Philologie und Naturwissenschaft. Auf der Medizinischen Fakultät waren etwa 10 Studenten. Unter diesen waren mein Bruder Gerhard und ich. Is. Regehr (jetzt Coaldale), war wohl Philologe. Zu der Zeit hatten wir die besten Professoren, die wegen der Revolution vom Norden geflüchtet waren. Das kameradschaftliche Verhältnis unter den Studenten war auffallend gut, trotz der Studenten auf dem Lehrerseminar in Simferopol, 1924. Lehrer Hans Dürksen (x), mit der dunklen Bluse Sergej Scharkow (Minlertschik), mit der weißen Mütze Lehrer Schäfer, Spat. Eingesandt: Martin Dürksen. 148 Auf dem Bilde ist eine Gruppe Mediziner. Hinten (v.l.n.r.): Herman Neufeld, Samara; Agatha Rempel, Gnadenfeld; Hans Strauss, Spat; vorne; N.J. Neufeld, Dawlekanowo, Ufa; Mariechen Rempel, Agathas Schwester; Anja Martins, Eupatoria, Krim; Gerhard Neufeld, mein Bruder. Revolution, die in den Jahren noch wütete. Die fünf Studienjahre in der schönen Krim bleiben mir stets in bester Erinnerung. Wir konnten in den Jahren wegen des Revolutionskrieges nicht nach Hause reisen. Wir verdienten uns das Studiengeld im Sommer. Einen Sommer arbeitete ich in Lustigstal bei Onkel Langemann. Ich habe auch Unterrichtsstunden gegeben. Oft kamen wir auch nach Tschongraw zu Lehrer Johann Wiens und Abram Unruh, die in der Bibelschule unterrichteten. Da saßen die beiden hungrigen Studenten auf Stroh und heizten den Herd, auf welchem Tante Wiens mit einem großen Messer “Kielke” briet. Wir bekamen hier auch geistliche Speise, und diesen beiden Brüdern habe ich es zu verdanken, daß ich im Glauben bewahrt wurde. Wir kamen auch zu Dr. Johann Sawatzkys in Karassan. Wie freundlich und hilfsbereit war doch dieser “goldene” Mann! Er streckte uns die medizinischen Bücher vor und brachte uns oft Brynza (Schafkäse), der in der Krim so populär ist. Margarita Kornejewna, seine Frau, war immer so freundlich und liebevoll. Und der kleine Djima war ein Prachtkerl! Er ist jetzt in Sibirien Arzt. Ich erhielt von Frau Sawatzky noch vor einem Jahr einen Brief. In Tschakmak verkehrten wir bei den Dicks und Brauns. Truda Brauns schönes Gebäck, das sie mir auf der Reise mitgab, machte mich nach der Verhaftung in Spat frei. Ich fütterte den Baschkirenjungen, der mich mit einer langen Flinte auf dem Wege nach Simferopol begleitete, den wunderbaren Kuchen, und als wir in der Nähe der Stadt waren, sagte ich zu meinem Begleiter: “Du 149 kannst allen Kuchen haben, wenn Du mich losläßt!” Und wirklich, das Herz des gutmütigen Baschkiren ließ sich erweichen; ich konnte meines Weges gehen. Das sind so einige Erinnerungen aus der Krim. Herzliche Grüße an alle Landsleute! Möchte das Treffen am 8. und 9. Juli zum Segen sein und uns Gelegenheit geben, dem Herrn zu danken, ihn zu loben für die Errettung aus dem Lande der vielen Trübsale! Einige Führergestalten der Krimer Mennonit en Wir bringen nun eine Anzahl von kurzen Lebensbeschreibun¬ gen einiger führender Persönlichkeiten im kirchlichen Leben, auf dem Gebiet der Schule und des gesellschaftlichen und wirtschaft¬ lichen Aufbaus. Mehrere der hier behandelten Personen haben den Krimer Mennoniten eine Zeitlang gedient, um dann die Krim mit einem weiteren Wirkungskreis zu vertauschen. Unter ihnen waren J. Kröker, A. Kröker, A. Unruh und vor allem B.H. Unruh, dessen Wirksamkeit sich mit der Zeit auf das gesamte Weltmennonitentum erstrecken sollte. Im Rahmen dieser kleinen Schrift müssen wir uns auf die wichtigsten Namen beschränken, und auch da können wir nur kurz berichten. David Dürksen, Aeltester der MB-Gemeinde David Dürksen, Aeltester der Mennoniten-Brüdergemeinde auf Aus dem Buche: Mennonitische Siedlungen in der Krim, H. Goerz, mit Erlaubnis des Echoverlages. 150 der Krim und eine ihrer bedeutendsten Persönlichkeiten im geistlichen und kulturellen Leben, wurde im Jahre 1850 an der Molotschna geboren. Er hatte in seiner Jugend keine Gelegenheit, eine höhere Bildung zu erhalten, aber außergewöhnlich begabt, eignete er sich durch Selbststudium so viel Kenntnisse an, daß er eine Lehrerstelle im Dorfe Margenau annehmen konnte. In wenigen Jahren war seine bisher vernachlässigte Schule eine der besten an der Molotschna. Allgemein beliebt, wurde Dürksen zum Prediger der Mar- genauer Mennonitengemeinde gewählt. Bald zeigte es sich, daß er auch als Prediger nicht gesinnt sei, auf altbetretenen Pfaden weiter zu wandern, er predigte nicht wie “die andern”, sondern sprach frei und betete frei, und zwar beides mit Geist und Feuer. In der Margenauer Gemeinde wurden nämlich die Predigten noch aus alten Postillen vorgelesen und das Gebet nur still in kniender Stellung verrichtet. Seine neue Art zu predigen rief bald eine starke Opposition in der Gemeinde hervor, was Dürksen veranlaßte, in die Brüdergemeinde überzutreten. Bald wurde er zum Bundes- Reiseprediger dieser Gemeinde berufen, welche Tätigkeit ihn in alle Teile des europäischen und asiatischen Rußlands führte und auch nach Deutschland und Amerika. Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erhielt er den Ruf, der jungen Brüdergemeinde auf der Krim als Aeltester zu dienen, welches wichtige Amt er bis zu seinem Tode innehatte. Die Arbeit war nicht leicht, es gab manche Kämpfe, und manche Schwierigkeiten waren zu überwinden. Aeltester Dürksen betätigte sich aber nicht nur im religiösen Leben, er hat auch einen starken Einfluß auf das Schulleben der Krimer Mennoniten ausgeübt. Er war einer der Mitbegründer und ein langjähriges Mitglied des Krimer mennonitischen Schulrates, dem die Beaufsichtigung des Deutsch- und Religionsunterrichts in den mennonitischen Schulen oblag. Durch seine reiche pädagogische Erfahrung, durch seine seltene Menschen- und Seelenkenntnis war er fähig, in jeder Hinsicht fruchtbringend auf das Schulwesen und die gesamte Jugenderziehung einzuwirken. Die übergroße Arbeitslast, die Kämpfe im Gemeindeleben, dazu ein schweres Familienkreuz, das er im letzten Abschnitt seines Lebens noch tragen mußte, haben Dürksens Kraft frühzeitig aufgezehrt, und er starb 1910, erst 61 Jahre alt. Bei seinem Begräbnis standen Mennoniten aller Gemeinderichtungen trauernd an seinem Grabe. Alle empfanden schwer den Verlust dieses seltenen Mannes. Abraham J. Kröker stammte aus dem Dorfe Rosenort an der Molotschna. 1881, erst 18 Jahre alt, wurde er Dorf Schullehrer. Sein Gehalt war 12 Rubel monatlich, nur für die Schulmonate, und freier Tisch als “Rundgänger”. 1889 trat er zur Mennoniten-Brüder- gemeinde über und wirkte als deren Reiseprediger einige Jahre in Rumänien. 1894 zog er nach der Krim, kaufte im Dorfe Spat eine Wirtschaft und wurde Landwirt. Sein Sinn aber stand nach einer gesellschaftlichen Tätigkeit. Er begann sich schriftstellerisch zu 151 Pred. Abraham J. Kröker, Schriftleiter der “Friedensstimme” betätigen, indem er Beiträge für mehrere christliche Zeitschriften des Auslandes schrieb, die auch gut aufgenommen wurden. Bald darauf begann er mit der Herausgabe seines “Christlichen Familienkalenders” und auch des “Christlichen Abreißkalenders”, die beide bald weite Verbreitung unter allen Mennoniten Rußlands fanden. 1903 erschien sein Buch “Pfarrer Wüst, der große Erweckungsprediger in den deutschen Kolonien Rußlands”. In demselben Jahre, auch noch in Spat, begann er mit seinem Vetter Jakob Kröker zusammen die Herausgabe der ersten mennonitischen Zeitschrift in Rußland, der “Friedensstimme”. 1904 zog er nach Halbstadt an der Molotschna und gründete dort mit noch einigen anderen zusammen die Verlagsgesellschaft “Raduga”. Während der Revolution mußte A. Kröker Rußland fluchtartig verlassen und lebte bis zu seinem Tode, im Jahre 1936, in Mountain Lake, Minnesota, USA. Hier hat er noch einige Rußlandbücher geschrieben. Durch seine Schriften, besonders aber durch die Herausgabe der “Friedenstimme” ist A. Kröker der Pionier unseres mennonitischen Schrifttums in Rußland geworden. Jakob Kröker wurde 1872 in Gnadental an der Molotschna geboren. Nachdem er sich des Lehrerzeugnis erworben hatte, war er einige Zeit Lehrer im Dorfe Menlertschik in der Nähe von Spat. Dann studierte er vier Jahre am Missionsseminar in Hamburg, Deutschland, worauf er wieder nach der Krim zurückkehrte, wo er bald zum Prediger und Aeltesten der Brüdergemeinde ordiniert wurde. Mit Aelt. D. Dürksen zusammen wirkte er auch als Reiseprediger. 1903 gründete er mit seinem Vetter A. Kröker zusammen die erste mennonitische Zeitschrift in Rußland, die “Friedensstimme”. 1906 zog er auch nach Halbstadt und wurde Teilhaber an der Verlagsgesellschaft “Raduga”. Um diese Zeit hat er auch den deutsch-englischen Erweckungsprediger Dr. Bädeker auf seinen Reisen in Rußland begleitet. 1910 verließ J. Kröker Rußland und verlegte seinen Wohnsitz nach Wernigerode a.H. in Deutschland, wo er sich fortan Prediger Jakob Kröker theologischen Studien und der Abfassung theologischer Bücher widmete (“Das lebendige Wort” in 14 Bänden). Auch gründete er in Verbindung mit Pastor Jack den Missionsbund “Licht im Osten”, dessen Hauptzweck die Ausbildung russischer Prediger in einem Seminar in Wernigerode war. Er starb im Jahre 1949. Heinrich B. Unruh, Aeltester der Krimer Mennonitengemeinde, wurde 1841 im Dorfe Waldheim an der Molotschna geboren, war verheiratet mit Elisabeth, geb. Wall, und betrieb eine Landwirt¬ schaft im recht armen Dorfe Timir-Bulat auf der Krim. Seit 1874 diente er als Prediger und seit 1880 als Aeltester der damals noch ungeteilten Krimer Mennonitengemeinde, die in verschiedenen Teilen der Krim zerstreut war. Aeltester Unruh nahm es mit seinem Amte sehr ernst. Die Mutter hat später den Kindern erzählt, daß sie den Vater oft im Gebet angetroffen habe, besonders zu der Zeit, als er die Täuflinge unterrichtete und zur Taufe vorbereitete. Als ob er sein nahes Ende geahnt hätte, umarmte er eines Tages seinen ältesten Sohn Heinrich, den späteren Missionar in Indien, im Stalle mit den Worten: “Hilf mir, meine Kinder, deine Geschwister, erziehen!” Bald darauf starb er, erst 42 Jahre alt, an Lungenent¬ zündung. Sein Sohn Heinrich hat die Bitte des Vaters treulich erfüllt und ist seinen Geschwistern wie ein Vater gewesen. Zwei weitere Söhne, Gerhard und Kornelius, haben auch als Missionare in Indien gearbeitet. Professor Dr. Benjamin H. Unruh, Sohn des Vorigen, wurde 1881 im Dorfe Timir-Bulat geboren. Die Elementarschule besuchte der begabte und lernlustige Knabe in seinem Heimatdorfe und im Nachbardorfe Tokultschak, wo seine Großeltern wohnten. Im Jahre 1895 trat er in die Ohrloffer Zentralschule an der Molotschna ein, wo damals sein Onkel Kornelius Unruh Leitender war. Von dort ging er auf die pädagogische Lehranstalt in Halbstadt. Beide Anstalten beendigte er mit “sehr gut”. Hierauf machte er sein staatliches Lehrerexamen im russischen Gymnasium der Gouverne¬ mentsstadt Simferopol. Nachdem sich der junge Mann zu einem persönlichen Heilsglauben durchgekämpft und denselben mit einem bewußten Taufbekenntnis besiegelt hatte, durfte er den schon auf der Schule gefaßten Entschluß, sich in Basel für den höheren Schuldienst in Religion und Deutsch vorzubereiten, verwirklichen. 1900 bis 1907 studierte Unruh als stud. phil. und stud. theol. zuerst parallel an dem Evangelischen Predigerseminar von Wilhelm Arnold und an der Universität, dann nur an der Universität Theologie, Literatur und Pädagogik. Er promovierte 1907 in Basel zum Lizensiaten der Theologie in Kirchen- und Dogmengeschichte. Als Student kam Unruh oft in Berührung mit den württembergischen, badischen und bayrischen Mennonitengemein - den und hat hier auch manche Predigt halten dürfen, was für ihn, wie er immer wieder bekennt, in seinem eifrig betriebenen Studium von bestimmender Bedeutung gewesen ist. Hier wurde ihm auch im Jahre 1907 von Gott die Tochter des Aeltesten Christian Hege, Frieda, zur Lebensgefährtin geschenkt, die ihm nach Rußland folgte und vier Söhne und vier Töchter gebar. Das junge Paar ging nach Halbstadt, Molotschnaer Ansiedlung, wo Lic. Unruh zum Religionsprofessor und Deutschlehrer an zwei höheren Lehranstal¬ ten, die Kommerzschule und das Mädchengymnasium, berufen wurde. In dieser Eigenschaft hat er nun eine Reihe von Jahren, bis 1919, nicht nur der großen Molotschnaer Mennonitenkolonie, sondern der gesamten rußländischen Mennonitenschaft gedient, da diese Schulen von jungen Leuten aus den verschiedenen Ansiedlungen besucht wurden. Es gilt heute noch als besondere Ehre, bei Prof. Unruh in Halbstadt studiert zu haben. Aber nicht nur durch seine Arbeit an den höheren Schulen hat Prof. Unruh seiner Gemeinschaft in Rußland gedient. Als nach der Februarrevolution auch die Mennoniten daran gingen, sich gesellschaftlich zu organisieren, wurde er auf dem ersten Mennonitischen Kongreß in Ohrloff zum Kandidaten für die Allrussische Konstituierende Versammlung gewählt. 1919 wurde er Leiter des mennonitischen Zentralkomitees, des sogenannten ‘ ‘ Mennozentrums ’ ’. Doch die Zeiten wurden dunkler, und die rußländischen Mennoniten sahen immer mehr ein, daß sie sich mit ihren Brüdern im Auslande in Verbindung setzen müßten zwecks einer eventuellen Hilfsaktion in oder gar Auswanderung aus Rußland. Nun war es wieder Prof. Unruh, der mit zwei anderen Brüdern in eine “Studienkommission” gewählt und über Deutschland und Holland abdelegiert wurde nach Amerika. Als dann bald darauf die Hungerhilfe und etwas später die Auswanderung tatsächlich einsetzte, hat Prof. Unruh als tätiges Mitglied verschiedener Hilfsorganisationen, wie “Christenpflicht” und “Brüder in Not”, und auch direkt bei der deutschen und kanadischen Regierung seinen unglücklichen, unter die Mörder gefallenen Brüdern in 154 Prof. Dr. Benjamin H. Unruh Rußland unersetzliche Dienste geleistet, bei all seiner vielseitigen, aufopfernden Tätigkeit vor allem unterstützt von seiner 1946 heimgegangenen ersten Frau Frieda und gegenwärtig von seiner zweiten Frau Paula, geb. Hotel. Noch eines, uns besonders sympathischen Charakterzuges Prof. Unruhs möchten wir hier Erwähnung tun, nämlich seines weiten, duldsamen Herzens Christen aller Richtungen gegenüber. Während seiner Wirksamkeit in Halbstadt hat Prof. Unruh, selbst ein Glied der Mennoniten-Brüdergemeinde, unablässig in der Mennonitenkirche gepredigt und, wie uns mitgeteilt wurde, zuweilen auch in der lutherischen Kirche in Prischib. In einem Briefe an uns schreibt er wörtlich: “Und so habe ich — wie auch meine Eltern und Geschwister — immer gehangen an unserer 155 Gesamtbruderschaft, aber auch nach dem apostolischen Glaubens¬ bekenntnis an der einen, allgemeinen, heiligen (d. h. auf gebotenen) christlichen Kirche’.” Da schriftstellerische und wissenschaftliche Tätigkeit von Prof. Unruh können wir im Rahmen dieses kleinen Werkes nur streifen. Im Laufe der Jahrzehnte hat er eine große Anzahl Schriften in Buch- und Artikelform über theologische, kirchengeschichtliche, mennonitengeschichtliche und Themen der russischen Religions¬ und Geistesgeschichte veröffentlicht, die Beachtung und Anerken¬ nung in weitesten Kreisen gefunden haben. Sein Hauptwerk aber ist die vor einiger Zeit veröffentlichte große Monographie “Die niederländisch-niederdeutschen Hintergründe der mennonitischen Ostwanderungen”, an der er seit 1934 gearbeitet hat, ein monumentales Werk, das ein helles Licht wirft auf die vielumstrittene Frage der Herkunft der preußisch-rußländischen Mennoniten. “Schlecht und recht — Niederdeutsche und Niederländer” — dieses Stichwort aus dem Buche drückt den eigentlichen Kern der historischen Untersuchungen über unsere Herkunft aus und verrät somit das niederländisch-niederdeutsche “Doppelgesicht” der preußischen und rußländischen Mennoniten¬ gruppen. Dazu lesen wir auf Seite 166 des Buches: “So groß der Unterschied zwischen den deutschen und holländischen Städten auch sein mag, die Dörfer diesseits und jenseits der deutsch-hollän¬ dischen Grenze sind einander auffallend verwandt. Das ursprüng¬ liche Volkstum, wie es das Bauerntum am getreusten bewahrt, war ein gemeinsames . . . Die Mundarten und das naive Volksleben stießen in den deutsch-holländischen Grenzgebieten durchweg ineinander”*). Prof. Unruh lebt gegenwärtig in Karlsruhe, Deutschland, und steht trotz seines vorgerückten Alters — er steht im 75. Lebensjahr — noch in voller Tätigkeit. Unter anderem hält er schon seit 1922 und auch heute noch Vorlesungen in der dortigen Technischen Hochschule (= Universität) über Russische Sprache und Russisches Geistesleben, wie es aus den Schriften der großen russischen Dichter und Denker hervorleuchtet. “Ohm Benjamin”, wie ihn viele seiner Freunde und Verehrer nennen, schaut heute zurück auf eine lange, gesegnete Tätigkeit. Seine Arbeit ist je und je auch von der großen Oeffentlichkeit gewürdigt worden. Von den mancherlei Auszeichnungen, die ihm zuteil geworden sind, erwähnen wir hier nur zwei. 1932 erhielt er aus der Hand des Reichspräsidenten von Hindenburg durch den Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes den damals höchsten deutschen Orden, das Verdienstkreuz erster Klasse des DRK. Im Jahre 1947 wurde ihm der Ehrendoktortitel der Theologie von der ältesten deutschen Universität Heidelberg verliehen. Es sollte aber nicht vergessen *) Leider können wir wegen Raummangel nicht mehr über diesen Gegenstand bringen. Wir verweisen den Leser aber auf die Besprechungen des Buches in unseren Blättern und vor allem auf das Buch selbst, das von den größten Gelehrten direkt gerühmt wird, als Rekommendation des Gesamtmennonitentums. 156 werden, daß in der Hauptsache seine Tätigkeit seiner geliebten Mennonitengemeinschaft gegolten hat, und noch heute gilt, der Bruderschaft, zu der er selbst gehört, und die er aus treuem Herzen liebt**). Dr. Abraham H. Unruh Dr. Abraham H. Unruh, der Bruder des Vorigen, wurde im Jahre 1878 im Dorfe Timir-Bulat auf der Krim geboren. Der früh verstorbene Vater (siehe oben Aeltester H. Unruh) hinterließ die Mutter mit zehn Kindern, dazu in schweren wirtschaftlichen Verhältnissen, so daß sie gezwungen war, drei der Kinder abzugeben. Der fünfjährige Abraham kam zu seinem Onkel Kornelius Unruh, dem bekannten Lehrer und Leiter der Ohrloffer Zentralschule. Hier absolvierte er diese Schule und dann die pädagogische Schule in Halbstadt. Hierauf wurde er, erst 17 Jahre alt, Lehrer im Dorfe Menlertschik, wo er acht Jahre tätig war. Hier wurde er auch nach seiner Bekehrung ein Glied der Mennoniten- Brüdergemeinde. Mit 22 Jahren verheiratete er sich mit der Jungfrau Katharina Toews von Spat. Im Jahre 1903 zog das junge Paar nach der Station Barwenkowo im Charkowschen Gouv., wo Unruh bis 1908 an der Elementarschule unterrichtete. Um diese Zeit wurde er auch zum Prediger gewählt und ordiniert. Nachdem A. Unruh bei seinem Bruder Benjamin Unruh weiteren Unterricht in der deutschen Sprache genommen und das Hauslehrerzeugnis in diesem Gegenstände erworben hatte, wurde er Deutsch- und Religionslehrer für die protestantischen Schüler an der russischen Kommerzschule in Barwenkowo, in welcher Stellung er neun Jahre verblieb. Inzwischen kam der erste Weltkrieg, und **) Wäre es da nicht am Platze, wenn jede mennonitische Familie, die Leser dieses Buches miteinbegriffen, die erwähnte Monographie, das Hauptwerk seines Lebens, kaufen und lesen würde! Das würde viel dazu beitragen, die alten Tage unseres “Ohm Benjamin” gesicherter und freundlicher zu gestalten. 157 Unruh diente mit vielen anderen als Sanitäter im Roten Kreuz in Jekaterinoslaw und Odessa. An letzterem Orte diente er als Prediger an der dortigen Baptistengemeinde. Nach dem Kriege trat er seine Arbeit an der Kommerzschule in Barwenkowo wieder an, blieb hier aber schon nicht lange, sondern wurde leitender Lehrer der Zentralschule in Karaßan auf der Krim. Aber nur zwei Jahre dauerte seine Tätigkeit hier. 1920 berief man ihn an die vor kurzem gegründete Bibelschule in Tschongraw, in der er bis zu ihrer Schließung durch die rote Regierung im Jahre 1924 arbeitete. Da er weiter keine Aussicht hatte, seine Tätigkeit als Prediger und Lehrer in Rußland fortzusetzen, entschloß er sich, mit seiner Familie nach Kanada auszuwandern, wo er im Januar 1925 ankam. Hier in Kanada wartete auf A. Unruh schon neue Arbeit. Bald nach seiner Einwanderung gründete er in Winkler, Manitoba, eine Bibelschule nach dem Muster derjenigen in der alten Heimat. Bis zum Jahre 1944 leitete er diese Schule und ging dann nach Winnipeg, um dort die Arbeit an einer höheren Bibelschule zu beginnen, die sich mit der Zeit zu einem Bibelcollege entwickelt hat. 1954 trat er von dieser Arbeit zurück und dient nun den Gemeinden, die ihn rufen, mit der Predigt des Wortes Gottes, und zwar nicht nur in Manitoba, sondern auch in anderen Provinzen Kanadas und in den Vereinigten Staaten. Dr. Unruh ist auch schriftstellerisch tätig. Eine große Anzahl von religiösen Artikeln aus seiner Feder ist durch die Jahre in der “Mennonitischen Rundschau” und anderen Blättern erschienen. Vor einiger Zeit hat er eine große mennonitengeschichtliche Arbeit zum Abschluß gebracht, “Die Geschichte der Mennoniten- Brüdergemeinde”. Dieses über 800 Seiten umfassende Werk ist soeben im Druck erschienen. Es ist die gründlichste und umfassendste Arbeit, die bisher über Gründung und Entwicklung der Brüdergemeinde geschrieben worden ist. Dr. Unruh schaut heute zurück auf eine lange gesegnete Tätigkeit, beides, in der alten und in der neuen Heimat. In Anerkennung seiner großen Verdienste, besonders auch auf pädagogischem Gebiete, wurde ihm am 21. Mai 1937 vom Tabor College in Kansas, USA, der Titel Th. B. (Baccalaureus der Theologie) und am 2. Juni 1938 der Titel eines D.D. (Doktors der Theologie) vom Bethel College, Newton, Kansas, USA, verliehen. Peter Friedrichsen, Aeltester der Busauer Mennonitenge- meinde, wurde 1866 auf dem Gute Tatschenak geboren. 1889 wurde er von der damaligen Ettingbrunner, später Busauer, Gemeinde zum Prediger und 1906 nach dem Tode des Aeltesten H. Martins zum Aeltesten der Gemeinde gewählt und noch in demselben Jahre vom Aeltesten der Karaßaner Gemeinde ordiniert. 1891 hatte er sich mit der Jungfrau Sara Martins verehelicht. Nach dem Tode seiner Frau trat er zum zweiten Male in die Ehe mit der Witwe Maria Fast, geb. Wiens. Er starb am 18. Juli 1926, tief betrauert, besonders von seiner Gemeinde, dann aber auch von weiteren 158 mennonitischen Kreisen. Hatte sich doch seine Wirksamkeit über die Grenzen seiner eigenen großen Gemeinde erstreckt. Aeltester Friedrichsen hatte eine gute Bildung und war tief gegründet in der Schrift. Er war ein sehr beschäftigter Mann und hat insgesamt 2015 Predigten gehalten, wozu noch allerlei andere amtliche und seelsorgerische Tätigkeit kam. Er war nicht, was man so einen Gesellschaftsmenschen nennt. In größerer Gesellschaft war er gewöhnlich nur Zuhörer. Ein Freund, der mit ihm in einem Dorfe wohnte, berichtet, daß bei ihren öfteren gegenseitigen Besuchen das Gespräch gewöhnlich nur einige Minuten währte. Dann nahm der, in dessen Hause man sich befand, ein gutes Buch zur Hand und las dem anderen etwas vor. Wo es aber galt, für seinen Herrn zu zeugen oder eine gute Sache zu vertreten, da war er beredt. Peter Fast, nachmaliger Direktor der Realschule zu Berdjansk, war Absolvent der Ohrloffer Zentralschule und der pädagogischen Kurse in Halbstadt. Dann war er einige Jahre Dorfschullehrer, während welcher Zeit er sich privatim das Reifezeugnis erwarb. Hierauf absolvierte er die historisch-philologische Fakultät der Universität Moskau, worauf er eine Reihe von Jahren Gymnasial¬ lehrer in der Hafenstadt Feodosia war, in deren Nähe ja auch einige mennonitische Siedlungen lagen. Nach dem plötzlichen Tode von A.A. Neufeld, des Direktors der Realschule in Berdjansk, im Jahre 1909 wurde Fast, ein Freund Neufelds, Direktor dieser Schule, Fast starb schon 1916. J. D. Janzen J.D. Janzen, Lehrer und Geschäftsmann, wurde 1874 in Gnadenfeld an der Molotschna geboren, wo er in der dortigen Zentralschule seine Ausbildung erhielt. Als 17jähriger Jüngling wurde er Lehrer auf einem Landgute, nahm nach zwei Jahren die Lehrerstelle im Dorfe Franztal an, wo er bis 1905 unterrichtete. Während dieser Zeit erlernte er in den Sommerferien die Buchführung. Von Franztal ging er nach der Krim und ließ sich im 159 Dorfe Karaßan nieder. Hier arbeitete er eine Zeitlang als Buchhalter im großen Konsumgeschäft, gründete dann eine Buchhandlung und etwas später ein Holz- und Eisengeschäft. Von Anfang an nahm Janzen eine führende Stellung in Schulsachen ein. Er wurde Vorsitzender des Schulvereins, der sich hier vor kurzem gebildet hatte und der die Karaßaner Zentralschule und etwas später die Mädchenschule ins Leben rief. An der letzteren hat Janzen während der ersten Zeit ihres Bestehens als Lehrer gearbeitet. 1918 zog er nach Sewastopol und wurde Handelsvermittler in einem Tauschgeschäft mit dem Auslande. 1924 wanderte er mit seiner Familie aus, erst nach Mexiko und kam 1926 von dort nach Kanada, wo er 1948 auf der mennonitischen Ansiedlung bei Aldergrove in Britisch-Kolumbien sein Leben beschloß. Johann Langemann und Frau, Krim. Aus “Dein Reich komme” Februar 1931. “Gott, Dein Weg ist heilig!” Ps. 77, 14. Wenn ich an dieser Stelle einen kleinen Nachruf meinen heimgegangenen Schwiegereltern, dem Vater und der Stiefmutter meiner lieben Frau, widme, so geschieht es einerseits als ein Dank Gott und auch den Heimgegangenen gegenüber für alles, was sie uns und unseren Kindern gewesen sind. Andererseits ist’s ein sehr anschauliches Bild von dem Leben, das einst in Rußland war. Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer II, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 160 Vor etwa zwei Wochen erhielten wir von der Stiefschwester meiner lieben Frau aus der Verbannung in Sibirien folgende Todes-Nachricht: Vom 3. auf den 4. Dezember 1930 des Nachts brannte unser zweistöckiges Haus im Verbannungslager ab. Das Feuer entstand im oberen Stockwerk. In zwei Stunden war es nur noch ein Schutthaufen. Ein furchtbares Feuer, das uns aus dem ersten Schlaf schreckte. Die Sachen haben wir, außer Kleinigkeiten, alle gerettet. Aber viele sind nackend in Schnee und Frost herausge¬ kommen. Ich mit den Kindern bin bis jetzt ohne Schaden davongekommen. Aber unser teures, altes Mütterlein von 84 Jahren, das ich so schnell herausretten mußte, ist durch die Folgen und den Schreck eine Woche danach, den 11. Dezember, durch einen leichten sanften, seligen Tod in die obere Heimat gegangen, wo sie auf ewig erlöst ist von den schweren Tagen dieses Lebens. Den 11. Dezember haben wir sie eine Meile von hier ab, im Wald neben Tante Epp, die einen Monat eher starb, zur Grabesruhe gebracht. Es gehen uns viele Briefe verloren, unser Leben wird schwerer. Betet für uns und rettet uns bald alle, alle! Vielen tausend Dank für die Sendung. Noch zwei Tage vor Mutters Tod erhalten. Ein schönes Stück Speck, Reis und Zuckersand, vielmal herzlich Dankeschön! Auch für Mutter einen schönen Dank, sie war so froh, daß Ihr so besorgt um uns seid. Sie hat noch zweimal vom Speck gegessen, es hat ihr noch schön geschmeckt. Ihre letzten Worte waren, abends als ich sie zu Ruhe brachte: “Mein Heiland ist bei mir!” Um vier Uhr nachts schlief sie ein. Habe mit ihr keine Arbeit gehabt. Sie ist auf ewig bei dem Herrn, wonach sie sich schon so sehr sehnte. Deine Schwester. Der Brief spricht für sich ohne jedes weitere Wort! Wir sind dankbar für den Sieg Gottes, der sich auch im tiefsten Leid zu offenbaren vermag. Der Weg der heimgegangenen Schwiegermutter und ihrer Kinder gestaltete sich seit 1929 besonders schwer und leidvoll. Ihr Schwiegersohn mit seiner Familie und sie waren ebenfalls im Herbst 1929 in Moskau. Eines Tages erhielten wir die Nachricht, daß sie uns in den nächsten Tagen begrüßen würden, denn sie hätten den Paß für die Ausreise. Aber sie kamen nicht. Um seinen Bruder abzuwarten, hatte sich ihr Schwiegersohn entschlossen, noch einen Tag zu warten. So reisten sie nicht mit jenem Transport ab, mit dem sie hätten mitgehen können. Das wurde ihr Verhängnis. In derselben Nacht wurde der Schwieger¬ sohn arretiert und die ganze Familie und die Schwiegermutter in die Krim zurückgeschickt. Nach etwa acht Monaten wurde der Schwiegersohn und auch ihr Sohn nach Sibirien verbannt und sie mit ihrer Tochter und deren Familie mit einer ganzen Anzahl Freunde aus der Krim in verschlossenen Viehwagen in die Sumpfgebiete des Urals geschickt. Was sie dort durchlebt und durchlitten haben, weiß Gott. Sein Weg ist heilig! Auch dann, wenn wir und andere ihn nicht verstehen. Heilig ist mehr als 161 gerecht. Gottes heilige Wege machen keine Fehler. Sie lassen auch auf ihren dunkelsten Pfaden ein Kraft Gottes offenbar werden, die stärker ist als der Tod. Blieb hier auch manches ungeklärt und unverstanden, einst wird offenbar werden, daß auch im schwersten Leid Gott Gedanken des Friedens mit uns hatte. Dort werd’ ich das Licht erkennen, Was ich auf Erden dunkel sah, Das wunderbar und heilig nennen, Was unerforschlich hier geschah. Da schau’ ich im Zusammenhang, Des Höchsten Rat mit Preis und Dank. Der Schwiegervater starb bereits im Jahre 1908. Sein starkes energievolles Leben erlag einer schweren Krebskrankheit. Im Frühjahr war ich mit ihm und der Schwiegermutter noch in Wien, wo er sich einer sehr schweren Operation unterzog, die von dem weltberühmten Chirurgen und Krebsforscher Prof. Dr. Eiselt ausgeführt wurde. Anfänglich schien die Krankheit tatsächlich sichtlich zurückzugehen. Aber die große Wunde heilte nicht mehr. Im Sommer 1908 erlag er dem schweren Leiden. Er war in der Krim eine sehr bekannte und geachtete Persönlichkeit. Rührend gestaltete sich die Begräbnisfeier. Alte Freunde und Nachbarn wollten selbst seinen Sarg zum nahen Friedhof tragen. Das ließen jedoch die Arbeiter seiner Fabrik nicht zu. Um zu bekunden, wie sie ihren Fabrikherrn geschätzt und geliebt hätten, trugen sie seine irdische Hülle zur letzten Ruhe. Die ganze große Trauerversamm¬ lung nahm weinend teil. Wie dankbar sind wir jetzt, daß er die katastrophenreiche Zeit mit seinem unnennbaren innerlichen Weh nicht mehr durchleben durfte. Ja, Gott, Dein Weg ist heilig, ob er durch die tiefsten Leiden führt, oder ob er uns heimgehen läßt, bevor die Welt ihre Erschütterungen und Gerichte erlebt! Jakob Kröker, Wernigerode, Deutschland. Jakob Kroeker Hans Brandenburg Geb. 31. 10. 1872 in Gnadenthal in Südrußland, einer Siedlung der Mennoniten. 1881 mit den Eltern Uebersiedlung auf die Halbinsel Krim, wo das neue Mennonitendorf Spat gegründet wurde. Nach Besuch einer privaten Schule zur Ausbildung von Lehrern schon mit 19 Jahren Lehrer in einer Zweigkolonie von Spat. Vier Jahre Besuch des baptistischen Predigerseminars in Hamburg, die ersten beiden Jahre unter Begleitung seiner jungen Aus dem Buche: Sie wiesen auf Jesus, Arno Pagel, mit Erlaubnis des Verlages: Franke Buchhandlung GmbH, Marburg an der Lahn. 162 Jakob Kroeker Frau. Der erhoffte Dienst in der Aeußeren Mission aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich. Darum mennonitischer Reiseprediger im Süden Rußlands. Auf den weiten Reisen Bekanntschaft mit der evangelischen, erweck - lichen Bewegung unter den Russen, dem Stundismus. Uebersied- lung nach Halbstadt in der Molotschna (Ukraine), einem mennonitischen Zentrum. Beginn der Schriftstellerei, Aufbau eines Verlages, Lehrerfreizeiten, Bibelkurse. Gesegnete Begegnung mit Dr. Friedrich Wilhelm Baedeker, der Kroeker Zugang zu den erweckten Kreisen des russischen Adels in Petersburg (heute: Leningrad) verschafft. 1910 Uebersiedlung nach Wernigerode am Harz. Im Ersten Weltkrieg missionarischer Dienst in russischen Kriegsgefangenenlagern, zusammen mit Pastor Walter Jack. Erweckungen, Bibelkurse. Nach der Rückkehr nach Rußland werden viele der im Lager bekehrten Russen Erweckungsträger in ihrer Heimat. 1920 Gründung des Missionsbundes “Licht im Osten”. Reiche literarische- und Reisetätigkeit Jakob Kroekers. Nach dem Zweiten Weltkrieg Neubegründung der Missionsarbeit in Stuttgart-Mühlhausen. Dort Kroeker gest. 12. 12. 1948. Der Name hatte Gewicht, ehe ich den Mann kannte Es ist immer bewegend, im Rückblick festzustellen, auf welche Weise Gott jene Männer und Frauen unsere Straße kreuzen läßt, die er uns zur inneren Förderung und Erkenntnis Christi und des Glaubens gesetzt hat. Jakob Kroeker gehört zu den Männern, ohne die ich nicht das geworden wäre, was ich nach Gottes Willen sein soll. Ich habe ihn nicht gesucht, weil ich ihn nicht kannte. Was wußte ich als werdender Student vom geistlichen Aufbruch in Südrußland? Keine Ahnung hatte ich auch von einer Konferenz in Blankenburg in Thüringen, wo Christen aus Kirchen, Freikirchen und Gemein¬ schaftskreisen sich jährlich begegneten, um die Bruderliebe zu stärken. Doch dann wurde Jesus der Herr und Erneurer meines Lebens. Die Begegnung mit Menschen, die bei aller Verschiedenheit das gleiche erfahren hatten, wurde die nächste große Ueberraschung. Daß unter ihnen diejenige war, die meine Mitbeterin und Mitstreiterin und die Mutter meiner Kinder wurde, war eine weitere beglückende Erfahrung. Als wir beide in der Heimatstadt meiner ersten Frau, in Neustrelitz, die von den meisten unserer Verwandten belächelte Gemeinschaft und ihren Leiter aufsuchten, schenkte dieser mir ein schmales Büchlein mit dem Titel “Allein mit dem Meister” von Jakob Kroeker. Er fügte noch hinzu: “Werfen Sie die kleine Schrift nicht in einen Korb mit der oft etwas flüchtig hingeschriebenen Traktatliteratur. Sie ist etwas Besonderes.” Als wir beide die Schrift miteinander gelesen hatten, merkten wir sofort, daß jener Bruder nicht zuviel versprochen hatte. Der Name Kroeker bekam für mich ein Gewicht, ehe ich den Mann selber gesehen hatte. Es war ein Jahr später, als der Bielefelder CVJM, dessen Sekretär ich ein knappes Jahr gewesen war, mich bat, einen Vortrag zu halten. Ich zögerte zuerst, weil ich mich in der Vorbereitung auf das erste theologische Examen befand. Deshalb war mir jede Minute kostbar. Schließlich einigten wir uns auf ein Thema, das nicht viel Vorbereitung bedurfte. Ich hatte in der “Brockensammlung” in Bethel ein paar Hefte der Orientmission von Dr. Lepsius erworben, die mir zum erstenmal Nachricht gaben von den erregenden Ereignissen und Zuständen, die durch die Erweckung in Rußland hervorgerufen waren und den Sammel¬ namen “Stundismus” haben. Ukrainische und russische Bauern lernten von den deutschen Siedlern die “Stunde” kennen, wie noch heute in Württemberg die Gemeinschaftsversammlungen genannt werden. Von dieser Bewegung wollte ich erzählen. Wir überlegten das Thema des Vortrags und nannten es kurz: “Licht vom Osten” — nach dem lateinischen Wort “ex Oriente lux”: Vom Osten her, wo die Sonne aufgeht, kommt das Licht. Nach dem Vortrag sagte jemand zu mir: “Wissen Sie, daß Jakob Kroeker im Begriff ist, mit Pastor Walter Jack einen Missionsbund mit ähnlichem Namen zu gründen: ‘Licht dem Osten’?” Ich war erstaunt und zugleich erfreut zu wissen, wohin die kleine Kollekte dieses Tages gesandt werden sollte. Wieder Jakob Kroeker! Und in Wernigerode sollte er wohnen. Die persönliche Begegnung Es verging ein reichliches Jahr. Ich hatte inzwischen meine Lehrlingszeit als Vikar in einer Landgemeinde hinter mir und war, jung verheiratet, nach Halle an der Saale gezogen. Von dort aus sollte ich im Auftrag der “Deutschen Christlichen Studenten¬ vereinigung” (DCSV) die Universitäten und Hochschulen besuchen und den Studenten den Ruf Jesu übermitteln. Nun war ich nicht ferne vom Harz. Aus jener kleinen Kollektengabe war ein Briefwechsel mit Pastor Jack entstanden, und eine Einladung nach Wernigerode folgte. An einem nebligen Novembermorgen stiefelte ich mit meinem Köfferchen auf den Lindenberg in Wernigerode und fand die Gartenpforte zum Jackschen Hause. Ich wurde mit überraschender Wärme begrüßt 164 und war noch nicht lange mit einer Tasse Kaffee beschäftigt, als Jack sagte: “Bruder Kroeker kommt auch gleich.” Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Jack war als “Außenminister” der Feder¬ führende des Missionsbundes. Aber nun saß Kroeker mir gegenüber auf der Ofenbank, und ein unvergeßliches Gespräch begann. Ich nenne es unvergeßlich, obwohl ich seinen Inhalt nicht mehr wiedergeben kann. Ich merkte nur, daß der so freundlich lächelnde Mann mit seiner unverkennbar harten Aussprache, die sich von meinem Baltendeutsch noch unterschied, mich einem kleinen Examen unterwarf. Ich muß es wohl bestanden haben. Das merkte ich nicht nur an der noch wärmeren Herzlichkeit, die von nun an unser Verhältnis bestimmte. Ich wurde auch bald in das Komitee von “Licht im Osten”, wie die Missionsarbeit nun hieß, gewählt. Als DCSV-Sekretär hatte ich eine kleine Arbeitsgemeinschaft unter den Studenten gesammelt, die sich “Dienst für Christus unter den Studenten Rußlands” (DCSR) nannte. Wir traten in Briefwechsel mit Vertretern der Russischen Christlichen Studenten Vereinigung (RCSV), die der finnische Baron Nicolai einst gegründet hatte. Einige ihrer Glieder waren im Westen, wir aber suchten auch Verbindung mit den Studenten in Sowjet-Rußland und schickten ihnen Lebensmittel, Medikamente und Briefe. Wenn auch die Verbindung, bedingt durch den Bürgerkrieg drüben, bald abriß, so war doch dieser Studentenkreis des DCSR der Auslöser für die später so bedeutsam gewordene Glaubens- und Missionskonferenz im schönen Wernige¬ rode. Auf unsere Bitte wurde die erste Konferenz einberufen. Sie fand auf dem Lindenberg statt. Kroeker hielt eine Einführung in den Propheten Habakuk, die später in der Zeitschrift “Die Furche” erschien. Der ehemalige Senator Graf Konstantin von der Pahlen erzählte von Baron Nicolai, der sein Schwager gewesen war. Von nun an gab es eine beglückende Verbindung mit Jakob Kroeker, dem Vorsitzenden von “Licht im Osten”, und mit Walter Jack, dem Missionsinspektor. Welch eine Welt tat sich meinem Blick auf in der russischen Erweckungsbewegung, die sich in den ersten Jahren nach der Revolution fast ungehemmt ausbreiten konnte, ehe die harte Faust Stalins sie zu vernichten drohte. Kroeker und Jack kannten die Verhältnisse drüben gut und vermittelten mir das rechte Verständnis. Die vielfältige Hilfe, die wir den Brüdern drüben zukommen ließen, und alle die Vorgänge, die uns bewegten, wurden durch den vollmächtigen Dienst Kroekers ins Licht des Wortes Gottes gestellt. Das galt auch für die Sitzungen des Komitees, zu denen ich mehrmals im Jahr nach Wernigerode reiste. Ein Ohr geschärft für Gottes Reden Ich wurde Lehrer an der Theologischen Schule in Bethel. Als ich aber erkannte, daß hier meine Lebensaufgabe nicht sein könnte, erreichte mich der Ruf Kroekers, ganz in den Dienst von “Licht im Osten” zu treten. In den Osterferien 1922 fuhren wir mit unserem sechs Wochen alten ersten Kind nach Wernigerode. Ich sollte einige 165 Wochen vertretungsweise an der Bibelschule unterrichten. Aber ich konnte mich nicht entschließen, dauernd in der Arbeit zu bleiben, da meiner gesundheitlich gefährdeten Frau die ganzen Umstände zu fremd waren. Wie dankbar war ich den Brüdern, daß sie die Gründe meiner Absage verstanden! Unsere Gemeinschaft wurde dadurch nur fester. Das Haus Kroeker blieb meiner Frau und mir zu unser beider Freude eng verbunden. Höhepunkte waren stets die Glaubens- und Missionskonferenzen Anfang Juli in Wernigerode. Eine große Anzahl von Teilnehmern füllten dann täglich das Nöschenroder Schützenhaus. Zahlreiche Sommergäste der “bunten Stadt am Harz” beteiligten sich. Viele Ausländer waren von Anfang an dabei, besonders Schweden und Holländer. In der Mitte der Konferenz standen die Bibelvorträge Kroekers. Er hatte eine besondere Gabe, biblische Themen aufzustellen und Redner zu gewinnen, die ihm im gleichen Geiste zur Seite standen, etwa Hanns Lilje, Propst Rudger Mumssen, Professor Heinrich Rendtorff, den späteren Bischof, und andere. Immer traf man hier auch Glieder der östlichen Erweckungs¬ bewegung: Prochanow, den Organisator, Theologen und Dichter, Professor Marzinkowski, den Nachfolger Nicolais in der Führung der russischen christlichen Studenten, Fetler, den unermüdlichen Evangelisten, Fürstin Sophie Lieven, die treue Zeugin ihres Herrn, und viele andere. Es war das Besondere dieser Konferenzen, daß über die Missionsarbeit nicht ohne Beziehung zum Worte Gottes gesprochen wurde und daß dieses nicht verkündet wurde ohne Zuwendung zum Dienst der Gemeinde. Diese Verbundenheit wird leider oft vergessen. Wer Kroekers theologische Bibliothek besichtigte, war überrascht über die Weite seiner Forschung und seines Blickes. Neben den alten Biblizisten sah man die Vertreter der religions- geschichtlichen Schule. Neben Darbys Bibelauslegungen — die rabbinischen Kommentare und Lexika! Er war ein unermüdlicher geistiger Arbeiter. In den Jahren, wo er während des Ersten Weltkrieges als “russischer Staatsangehöriger” unter Polizeiauf¬ sicht gestellt und am Reisen gehindert war, benutzte er die erzwungene, aber zutiefst von Gott empfangene Ruhe zu eifrigem Studium, besonders auch zur Erlernung der hebräischen Sprache. Später durfte er in Berlin Vorlesungen hören und saß interessiert im Seminar von Professor Adolf Deißmann. Oben im höchsten Stock seines Hauses auf dem Lindenberg hatte Kroeker sich ein Prophetenstübchen ausbauen lassen, wo er ungestört seinen Studien oblag und seine Bücher schrieb. Bei klarem Wetter fiel sein Blick auf den Brocken, den sagenumgebenen Gipfel des schönen Harzes. Hier entstanden seine einzigartigen Auslegungen zum Alten Testament. Er nannte das Werk “Das lebendige Wort”. Worum es ihm ging, war nicht eine Lehre über die Bibel, auch nicht Lehrsätze aus der Bibel, sondern Gottes Rede zu uns durch die Bibel. Prophetische Durchblicke, tiefgründige 166 Erkenntnisse und Analogien für die Gegenwart machen die Bände so wertvoll. Ein führender Mann der evangelischen Kirche in Deutschland sagte einmal: “Bei Kroeker habe ich das Alte Testament lesen gelernt.” Dazu kamen Kroekers kleine Heiligungsschriften voll seel- sorgerlicher Weisheit. Die christliche Literatur in der deutschen Sprache ist nicht reich an dieser sogenannten “asketischen Literatur”. Neben dem schon genannten “Allein mit dem Meister”, einer Auslegung der Verklärungsgeschichte, entstanden die Bücher “Der verborgene Umgang mit Gott”, “Verhüllte Segenswege” und andere. Als junger Lehrer in Südrußland begegnete Jakob Kroeker Dr. Baedeker, dem bekannten Freund der Strafgefangenen Sibiriens. An der schlichten, tiefen Gläubigkeit dieses Patriarchen hat sich das Ohr Kroekers geschärft für Gottes Reden mit uns. Heilung vom Leerlauf Die vielseitige und theologisch gründliche Ausbildung, die Kroeker sich angeeignet hatte, öffnete ihm bald die Tür nicht nur zu den freikirchlichen und den landeskirchlichen Gemeinschaften. Begegnungen mit Karl Barth, Professor Rudolf Otto, Marburg, und andern akademischen Lehrern erschlossen ihm neue Erkenntnisse. Er wurde oft zu Pfarrerfreizeiten gerufen und wurde manchem Pastor ein Seelsorger und Berater. Bei all dieser Weite blieb er treues Glied seiner mennonitischen Freikirche. Er vermied allen Streit, auch den theologischen. Er nahm die Friedensliebe seiner mennonitischen Väter ernst. Darum litt er mehr als viele andere am Nationalsozialismus. Seine Friedenshebe galt selbst den Tieren gegenüber. Man muß es gesehen haben, wenn er abends seine Hühner in den Stall trieb. Das sah aus, als wollte er höflich sagen: “Bitte, meine Damen, wollen Sie die Güte haben, jetzt in Ihren Stall zu gehen!” Als ich ihn einmal warnte vor der Angriffslust der Wespen, die vor seinem Fenster ihr kunstvolles Nest gebaut hatten, sagte er schelmisch lächelnd: “Sie tun mir nichts, sie wissen ja, daß ich Mennonit bin.” Kroeker hatte einen natürlichen Humor bei all seiner geistlichen Ausrüstung. Das galt auch für sein Familienleben. Ohne sein “Mütterchen”, wie er seine Frau nannte, war er nicht zu denken. Er hatte seine Jugendgespielin geheiratet, die wie er im Jugendalter in der Heimatgemeinde auf der Krim erweckt worden war. Sie wurde die Mutter seiner zehn Kinder. Auch der Kinder¬ reichtum war ein mennonitisches Erbe. Da hielt man Kinderreich¬ tum noch für einen Segen Gottes. Das eigene reiche Familienleben ließ ihn auch warm am Leben der befreundeten Häuser teilnehmen. Was war das für eine Freude, wenn Jakob Kroeker uns in unserer Lichtenrader Wohnung am Waldesrand in Berlin besuchte! Seine Liebe zu Kindern wurde dann offenbar. Kroekers Bedeutung erschöpfte sich nicht in seinen theologi¬ schen Werken. Wer die Entwicklung unserer Kirche, der Mission, der Diakonie und weithin auch der freien Werke beobachtet, 167 erkennt bald einen Sog zur Verweltlichung. Werke persönlichen Glaubens und dienender Liebe werden im Laufe der Jahre zu “Institutionen”. Es klappt alles vorzüglich. Es ist alles gut durchorganisiert. Spezialisten stehen auf jedem Posten. Alles ist zeitgemäß ausgerichtet. Eine ungeheure Arbeit wird getan. Aber oft fragt man verzagt: Wo ist Gott und das Fragen nach seinem Willen in all dieser Geschäftigkeit der Sitzungen, Tagungen und Kongresse? Statuten und Apparaturen regieren. Hat Gottes Geist noch einen Einfluß? Wie schon oben gesagt wurde, hat Kroeker auf seinen Missionskonferenzen größten Wert darauf gelegt, daß die missionierende Gemeinde im Worte Gottes wurzelt. Erfolge sind noch nicht ein Zeichen des Segens Gottes. Wo das vergessen wird, da werden Missionsinspektoren zu Bürochefs, Pfarrer zu Funk¬ tionären, Bischöfe zu “Kirchenführern”. Kroeker wußte von dieser Gefahr, und wer ihm folgte, war gewarnt. Auch heute noch kann das Hören auf die Stimme dieses Gottesmannes manchen Leerlauf des kirchlichen Lebens heilen. Es geht um die Rückkehr zum Wort, um den lebendigen Umgang mit Gott, um die Stille vor ihm und die Bereitschaft, sich von ihm den Weg zeigen zu lassen. Die Begegnung mit Jakob Kroeker hat mir reichen Gewinn gebracht. Hans Brandenburg Einige Aussprüche und ein Gedicht von Jakob Kroeker Abschließend geben wir Jakob Kroeker, diesem gesegneten, prophetischen Zeugen, noch kurz selber das Wort: Von Krippe, Kreuz und Thron “Selig jene kleine Schar, die auch in unseren Tagen von Gott erleuchtete Augen hat und mitten in den Ereignissen der Zeit das große Werden und Wachsen des Reiches Gottes sieht, die immer als Kind erscheint, am Kreuz gerichtet wird und doch berufen ist, zum Heil der Welt die Krone zu tragen! Denn noch immer beginnt die Fleischwerdung des Wortes Gottes in der Krippe und nicht auf Thronen und Kathedern. Jeder Anfang des Reiches Gottes erscheint in Knechtsgestalt und nicht in königlicher Macht und menschlicher Weisheit ...” “Die Welt in ihrer Macht glaubt, durch das Kreuz den Dienst der Wahrheit aufheben oder einschränken zu können. Daher verkauft sie den Joseph nach Aegypten, verklagt sie den Daniel beim Hof, wirft sie nach dem David mit dem Speer, speist sie einen Jeremia mit Wasser und Tränenbrot, verbrennt sie einen Hus auf dem Scheiterhaufen, bereitet sie den Hugenotten eine Bluthochzeit und verschickt sie ihre Bürger nach Sibirien und Sachalin. Allein auf diesen Leidenswegen ist den Auserwählten weder der Dienst noch der Einfluß genommen worden. Sie sind vielmehr durch diese bevollmächtigt worden für weitere und höhere Dienste. Durch Sterben werden sie unsterblich, sie siegen durch Unterliegen ...” “Allein wer durchs Kreuz gerichtet ist, darf das Gericht des 168 Thrones nicht scheuen. Wer in dem gekreuzigten Lamm seinen Retter gefunden, darf in dem gekrönten Lamm nicht seinen Richter fürchten. Wer vor der Krippe mit Anbetung kniete und unter dem Kreuz sein verlorenes Leben ordnete, wird auch beim Sichtbarwerden der Krone mit Freuden das Haupt erheben, weil die Stunde seiner Erlösung geschlagen hat. Es werden alsdann mit ihm herrschen, die hier mit ihm gelitten haben. Die königlichen Dienste der Auserwählten Gottes in ihrer Vollkraft liegen vornehmlich in den kommenden Zeitaltern. Räumt man ihnen heute gelegentlich auch manchmal Einfluß im politischen, bürgerlichen und kirchlichen Leben ein, sie bleiben zuletzt doch immer nur die Geduldeten, priesterliehe Diener in der Schmach des Kreuzes.” Heiliges Ringen Das Größte kann vollbringen, wer auf den Knien ringt, wer auch in Nacht und Kerker noch Dankespsalmen singt. Er weiß, daß Gottes Wege nie enden in der Nacht und daß nach Sturm und Wetter die Frühlingssonne lacht. Und will ihn fast erdrücken so manche Last und Not, auf seinen Knien findet er Trost bei seinem Gott. Hier hört er Quellen rauschen von ewig junger Kraft, hier sieht er Gott am Werke, der ewig Neues schafft. Daher mit neuem Hoffen füllt hier sich seine Brust, er wird sich seines Dienstes wie nie zuvor bewußt, Mit klarem Blick und Ziele läßt er sein Kämmerlein: Er hat mit Gott geredet! Sein Dienst wird Segen sein. Weitere Auszüge aus Kroekers Büchern: “. . . Gottes urewiges Leben und Wesen ist Offenbarung, ist Selbstmitteilung . . .” “Dieses Geben von Gott her und dieses Empfangen vom Menschen aus, ohne das keine Gemeinschaft des Menschen mit Gott denkbar ist, kann nur durch die Offenbarung vermittelt werden.” “Ein dauerndes Schweigen Gottes würde die Menschen in ewige Nacht und Tod hüllen.” “Gottes Herrschaft wird nur sichtbar, wo Gottes Offenbarung zuvor reden und erlösen konnte.” “Denn zuvor auch der neue Mensch zur Erlösung leiten kann, muß in ihm selbst alles erst unter die Leitung er Erlösung gekommen sein.” “Wer gelöst ist in seinem Innenleben, weil er in der Abhängigkeit von Gott steht, bleibt gelöst auch inmitten der Welt.” “Sowohl im ‘Erwählen’ als auch im ‘Weihen’ handelt es sich um eine Aktivität, die außerhalb des Könnens eines Sterblichen liegt.” “Das Schrecklichste vom Schrecklichen war in der Geschichte doch noch immer der fanatische Mensch in seiner Religion.” “Nicht der Dienst auf dem Boden der Welt verunreinigt den heiligen Ueberrest, wohl aber eine anbefohlene Anbetung vor den 169 Götzen der Welt ... er kann wohl mit voller Hingabe dem Staate dienen, nicht aber in seiner Erkenntnis wider Gott sündigen.” “Wer wirklich von oben geboren ist, kann auch als Glied der gegenwärtigen Kirche nie mehr hier unten heimisch werden.” Landwirtschaft, Industrie und Handel Die Beschäftigung der Mennoniten auf der Krim war fast aus¬ schließlich Landwirtschaft in ihren verschiedenen Zweigen, zu allermeist aber Getreidebau. Ehe wir nun aber näher eingehen auf die landwirtschaftliche Betätigung der mennonitischen Bevölkerung, wollen wir kurz die klimatischen Verhältnisse und die Bodenbe¬ schaffenheit streifen, zwei Faktoren, die für die Landwirtschaft von entscheidender Bedeutung sind. Klima und Niederschläge. In geographischer und topographi¬ scher Beziehung war die Krimer Halbinsel, die Berge und die Süd¬ küste ausgenommen, eine Fortsetzung der südrussischen Steppe. Deshalb wies auch ihr Klima große Aehnlichkeit mit dem der Steppe auf. Man konnte es als ein mäßig-kontinentales bezeichnen, mit warmen, oft heißen Sommern und rauhen, zuweilen auch empfindlich kalten Wintern. Auch wehten oft starke Winde über das ebene, offene Land. Und doch, mit dem größten Teil des übrigen Rußland verglichen, konnte man das Klima mild nennen. In den ersten Jahren, als das meiste Land noch unbesiedelte Urwiese war, waren die Winter in der Regel strenger. So haben noch alte Siedler erzählt, daß man in der ersten Zeit zuweilen vom Frost erstarrte Hasen zwischen den Beinen der ruhenden Ochsen gefunden habe. Das änderte sich aber allmählich mit der Kultivierung des Landes. Aber auch später noch gab es ausnahmsweise sehr strenge Winter, wie etwa der von 1910/11, als im Januar manche armen Tataren, die auf die große Kälte nicht vorbereitet waren, in ihren armseligen Hütten erfroren. Schnee gab es in der Regel selten soviel, daß man es wagen durfte, längere Strecken auf dem Schlitten zu fahren. Es kam vor, daß man unvorsichtigerweise 60 bis 70 Kilometer mit dem Schlitten fuhr und übernachtete, dann aber gezwungen war, den Rückweg auf einem von Freunden geliehenen Wagen zu machen, weil inzwischen Tauwetter eingetreten und der Schnee zum größten Teil verschwunden war. Auf dem schneefreien Lande gingen die Pferde gewöhnlich bis Weihnachten auf die Weide, die Schafe aber oft den ganzen Winter hindurch. Die Sommermonate waren oft sehr heiß, aber zur Nacht trat dank der Nähe des Meeres gewöhnlich eine angenehme Kühle ein. An der Südküste herrschte, wie schon früher erwähnt, ein subtropisches Klima. Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer II, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 170 An Niederschlägen war die Krim arm, besonders in der warmen Hälfte des Jahres. Das ist um so merkwürdiger, als die Halbinsel doch mitten im Meere lag, eigentlich zwischen zwei Meeren, dem Schwarzen und dem Asowschen. Aber diese Wassermassen waren augenscheinlich nicht ausgedehnt genug, das Klima merklich zu ändern, und der Einfluß der großen, trockenen Landmassen im Norden und Osten war überwiegend. Der weitaus größte Teil der Feuchtigkeit fiel auf die Wintermonate. Dann fiel oft tagelang ein feiner Regen, der bei ein tretendem Frost die Wege sehr glatt und fast unfahrbar machte. Vom April an wurde es trocken, und so blieb es auch gewöhnlich durch den ganzen Sommer, mit nur seltenen Regengüssen, geschweige denn Regenperioden. So war es in den meisten von Mennoniten besiedelten Teilen der Krim, aber besonders die im Norden gelegenen Siedlungen litten oft an Trockenheit, da dort nicht selten auch die Wintemiederschläge nicht genügend waren. Nur näher zu den Bergen waren sie reichlicher. Die Bodenbeschaffenheit. Diese war sehr verschieden in den mennonitischen Siedlungen, je nachdem, in welchem Teile der Krim die Siedlung lag. Von beiden Seiten der Perekop-Landenge bis hinein in den nördlichen Teil der Halbinsel selbst zogen sich die großen Siwasch-Salzseen, auch Limanen genannt, aus denen gewaltige Mengen von Salz gewonnen wurden. Wenn man hier auf der Bahn fuhr, sah man zu beiden Seiten der Bahnlinie ganze Hügel von Salz. Dieser große Salzreichtum beeinflußte auch den Boden im nördlichen Teil der Krim, machte ihn salpetrig und damit weniger ertragsfähig, so daß er nur bei reichlicher Winterfeuchtigkeit gute Ernten ergab. Da die Niederschläge hier aber oft ungenügend waren, gab es im Durchschnitt nur schwache Ernten. Das Land war hier im Norden stellenweise auch ziemlich steinig. Die Siedlungen im mittleren und östlichen Teil der Krim hatten besseres, einige sehr gutes Land, mit einer guten Schicht fruchtbarer Schwarzerde, weshalb hier die Ernten durchweg besser ausfielen. Der Süden mit den Vorgebirgen war wieder reich an Kalkstein, und es gab hier viel “Unland”. Getreidebau. Wie schon gesagt, war Getreidebau der Haupt¬ zweig der mennonitischen Landwirtschaft auf der Krim. Weil die Niederschläge spärlich waren, besonders in der warmen Hälfte des Jahres, war es von größter Bedeutung, die Winterfeuchtigkeit im Boden aufzuspeichem für die trockenen Frühlings- und Sommer¬ monate. Deshalb folgte man hier schon früh dem Beispiel der Heimatkolonie, der Molotschna, indem man die Schwarzbrache einführte. Auf der Brache gab der Winterweizen, wenn der Boden nicht allzu salpetrig oder steinig war, gute, oft sehr gute Erträge. Die Brache wurde im Spätherbst mit dem Einschar gepflügt, dann während des folgenden Frühjahrs und Sommers durch mehrfaches Pflügen und Rühren mit dem mehrscharigen Pflug und dem Kultivator schwarz gehalten, bis man im September Winterweizen, seltener Roggen, hineinsäte. Bei auch nur einigermaßen genügen- 171 dem Regenfall brachten solche Weizenfelder 100 bis 150 Pud (1 Pud = 40 Pfund) oder auch mehr von der Deßjatine. Futtergetreide, Hafer, Gerste, oft auch Wintergerste, säte man nur für den eigenen Bedarf. Sehr verbreitet war auf der Krim auch die Maiskultur, besonders unter den schwäbischen Kolonisten. Aber auch bei den Mennoniten sah man allenthalben große Maisfelder, die auch als eine Art Grün- oder Halbbrache angesehen wurden. Der Mais gedieh hier sehr gut und war besonders geeignet zu Pferde- und Schweinefutter. Es muß hier noch beiläufig bemerkt werden, daß die Nachbarn der Mennoniten, besonders die lutherischen und katholischen Kolonisten, dann aber auch die Russen, den Mennoniten in der Landwirtschaft mit der Zeit manches absahen, so besonders die Anwendung der Schwarzbrache. Die Tataren arbeiteten nicht gern auf dem Lande. Sehr gut gediehen auf vielen Stellen der Krim auch die Wassermelonen, nach dem Russischen allgemein Arbusen genannt, eine bei den Mennoniten überall sehr beliebte Feldfrucht. Unter der heißen Sommersonne wurden die Wassermelonen groß und reiften gut aus. Welchem Rußland-Mennoniten wässert nicht der Mund bei der Erinnerung an die endlos großen “Baschtanen” (Wasser¬ melonenfelder), im Herbste besät mit der herrlichen, reifen, schwarzgestreiften oder dunkelgrünen Frucht! Die Arbuse lieferte nicht nur eine saftige, sehr wohlschmeckende Nachkost zu den Mahlzeiten, die Frauen kochten von dem Saft auch den schönsten Sirup, und zwar in solcher Menge, daß es für die Familie auf ein ganzes Jahr reichte. Schädlinge. Es waren außer der Dürre auch manche Schädlinge, die die Landwirtschaft hinderten und hemmten. In der ersten Zeit waren es die Heuschrecken, die viel Schaden anrichteten. Aber um die Jahrhundertwende waren sie so ziemlich verschwunden. Doch manche anderen Schädlinge waren geblieben, so der braune Weizenkäfer, der sehr verheerend wirkte, indem er die schon gefüllten, aber noch weichen Körner aussog. Da dieser Käfer lose auf den Aehren saß, bekämpfte man ihn dadurch, daß man lange, dicke Stricke, an deren jedes Ende ein Pferd gespannt war, über das Weizenfeld zog und so die Käfer abstreifte. Das war aber kein radikales Mittel. Sehr gefährlich war auch die im Süden Rußlands weitver¬ breitete Hessenfliege. Diese legte ihre Eier in die jungen Halme, bald, nachdem sie aufgegangen waren. Bald kamen dann die Larven aus und verrichteten ihre Zerstörungsarbeit, so daß das ganze Feld mit der Zeit eine ungesunde, gelbliche Farbe annahm und als verloren gelten mußte. Sehr verdient hat sich bei der Bekämpfung der Hessenfliege der unter den Deutschen Rußlands weit und breit bekannte und beliebte Professor Lindemann gemacht. Unter anderem riet er den Landwirten, den Winterweizen nicht vor dem 6. oder 7. Oktober zu säen, weil die Fliege, oder richtiger die Larve, die den Schaden anrichtet, sich dann schon 172 eingepuppt habe. Der Rat hat sich als sehr zweckdienlich erwiesen. Sehr viel Schaden richtete in einigen Jahren auch der sogenannte Mehltau oder Rost an, wenn die Witterung dafür günstig war. Auch hierdurch konnte ein vielversprechendes Weizenfeld in kurzer Zeit teilweise oder auch ganz vernichtet werden. Obst- und Weinbau. Der Obst- und Weinbau war so recht geeignet für die Krim. Jeder mennonitische Hof hatte einen größeren oder kleineren Garten, wo Obst der verschiedensten Art gezogen wurde, meist aber nur für den eigenen Bedarf. Dann gab es auf der Krim aber auch sehr große Gärten. Sie lagen entweder schon in den Bergen oder in den Tälern der Flüsse, richtiger Flüßchen, denn es gab auf der Krim keine großen Flüsse. Der bedeutendste Fluß war der Salgir mit seinen Nebenflüssen Karaßan und Burultscha. An den Flüssen konnten die Gärten nötigenfalls bewässert werden. Sie waren oft sehr groß, bis zu 150 Deßj. Einige davon befanden sich in mennonitischem Besitz. So hatte der Gutsbesitzer D. Dyck, Appanlee, einen Obstgarten von 60 Deßj. an der Burultscha, der ihm in guten Jahren bis zu 60 000 Rubel Einnahme brachte. Gewöhnlich wurde so ein Garten, nachdem die Frucht angesetzt hatte, bis zum Herbst, also für die Fruchtsaison, an Großhändler verpachtet. Viele Waggonladungen von Aepfeln und anderem Obst gingen alle Jahre aus diesen Gärten nach dem Norden Rußlands, wo man wegen des rauhen Klimas nicht Obst ziehen konnte. In den Bergen wurde auch von den Tataren viel Obst auf kleinen Parzellen gezogen, meistens Steinobst. Dieses wurde dann auf kleinen Ochsenkarren mit großen, hölzernen Rädern zum Verkauf auf die Steppe oder auch in die Städte gefahren. Für Weinbau war die Krim eine sehr geeignete Gegend. Auch Mennoniten zogen hier in früheren Zeiten Wein, und zwar zuweilen in großem Maßstabe, wodurch sich die Krimer Siedlungen von den meisten andern mennonitischen Siedlungen unterschieden. So hatte das Dorf Karaßan einen großen, gemeinsamen Weingarten angelegt, der zum Schutz gegen Diebe und herumtreibendes Vieh mit einer hohen, dichten Gladizienhecke (eine Art Akazie mit langen, spitzen Stacheln) umgeben war. Innerhalb dieser Umfriedung waren die einzelnen Parzellen durch Wege und Grenzen in geordneter Weise voneinander abgeteilt. Jeder Bauer hatte hier entsprechend seinem Besitz einen größeren oder kleineren Weingarten. Doch der viele Wein wurde zuletzt zu einem Problem. Die fremden Arbeiter im Dorf tranken ihn im Uebermaß, und dieses riß mit der Zeit auch in den Familien ein. Es kam wohl auch ab und zu vor, daß die Weinsuppe, ein sehr beliebtes Gericht, wie durch ein Versehen zu kräftig geriet und die Familie “froh” machte. Doch nicht die Suppen, sondern der immer größer werdende Weingenuß brachte die Dorfgemeinde schließlich zu dem Entschluß, die Weingärten auszuroden. Nur einzelne Bauern hatten noch Weingärten auf ihren Hofstellen behalten und machten 60—70 173 Eimer eigenen Wein, was auch nicht immer ohne bedenkliche Folgen für das Dorf blieb. Die größten Weingärten aber befanden sich in den Tälern und an den Abhängen der Taurischen Berge. Hier war, wie wir schon sahen, das mennonitische Phyloxerakommando angestellt zum Kampf gegen die verderbliche Reblaus. Diese Weingärten waren oft im Besitz des höchsten russischen Adels. Der Wein wurde in großen Fässern in langen, unterirdischen Galerien aufbewahrt. Der Verfasser hat einmal die Gelegenheit gehabt, durch die Weinkeller des russischen Kaisers zu gehen. In gewaltigen Fässern alterten hier die edelsten Weine für den Tisch des Kaisers und seines Hofes. Die Tataren fuhren die Trauben aus ihren kleinen Weingärten oft in die Steppe, auch in die mennonitischen Dörfer und tauschten sie dort gegen Weizen und anderes Getreide. Viehzucht. In älteren Zeiten wurde die Schafzucht in großem Maßstabe betrieben. Alles begünstigte zu jener Zeit diese Beschäftigung, besonders auch der fast unbegrenzte Raum und die außergewöhnlich niedrige Landpacht. Es gab damals viel große Schafherden, auch bei den Mennoniten. Diese wurden für die Sommermonate in die Berge getrieben und kamen dann im Herbst herab auf die abgeernteten Getreidefelder und die Weideplätze an den Limanen, wo sie auch den Winter über auf die Weide gingen. Dann aber, als das Land immer stärker kultiviert wurde und sich die Weidefläche verringerte, nahm die Schafzucht allmählich ab, und um 1914 waren schon nur einzelne große Schafherden geblieben, und zwar auf einigen großen Landgütern. Milchwirtschaft wurde nicht in großem Umfang betrieben. Jeder Bauer hielt einige Milchkühe, meistens nur für den eigenen Bedarf. Nur in der Nähe der großen Städte unterhielt man gewinn¬ bringende Milchwirtschaften. Auf den großen Gütern gab es reinrassiges Vieh, auch wurden da Pferde gezüchtet. Sonst war auf den Siedlungen nicht viel von Rassenvieh vorhanden, obzwar man durchweg gutes Vieh hielt. Nur das Dorf Sarona machte hierin eine Ausnahme. Dort züchtete man reinrassiges Vieh, und zwar zwei Rassen, die Siementaler (gelb-weiß) und die Holländer (schwarz¬ weiß). Die Zuchttiere ließ man sich aus dem Auslande kommen. Viel Butter und Käse wurde von hier nach der Hafenstadt Feodosia verkauft. Absatz der Produkte. Was den Absatz der landwirtschaftlichen Erzeugnisse betrifft, befanden sich die in der Nähe einer größeren Stadt, oder auch nur Eisenbahnstation gelegenen Siedlungen in einer weit günstigeren Lage als die weit davon entfernten. Besonders benachteiligt in dieser Beziehung waren die Siedlungen im Norden und Nordwesten der Krim, da es hier überhaupt keine Bahn gab. Wohl gab es an der Küste einige kleine Hafenanlagen, doch waren die so unvollkommen und der Andrang oft so groß, daß die Bauern es vorzogen, das Getreide direkt nach der Kreisstadt Eupatoria zu stellen, über eine Strecke von 50 bis 70 Kilometer. Merkwürdigerweise führte gerade nach dieser Stadt mit dem 174 berühmten Kurort lange keine Bahn. Diese wurde erst während des ersten Weltkrieges von Simferopol aus gebaut. Uebrigens war sie für die etwa in Frage kommenden mennonitischen Siedlungen von geringem Nutzen. So mußte denn sämtliches Getreide mit Pferdefuhrwerken in die Stadt befördert werden. Jede solche Fahrt dauerte volle zwei Tage. Man schloß sich dazu zu großen, oft 30 bis 40 Fuhren zählenden Zügen zusammen und brach gewöhnlich schon um drei Uhr früh auf. Mit den eingeschobenen Futterpausen und anderen, unvorgesehenen Aufenthalten wurde es meistens Abend, ehe man die Stadt erreicht und die Fracht abgeladen hatte. Anderentags, nach Erledigung der notwendigen Besorgungen in der Stadt, machte man sich wieder auf den Heimweg, und wiederum wurde es Abend, ehe man zu Hause ankam. Oft konnte das Getreide von den Wagen direkt in ausländische Frachtschiffe verladen werden, die im Herbst für diesen Zweck Eupatoria anliefen. Viel leichter waren Absatz und Verfrachtung des Getreides für die in der Nähe der Eisenbahn gelegenen Siedlungen. Ueberall auf den Bahnstationen gab es große Lagerräume zur Aufnahme des Getreides. Oft aber wurden für diesen Zweck auch leere Waggons bereitgestellt. Für den Transport zur Bahn wurde das Getreide in 200 Pfund fassende Säcke gefüllt. Das Fuhrwerken mit Getreide wurde in der Regel nicht von den Bauern selber besorgt, sondern von benachbarten Tataren. Die besaßen zwar selber etwas Land, arbeiteten auf ihm aber nicht gerne, verpachteten es lieber an die Deutschen und lebten sorglos und ohne schwere Arbeit auf ihren Fuhren. Zwischen ihnen und den Mennoniten bestand stets ein gutnachbarliches Verhältnis. Die in der Nähe größerer Städte gelegenen Siedlungen fanden dort einen guten Markt auch für Butter, Eier und Gartenprodukte. Johann Langemann 175 Industrie und Handel. So bedeutende industrielle Zentren, wie es Chortitza in der Alten Kolonie und Halbstadt an der Molotschna waren, gab es auf der Krim nicht. Und doch konnten auch die Krimer Siedlungen einige Industriewerke aufweisen. Da war vor allem die große Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen des J. Langemann in Spat. Schon in dem Kapitel über die einzelnen Siedlungen wurde J. Langemann erwähnt und darauf hingewiesen, daß er sich in mancherlei Beziehung verdient gemacht habe. Er stammte aus Margenau an der Molotschna und hatte in seiner Jugend das Schuhmacherhandwerk erlernt. Im Jahre 1881 kam er nach der Krim und spielte hier eine führende Rolle bei der Gründung der Dörfer Spat und Menlertschik. In Spat gründete er 1894 in Gemeinschaft mit einem gewissen Chimtzow eine Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen. Nach dem Tode Chimtzows verkauften dessen Erben ihren Anteil an der Fabrik an Langemann, und dieser wurde ihr alleiniger Besitzer. Er vergrößerte das Werk ständig, so daß es vor dem Ersten Weltkrieg bereits etwa 450 Arbeiter beschäftigte. Außer den landwirtschaftlichen Maschinen wurden hier auf Bestellung auch verschiedene andere Artikel hergestellt. Die Maschinen aus dieser Fabrik fanden Absatz nicht allein auf der ganzen Krim, sondern darüber hinaus auch in anderen Teilen Rußlands. Weiter war Langemann in Teilhaberschaft mit Janzen auch Besitzer einer großen Dampfmühle, ebenfalls in Spat. Langemann starb 1908 an einem schweren Krebsleiden, betrauert nicht nur von einem großen Verwandten- und Freundeskreise, sondern auch von seinen Arbeitern. In Spat befand sich noch eine zweite große Dampfmühle, die bald nach Beginn der Ansiedlung von F. Toews gebaut wurde. Sie ging später an P. Unruh über, der sie weiter ausbaute und vergrößerte. Auch auf anderen Stellen der Krim besaßen Krimer Landwirtschaftlicher Verein 176 Mennoniten Dampfmühlen, oft von ansehnlicher Größe. Diese Mühlen kauften einen Teil des Weizens aus den Dörfern auf, vermahlten ihn zu Mehl und versandten dieses in die Städte, vielfach auch ins Ausland. Die Dampfmühlen verdrängten langsam die Windmühlen der ersten Zeit. Einige davon blieben aber bis zuletzt erhalten. Unter diesen die “Holländermühle” in Spat, so genannt, weil sie holländischer Bauart war. Ladengeschäfte gab es in allen größeren Siedlungen. Einige davon waren große Konsumläden, wie die in Karaßan und Spat. Auch Niederlagen von aus dem Ausland importierten landwirt¬ schaftlichen Maschinen gab es in diesen Dörfern. Und schließlich hatte jedes von ihnen auch eine Buchhandlung. Ein Traktor des Amerikanischen Hilfswerks hilft bei der Ernte Der Landwirtschaftliche Verein. Im Jahre 1920 wurde auf der Krim unter Leitung von J. Langemann und J. Unruh ein landwirt¬ schaftlicher Verein gegründet. Etwas später wurde Heinrich Martins sein Vorsitzender. Dieser Verein hat die Bauern in der knappsten Zeit, so viel in seinen Kräften stand, mit Saatgetreide und Maschinen versehen. Im Dorfe Danilowka besaß er einen eigenen Landwirtschaftsbetrieb, der auch Saatgetreide produzierte. Als später im Zuge der amerikanischen Wirtschaftshilfe auch Traktoren hereingebracht wurden und es an Fachleuten zu ihrer Bedienung fehlte, hat der Verein sich um die Ausbildung von “Traktoristen” bemüht. So konnte durch sein Eingreifen viel Land für die Bauern gepflügt werden zu einer Zeit, als sie selber nicht mehr die dazu notwendige Zugkraft besaßen, weil ihnen die Pferde zum größten Teil genommen worden waren. In dieser Weise ist der Verein unter der geschickten Leitung von H. Martins den Siedlern in ihrer schwersten Zeit von großem Nutzen gewesen. Als dann zu Ende der 20er Jahre alle Freiheit verlorenging, mußte auch der 177 Landwirtschaftliche Verein seine Tätigkeit einstellen. H. Martins gelang es, 1929 über Moskau nach Deutschland zu entkommen. Hier sammelte sich um ihn eine Gruppe von Flüchtlingen, bei 700 Personen, mit denen er nach Brasilien ging, wo er einer der Hauptgründer der Kolonie Witmarsum am Krauel wurde. Das Gemeindewesen Die Karaßaner Mennonitengemeinde. Sehr bald nach der Gründung der ersten Siedlungen begann man sich zu einer Gemeinde zu organisieren. So entstand die Karaßaner Mennoniten¬ gemeinde, die älteste der Krim und bis zum Jahre 1884 auch die einzige Gemeinde dieser Richtung auf der Halbinsel. Ihr erster Aeltester war Jakob Wiebe. Nach seinem Tode wurde Prediger Heinrich B. Unruh, der Vater der Brüder Benjamin und Abraham Unruh, als Aeltester der Gemeinde gewählt. Er war ein begabter Mann und sehr beliebt bei seiner Gemeinde. Es war für ihn eine große, schwere Aufgabe, von seinem Wohnort aus, dem Dorfe Temir-Bulat im nördlichen Teil der Krim, die weit zerstreuten Gruppen seiner Gemeinde zu besuchen und zu bedienen. Dazu mußte er selbst wirtschaftlich schwer kämpfen, um mit seiner großen Familie durchzukommen. Als er, noch verhältnismäßig jung, im Jahre 1883 starb, wurde er von seiner Gemeinde tief betrauert. Prediger Friedrich Raabe wurde nun zum Aeltesten berufen. Am Anfänge seiner Amtszeit teilte sich ein Teil der Gemeinde ab und gründete die Gemeinde Ettingerbrunn, später Busau, im nordwestlichen Teil der Halbinsel. Da Aeltester Raabe mit den Ausscheidenden mitging, wurde Abraham Friesen an seiner Statt Aeltester der Karaßaner Gemeinde. Er war ehemaliger Lehrer und hat der Gemeinde mit großer Treue bis in sein Alter gedient. Nach seinem Rücktritt wegen Altersschwäche wurde Hermann Rempel, Lehrer und Prediger, zum Aeltesten berufen. Im Jahre 1921 trat er aus der Gemeinde aus und gründete die evangelische Brüdergemeinde oder Allianzgemeinde, deren Aeltester er wurde. Ihm folgte im Amt Peter Loetkemann, der der Gemeinde bis zu ihrer Auflösung durch die bolschewistische Regierung gedient hat. Einige bedeutende Prediger dieser Gemeinde waren: August Strauß, Prediger seit 1894, Johann Tjart, seit 1896, Heinrich Rempel, Absolvent von St. Crischona, Schweiz, seit 1896, Kornelius Janzen, studierte Theologie an der Universität Bern in der Schweiz, war Leiter der Zentralschule in Spat. Schon 1905 hatte die Karaßaner Gemeinde eine Mitgliederzahl von 846 Seelen, welche Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer I, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 178 Zahl später noch bedeutend gestiegen ist. Die Gemeinde hatte ein schönes, großes Gotteshaus im Dorfe Karaßan. Filialen dieser Gemeinde waren: Spat, seit 1882, mit einem Bethause, Djurman, seit 1884, und Pascha-Tschakmak, seit 1890. Die Mennonitengemeinde Busau-Aktatschi (früher Ettinger- brunn). Die Busauer Gemeinde ist hervorgegangen aus der Ettin- gerbrunner Gemeinde, die sich um Sarybasch, dem ehemaligen Ettingerbrunn, konzentrierte und sich über die Dörfer Tokultschak, Temirbulat, Busau, Aktatschi, Safronowka, Jalantusch, Montenai und einige andere erstreckte. Der erste Aelteste war Friedrich Raabe, der mit der Gemeinde von Karaßan mitgekommen war. Als er aber im Jahre 1889 aus gewissen Gründen außer Amt gesetzt wurde und bald danach starb, blieb die große und weitzerstreute Gemeinde ohne geistlichen Vorstand, außer dem Diakon Jakob Driedger. In diesen trüben Zeiten wurde die Gemeinde ab und zu von auswärtigen Predigern besucht, was aber nicht oft geschah. Mit Taufe und Abendmahl wurde sie von dem Aeltesten der Karaßaner Gemeinde A. Friesen bedient. Angesichts dieses großen Mangels an Arbeitern wurden nun in den Jahren 1890—1895 drei Predigerwahlen anberaumt, und die Brüder Peter Stobbe, Abr. Rempel, Heinrich Martins, Abr. Berg und Abr. Unruh zu Predigern gewählt und ordiniert. Weil das Bedienen der Gemeinde mit Taufe und Abendmahl dem Aeltesten der Karaßaner Gemeinde, A. Friesen, mit der Zeit zu schwer wurde, fühlte man immer mehr das Bedürfnis, einen eigenen Aeltesten zu haben, und so wurde am 11. Februar 1901 eine Aeltestenwahl anberaumt. Mit großer Stimmenmehrheit wurde Pr. H. Martins zum Aeltesten gewählt. Die Ordination fand am 2. April desselben Jahres in Busau unter großer Beteiligung statt. Die Gemeinde freute sich und dankte Gott, nun ihren eigenen Aeltesten zu haben. Es war dieser Tag eigentlich auch der Gründungstag der Busauer Gemeinde als solcher. Mit der Aeltestenbefestigung wurde der Name Ettingerbrunner Gemeinde fallen gelassen, weil das ehemalige Ettingerbrunn inzwischen in nichtmennonitische Hände übergegangen war, und sie hieß fortan Busauer oder auch zuweilen Busau-Artatschi-Gemeinde. Hatte H. Martins schon als Prediger in seiner anziehenden und gewinnenden Weise die Sympathie der großen Mehrheit der Gemeinde für sich gehabt, so steigerte sich dieselbe noch bedeutend während seiner Tätigkeit als Aeltester. Besonders gern hatten ihn die ärmeren Gemeindeglieder, weil er gerade diese des öfteren aufsuchte. Er versuchte sich in seinem hohen Beruf als Prediger und Aeltester weiterzubilden. Auch vertrat er warm die Einheit aller Gläubigen und war so ein Vertreter des Allianzgedankens. Deshalb besuchte er gern die Bibelkurse auf Appanlee, die den Charakter christlicher Allianz trugen. Leider konnte dieser edle Mann seiner Gemeinde nur viereinhalb Jahre dienen. Auf der Heimreise von einem der erwähnten Bibelkurse erkrankte er an der Ruhr und starb am 11. November 1905 zum großen Leidwesen seiner Gemeinde. 179 Am 4. April wurde dann eine neue Aeltestenwahl vorge¬ nommen, wobei durch große Stimmenmehrheit Pred. P. Friedrichsen gewählt wurde. Die Befestigung fand am 7. Mai unter reger Beteiligung statt. Im Laufe von 20 Jahren hat P. Friedrichsen dann mit ganzer Hingabe treu und gewissenhaft seinem Amte vorgestanden, bis er am 26. Juli 1926 nach längerem Nervenleiden, wobei er doch noch immer seines Amtes waltete, einging zur ewigen Ruhe. Schon zur Amtszeit vom Aeltesten H. Martins wirkte an der Gemeinde der Evangelist Karl Friedrichsen, der seine theologische Ausbildung in St. Crischona bei Basel in der Schweiz erhalten hatte. Am 30. Mai 1911 wurde er zum Prediger dieser Gemeinde ordiniert. Er war damals schon Religionslehrer an der Zentralschule zu Spat. Es sind dann noch wiederholt Predigerwahlen vorgenommen worden, aber nur mit teilweisem Erfolg. Es wurde immer schwerer, junge Brüder für den Dienst an der Gemeinde heranzuziehen. Mit dem Ausbruch des Krieges und dann der Revolution wurden auch die Zeiten immer ernster. Nach dem Heimgang von Aeltester Friedrichsen beschloß die Gemeinde, nicht einen Aeltesten, sondern nur einen Gemeindeleiter zu wählen, und zwar wurde H. Dyck dazu gewählt. Zur Bolschewistenzeit, Ende der zwanziger Jahre, wurde die Busauer Gemeinde auf behördliche Vorschrift in Rayons eingeteilt und später in Gruppen, wobei jedes Dorf, das mehr als zwanzig Glieder aufwies, eine besondere Gruppe bildete. Zum Schluß erwähnen wir noch, daß diese große Gemeinde nie ein eigenes Gotteshaus besessen hat. Die Gottesdienste wurden in den verschiedenen Schulen abgehalten. Die Mennoniten-Brüdergemeinde. Die Mennoniten-Brüder- gemeinde auf der Krim nahm ihren Anfang um die Mitte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Schon etliche Jahre zuvor hatten auf verschiedenen Stellen Erweckungen stattgefunden, hervorge¬ rufen durch die Arbeit von Molotschnaer Reisepredigern der Rückenauer Gemeinde. Die Neubekehrten organisierten sich bald zu einer Filiale der Rückenauer Gemeinde mit ihrem Zentrum in Spat. Im Frühling 1885 fand die erste Taufe statt. Im Flusse Salgir bei Spat wurden durch den Aeltesten D. Schellenberg von Rückenau 21 Seelen getauft. Es wurde nun auch bald die erste Predigerwahl vorgenommen. Gewählt wurde Hermann Konrad, der im September 1886 von Aeltesten D. Schellenberg ordiniert wurde. Da die Versammlungen immer größer wurden, fühlte man bald das Bedürfnis nach einem geeigneten Bethause. Man brachte die Sache wiederholt vor Gott, und er hat auch wunderbar geholfen. Obzwar die Gemeinde arm war, etliche Glieder sogar sehr arm, ging man im Frühling 1887 mit Mut und Freudigkeit an die Arbeit, und im Herbst war das Haus fertig. Viel Arbeit wurde von den Gliedern am Ort kostenlos geleistet, und das fehlende Geld erhielt man von etlichen auswärtigen Brüdern für sehr geringe Zinsen geliehen. Diese Schuld wurde in wenigen Jahren abgetragen. Die Auswir- 180 kung der Bestätigung des Bethauses bei der Regierung wurde den Brüdern P.M. Friesen, dem späteren Historiker, und J.P. Isaak übertragen und wurde bereits im Frühjahr 1887 vom Gouverneur erteilt. Am 11. Oktober desselben Jahres wurde das Bethaus eingeweiht. Das war für die junge Gemeinde ein wichtiges Ereignis. Viele waren aus der Nähe und Ferne gekommen, um an der Freude und dem Dank gegen Gott teilzunehmen, der es möglich gemacht hatte, daß die Gemeinde so schnell zu einem eigenen Versammlungs- hause kommen konnte. Um diese Zeit nahm die Zahl der Gemeindeglieder stetig zu, und es fehlte an Arbeitern am Wort. Es fanden mehrere Predigerwahlen statt. Im Jahre 1890 wurden folgende Brüder gewählt und auch bald ordiniert: Abr. Wall, Kornelius Boschmann, Bernhard Friesen und Daniel Friesen, und im Jahre 1894 die Brüder Peter Goerzen, Jakob Hiebert und Heinrich Janzen. Dazu kehrte 1895 Kroeker von seinem Arbeitsfeld in Rumänien zurück, und 1897 kam Jakob Kroeker nach Beendigung seines theologischen Studiums in Hamburg zurück nach Spat. Die Gemeinde erhielt dadurch zwei gediegene Kräfte. Diese beiden Brüder begannen nun auch bald mit der Herausgabe des Christlichen Familienkalenders und des Christlichen Abreißkalenders. Auch mit der Herausgabe der “Friedensstimme”, der ersten mennonitischen Zeitschrift in Rußland, wurde hier begonnen. Im Jahre 1899 hatte die Krimer Gemeinde die Freude, Heinrich Unruh nach Beendigung seines theologischen Studiums in Hamburg mit seiner Frau zusammen zu ordinieren und als Missionare nach Indien abzusenden, und einige Jahre später seinen Bruder Cornelius Unruh in dieselbe Arbeit abzuordnen. Sie waren beide Brüder von Prof. Dr. B. Unruh, Karlsruhe, Deutschland. Im Jahre 1897 folgte Lehrer und Prediger David Dürksen dem Ruf der Gemeinde und zog von der Molotschna (Margenau) nach dem Dorfe Schöntal auf der Krim. Die Gemeinde übertrug ihm die Leitung, und am 23. Mai 1899 wurde er von den beiden Aeltesten D. Schellenberg und A. Lepp feierlich als Aeltester der Krimer Brüdergemeinde ordiniert. Die Gemeinde war hierdurch selbständig geworden, bisher war sie eine Filiale der Rückenauer Gemeinde an der Molotschna gewesen. Hier in Schöntal wurde auch bald ein großes, schönes Versammlungshaus erbaut mit über 600 Sitz¬ plätzen, und Schöntal wurde von nun an das Zentrum der Gemeinde. Aeltester D. Dürksen hat der Gemeinde 13 Jahre lang, bis zu seinem Tode, mit viel Treue und in großem Segen gedient. Selbst ein hervorragender Pädagoge, hat er sich als langjähriges Glied des Schulrates mit viel Erfolg an dem Aufbau des mennonitischen Schulwesens auf der Krim beteiligt. Ueberhaupt hat die Brüdergemeinde regen Anteil genommen an den Erziehungsbestrebungen der Krimer Mennoniten, so auch an der Gründung und Unterhaltung der beiden Zentralschulen in Karaßan und Spat. Im Jahre 1910 bestand die Gemeinde aus 140 Familien mit 330 Mitgliedern und 880 Seelen aller Zugehörigen. Diese Zahlen sind 181 später noch bedeutend gestiegen. Abteilungen im Sinne von Filialen hatte die Gemeinde nicht. Alle Gruppen bildeten miteinander eine kompakte Gemeinde mit den zwei Haupt¬ versammlungsorten Schöntal und Spat und den drei andern Gruppen: Annowka mit einem Yersammlungshause, Baschlitscha und Tokultschak. Während des Ersten Weltkrieges wurde der Brüdergemeinde, wie auch den andern deutschen Gemeinden der Krim, eine Zeitlang die deutsche Predigt verboten. Auch wurde der Gemeinde das Versammlungshaus genommen und ein Kriegslazarett darin ein¬ gerichtet. Aber da in Spat noch eine Kirche war, nahm die Kirchen¬ gemeinde die Brüdergemeinde freundlich in ihr Gotteshaus auf. 1919 brannte diese Kirche aus unbekannten Ursachen total nieder. Das war im Oktober, um die Zeit, als die Weißen aus Spat fliehen mußten. Jetzt benutzte die Brüdergemeinde die Gelegenheit und nahm wieder ihr Versammlungshaus ein, reinigte es und durfte nun an der Kirchengemeinde vergelten, was diese zuvor an ihr getan hatte. Bis zur Auflösung der Gemeinden durch die Regierung benutzten sie gemeinsam dasselbe Gotteshaus, ein schönes Beispiel brüderlicher Eintracht und Liebe. Die Evangelische Brüdergemeinde. Im Jahre 1921 entstand auf der Krim eine neue Gemeinde, die Evangelische Brüdergemeinde. Ihr Gründer war Hermann Rempel, stammend aus Gnadenfeld an der Molotschna. Er kam als junger Mann nach Karaßan, wo er eine Stellung als Lehrer an der Elementarschule übernahm. Nach einigen Jahren wählte ihn die Mennonitengemeinde zum Prediger. Nach dem Rücktritt des alten Aeltesten A. Friesen berief ihn die Gemeinde zu ihrem Aeltesten. Als solcher strebte er mit einigen anderen Predigern eine geistliche Neubelebung an. Die Schritte, die er zu diesem Zwecke unternahm, stießen aber auf eine heftige Opposition eines Teiles seiner Gemeinde, was Rempel veranlaßte, mit einigen anderen Predigern zusammen aus der Gemeinde auszutreten und eine neue Gemeinde unter obigem Namen zu gründen, deren Aeltester er wurde. Rempel betonte Buße, Bekehrung und Heiligung und führte nach dem Beispiel der Brüdergemeinde die Flußtaufe ein. Nach einem Jahre bestand die Gemeinde, die viel Aehnlichkeit mit der Allianzgemeinde an der Molotschna hatte, aus 137 Gliedern und 7 Predigern. In den folgenden Jahren wuchs sie stetig, aber dann kam mit dem Eintreten der ReligionsVerfolgungen auch hier alles geistliche Leben zum Stillstand. Aeltester Rempel wurde arretiert, mußte eine Zeitlang Sklavenarbeit in den Schachten bei Jusowo tun und wurde dann nach Sibirien verbannt, wo er schließlich an den Folgen der vielen Entbehrungen und Mißhandlungen gestorben ist. Die Krimer Mennoniten-Brüdergemeinde. Noch einer anderen Gemeinde müssen wir hier Erwähnung tun, die auch auf der Krim entstand, der sogenannten Krimer-Mennoniten-Brüdergemeinde. 182 Ihr Gründer war Jakob Wiebe, 1836 in Margenau an der Molotschna geboren. Viele Schulen waren damals an der Molotschna noch so schlecht (also noch vor der Corniesschen Schulreform), daß der junge Jakob kaum lesen und schreiben lernte. Als er noch ganz jung war, starb sein Vater, und er mußte sich seinen Unterhalt selbst erarbeiten, indem er als Knecht diente. Durch große Sparsamkeit erübrigte er dabei eine kleine Summe Geld, und als bald nach dem Krimkriege auf der Krim Land feilgeboten wurde, kaufte Wiebe, der sich inzwischen verheiratet hatte, mit noch andern ein Tatarendorf auf, und so entstand die mennonitische Siedlung Annafeld, später Annowka. Der Anfang war sehr schwer, und da es bezeichnend auch für noch andere frühe Siedlungen der Krim ist, was Wiebe über diesen Anfang sagt, bringen wir einen kurzen Auszug aus seinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Er schreibt: “Es war unser Vornehmen, schnell reich zu werden, aber der gnädige Gott ließ unser hoffärtiges Treiben nicht gelingen. Er wollte uns reich machen an den Gütern seines Heils. Wir wurden fast alle ganz arm, durch Miß wachs und auch, weil wir die Gegend nicht kannten. Giftige Spinnen verursachten viele Schmerzen. Ein Nachbar beging in seinem verzagten Zustand Selbstmord.” Hier bekehrte sich Wiebe und mit ihm eine Gruppe der Siedler. In seiner Jugend hatte er bei einem Prediger der sogenannten Kleinen Gemeinde gedient, die sich an der Molotschna schon früh von der Großen oder Lichtenauer Gemeinde abgetrennt hatte und deren Glieder ein stilles, frommes Leben führten bei großer Einfachheit der Sitten. Ein Prediger dieser Gemeinde besuchte die Siedler und predigte dort. Es kam aber nicht zum Anschluß an dieselbe, da Meinungsverschiedenheiten wegen der Taufe entstan¬ den. Auch mit der damals schon bestehenden Mennoniten-Brüder¬ gemeinde ging man in diesen Fragen auseinander, und so entstand eine neue Gemeinde, die den Namen “Krimer”-Mennoniten-Brüder- gemeinde erhielt, und deren Prediger und Aeltester Jakob Wiebe wurde. Es war ein kleiner Anfang, bei der Gründung waren es nur 18 Glieder. Dann aber kamen mehr Siedler von der Molotschna und schlossen sich an, meistens aus den Gliedern der Kleinen Gemeinde. So kam es, daß man mit dieser manches gemeinsam hatte, besonders auch die Schlichtheit im äußeren Lebenswandel. Auch stand man fest zu den mennonitischen Sonderlehren, besonders der Wehrlosigkeit. Es wurde die Untertauchungstaufe eingeführt, aber zum Unterschied von der Brüdergemeinde kniete der Täufling dabei im Wasser und wurde nach vorne übergebeugt. Aber nicht lange sollte die neue Gemeinde auf der Krim ihren Aufenthalt haben. Als die russische Regierung anfangs der 70er Jahre anfing, die Wehrfreiheit der Mennoniten einzuschränken und infolgedessen eine große Auswanderung nach Amerika einsetzte, verließ die ganze Gemeinde Rußland und zog mit ihrem Aeltesten nach Amerika. Hier fand man eine neue Heimat im Staate Kansas. Die Gemeinde ist auch in Amerika nie groß geworden. 183 Die Schulen Als die Krimer Siedlungen gegründet wurden, die ersten Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, manche noch bedeutend später, bestand an der Molotschna, woher die Siedler kamen, schon ein geordnetes Schulwesen. Die Corniessche Reform in den 40er Jahren hatte gute Früchte gezeitigt. Seit den 70er Jahren gab es in Halbstadt eine Lehrerbildungsanstalt, und die in dieser Anstalt vorgebildeten Lehrer gingen vielfach in die auswärtigen Siedlungen, auch auf die Krim. So war es denn ganz naturgemäß, daß das Schulwesen hier nicht einen so langsamen, schwierigen Entwicklungsgang durchzu¬ gehen brauchte wie in der Heimatkolonie. In vereinzelten Fällen kam es ja in der ersten Zeit auch vor, daß Personen, die keine Vorbildung hatten und überhaupt ungeeignet für diese Arbeit waren, angestellt werden mußten. Aber bald kamen vorgebildete Lehrer von der Molotschna, und das Schulwesen entwickelte sich rasch in erfreulicher Weise. Als die Ansiedlungen wohlhabender wurden, bemühte man sich auch, solide, schöne Schulhäuser aufzuführen, besonders auch, da man gutes Baumaterial reichlich zur Hand hatte. Nur in den Pachtdörfern sahen die Schulen zuweilen ärmlicher aus. Der Baustil der Schulhäuser war im wesentlichen derselbe wie an der Molotschna. Wir haben bei der Beschreibung der einzelnen Siedlungen in vielen Fällen auch der Elementarschulen und ihrer Lehrer Erwähnung getan und werden uns darin hier schon nicht wiederholen. Lehrerkonferenzen. Die Lehrer der näher beieinanderliegenden Dörfer hielten ihre regelmäßigen Lehrerkonferenzen ab, auf denen Probelektionen gegeben und besprochen wurden, wo man miteinander in Fühlung trat und bestrebt war das professionelle Interesse zu beleben und zu fördern. Diese Konferenzen fanden abwechselnd in den Schulen der Dörfer einer bestimmten Gruppe an den Sonnabenden statt. Zuweilen mußten die Lehrer einen weiten Weg zurücklegen, um an den für die Konferenz festgelegten Ort zu gelangen. Es gab aber auch Konferenzen im all-Krimer Maßstab. Einen offiziell bestätigten Lehrerverein, wie an der Molotschna, gab es auf der Krim nicht. Der Schulrat. Der Krimer Schulrat war anfangs eine Abteilung des Molotschnaer mennonitischen Schulrats, wurde später aber selbständig. Er beaufsichtigte den Unterricht in Religion und Deutsch in den mennonitischen Schulen. Bei der großen Zerstreutheit und den weiten Entfernungen war das keine leichte Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer I, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 184 Sache. In Gemeinschaft mit einer aus Lehrern bestehenden Prüfungskommission examinierte der Schulrat auch die austreten¬ den Schüler in Religion und deutscher Sprache. In Sachen des Schulrates, wie des Schulwesens überhaupt, hat sich besonders der in diesem Buche mehrfach erwähnte Aelteste D. Dürksen verdient gemacht. Im Jahre 1910, dem Todesjahr von Aelt. Dürksen, bestand der Schulrat aus folgenden Personen: Aeltester Heinrich Martins, Prediger Franz Isaak, Prediger August Strauß und Prediger Hermann Rempel. Fortbildungsschulen. Etwa vier jahrzehnte nach der Gründung der ältesten Dörfer gab es in der Krim keine Fortbildungsschulen. Es war wohl anfangs auch noch kein besonderes Bedürfnis dafür da, wie auch die Mittel dazu noch fehlten. Es fanden sich aber immer mehr Eltern, die ihren Söhnen, zuweilen auch Töchtern, eine höhere Bildung zukommen lassen wollten. Und so schickte man denn die jungen Leute in immer größerer Zahl in die Zentralschulen der Heimatkolonie, nach Ohrloff oder Halbstadt. Es kam auch vor, daß man die Söhne in die Zentralschulen der lutherischen Kolonien schickte. So war es denn ganz natürlich, daß das Verlangen nach einer eigenen Fortbildungsschule aufstieg und mit den Jahren immer stärker wurde. Zudem war der Wohlstand in den Gemeinden dermaßen gestiegen, daß die Gründung einer eigenen Fortbildungs¬ schule sehr gut möglich war. Es fehlte auch nicht an erleuchteten Männern, die bereit waren, die Sache in die Hand zu nehmen. Doch galt es noch, manche Hindernisse zu überwinden, ehe es zur Gründung einer Schule, oder wie es später geschah, zweier Schulen kam. Ein Hindernis war, wie so oft, die mennonitische Uneinigkeit, die es zu überwinden galt. Im Jahre 1902 fand in der Schule zu Spat eine große Beratung in dieser Angelegenheit statt. Ein jeder, der sich für eine Fortbildungsschule interessierte, war eingeladen, und man war auch in großer Zahl erschienen. Die Versammlung war im Prinzip auch für die Gründung einer Zentralschule, aber die Ortsfrage stieß auf Hindernisse. Es kamen eigentlich nur die zwei großen Dörfer Spat und Karaßan in Betracht. Aber gerade hier konnte man sich nicht einigen. Ein Teil der Versammlung war für Spat, der andere für Karaßan. Die ganze gute Sache schien an diesem Hindernis scheitern zu wollen. Doch Mennoniten finden immer einen Ausweg, wenn nicht so, dann anders. Da man in Karaßan die Hoffnung aufgegeben hatte, mit Spat zu einer Einigung zu kommen, beschloß man, auf eigene Faust vorzugehen. Es bildete sich hier ein Schulverein, der auch bald an die Gründung einer Schule ging, und so entstand im Jahre 1905 die Karaßaner Zentralschule. Als man in Spat davon erfuhr, sagte man sich: ”waut Karaßaun kaun, kaun Spat uck.” Es wurde wieder eine Beratung anberaumt, und die Versammlung sprach sich fast einstimmig für die Gründung einer Schule auch in Spat aus. Die Sache kam in Fluß. Die Dörfer Spat und Menlertschik gingen zusammen, andere Dörfer schlossen sich an, eine Gründerver- 185 Sammlung wurde in Spat anberaumt, und ein Schulverein entstand. So kam es auch in Spat im Jahre 1906, also nur ein Jahr nach Karaßan, zur Gründung einer Zentralschule. Aus der anfänglichen Uneinigkeit war dieses Mal doch noch etwas Gutes gekommen, die Krim hatte anstatt einer, zwei Zentral¬ schulen. Beide Schulen haben zum Nutzen und Segen der Krimer Gemeinden gearbeitet, so lange die politischen Verhältnisse es gestatteten. Es traf auch nicht ein, was manche befürchtet hatten, daß zwischen den beiden Schulen eine Konkurrenz entstehen könnte und daß eine der andern die Schüler wegnehmen werde. Beide Schulen hatten während der ganzen Zeit ihres Bestehens die volle Schülerzahl, und beide hatten durchweg auch gute Lehrer, und zwar nur mennonitische. Erst zur Kriegszeit war man genötigt, in jeder Schule auch einen russischen Lehrer anzustellen. Beide Schulen waren also Privat-, richtiger Vereinsschulen. Sie hatten beide den Typus der Molotschnaer Zentralschulen mit drei Klassen. In löblicher Weise gingen beide Gemeinderichtungen, die “kirchliche” und die MB-Gemeinde, in dieser großen Sache Hand in Hand. Da sich auch die reichen Gutsbesitzer an der Gründung und Unterhaltung der Schulen rege beteiligten, so entwickelte sich das gute Werk sehr schnell. Wir wollen nun beide Schulen noch etwas näher beschreiben. Die Karaßaner Zentralschule. Wir beginnen mit der Schule in Karaßan als der zuerst gegründeten. Das Schulgebäude und dessen Einweihung haben wir bei der Beschreibung des Dorfes Karaßan schon erwähnt. Wir fügen nur noch hinzu, daß diese Schule auch eine kleine meteorologische Station besaß, wo die Schüler das Wetter studieren und sich in der Beobachtung desselben üben konnten. Die ersten Lehrer waren Karl Friedrichsen, K. Bergmann und Ergler, ein Nichtmennonit. 1915, zur Zeit des Ersten Weltkrieges, mußte Lehrer Friedrichsen die Schule verlassen wegen angeblich antipatriotischer Gesinnung. An seine Stelle kam Johann Einweihung der Karaßaner Zentralschule (1905) 186 Wilmson von Halbstadt an die Schule. Als Religionslehrer arbeitete um diese Zeit Prediger J. Loetkemann. 1918, zur Zeit der deutschen Besetzung, wurde Prediger Abraham Unruh zum Leiter und Religionslehrer an die Schule berufen. Mit ihm zusammen unterrichteten damals P. Wilmson, M. Wilmson und M. Janzen. Vorsitzender des Schulvereins, der die Schule gegründet hatte und unterhielt, war um diese Zeit Prediger J.G. Wiens. 1920 verließ Prediger A. Unruh die Schule und ging nach Tschongraw als Lehrer der neugegründeten Bibelschule. Lehrer Wilmson wurde nun Leiter an seiner Stelle. So arbeitete die Schule mit gutem Erfolg ungefähr bis zur Mitte der zwanziger Jahre, unterstützt von allen drei Gemeinderichtungen. Die bolschewistische Regierung hatte sich bisher wenig in das innere Leben der Schule eingemischt. Dann aber wurde alles anders. Die mennonitischen Lehrer wurden entlassen und sechs Nichtmenno- niten angestellt. Es wurde auch ein Internat eingerichtet, wo die Schüler in Kost und Quartier waren. Das weitere Schicksal der ehemaligen Karaßaner Zentralschule ist unbekannt. Die Karaßaner Zentralschule war ausschließlich eine Knaben¬ schule. Zur weiteren Ausbildung der Mädchen gründete man in Karaßan etwas später eine Mädchenschule. Lehrerin und Schülerinnen einer Mädchenschulklasse in Karaßan (1910) 187 Die Spater Zentralschule. Auch in Spat ging man sofort an den Bau eines schönen, soliden Schulgebäudes. Es war erfreulich, die rege Beteiligung so vieler an diesem wichtigen Werke zu sehen. Einige Bewohner von Spat gaben ihre leeren Baustellen her, um Platz für die neue Schule zu schaffen, andere holten unentgeltlich Steine herbei von dem 15 Kilometer entferten Steinbruch, noch andere schafften den Sand aus einer Entfernung von 40 Kilometern Zentralschule in Spat herbei. So entstand die schöne Spater Zentralschule, eine Zierde des Dorfes. Unter großer Beteiligung wurde das Gebäude noch in demselben Jahre (1906) eingeweiht. Es wurden auch gleich zwei Wohnhäuser für die Lehrer erbaut und ein Jahr später ein drittes, alle nach einem Muster. Eine Eigentümlichkeit dieser Schule war, daß hier auch Mädchen aufgenommen wurden. Auch dieser Umstand trug viel dazu bei, immer eine volle Schülerzahl zu sichern. Nun war dieses aber eine wichtige Neuerung für mennonitische Zentralschulen, die bisher alle ausnahmslos Knabenschulen gewesen waren. Wie bei allen Neuerungen, so regten sich auch hier manche Bedenken, und es fand sich auch Opposition. Doch waren, wie es sich herausstellte, diese Bedenken grundlos. Die Sache hat sich als gut und zweckent¬ sprechend erwiesen. Manches mennonitische Mädchen aus Spat und Umgegend hat eine höhere Schulbildung erhalten, was wohl nicht der Fall gewesen wäre, hätte die Schule nur Knaben aufge¬ nommen. In Karaßan war diese Frage, wie wir sahen, auf eine andere Weise gelöst worden. Die Schule war glücklich, gleich am Anfang drei gute, voll qualifizierte Lehrer zu erhalten. Diese waren: Cornelius Janzen, stammend von Sagradowka, Franz Ediger und Daniel Enns, beide von der Molotschna. Besonders war der letztere eine hervorragende pädagogische Kraft. Dann hat die Schule auch später noch eine Anzahl sehr guter Lehrer gehabt, unter andern C. Lehn und Heinrich Ediger, stammend aus Berdjansk. 188 Die Bibelschule in Tschongraw. Weiter hatte die Krim eine Bibelschule, die einzige mennonitische Bibelschule in Rußland, wenn wir diejenige auf der Station Dawlekanowo, die nur sehr kurze Zeit existierte, nicht rechnen. Aus diesem Grunde beschreiben wir diese Schule etwas näher. Schon längere Zeit hatte man, besonders in den Kreisen der Brüdergemeinde, die Notwendigkeit erkannt, die angehenden Arbeiter in der Gemeinde mit einer gründlicheren Bibelkenntnis auszurüsten und den angehenden Missionaren den Anfang der Ausbildung für ihren Beruf schon in Rußland zu geben. Deshalb wurde Missionar Johann Wiens auf der Sitzung des Missionskomitees der Brüdergemeinde in Halbstadt im Frühling 1918 gebeten, solchen Personen Unterricht zu erteilen. Auf die diesbezügliche Bekanntmachung meldeten sich 30 Personen. Das aber brachte Schwierigkeiten mit sich. Einmal hatte man nicht mit so einer großen Zahl gerechnet, und zum anderen war der Bildungsgrad der Angemeldeten sehr verschieden. Daraufhin wurde beschlossen, im Dorfe Tschongraw auf der Krim, wo Missionar J. Wiens seit seiner Rückkehr aus Indien wohnte, eine regelrechte Bibelschule zu gründen. Es fanden sich noch zwei andere Lehrer, die Prediger Heinrich Braun und Gerhard Reimer. Im Jahre 1920 kam noch Prediger Abraham Unruh hinzu, und Unruh und Wiens waren fortan die Seele der Schule. Angenommen wurden in der Schule Personen beiderlei Geschlechts, die gläubig waren, einen unanstößigen Wandel führten und sich irgendwie im Dienste am Wort nützlich machen wollten. Da man in drei Klassen arbeitete, war der verschiedene Bildungsgrad nicht mehr ein so großes Hindernis. Die Schüler kamen nicht nur von der Krim, sondern auch aus den verschiedensten mennonitischen Siedlungen des weiten Rußlands: von der Molotschna, der Alten Kolonie, Memrik, Ignatjew, Samara, Orenburg und Sibirien. So haben auch die Gemeinden außerhalb der Krim Nutzen und Segen von dieser Schule gehabt, und zwar nicht nur die Brüdergemeinde, sondern auch die andern mennonitischen Gemeinden. So ist es auch zu verstehen, daß alle Gemeinden der Krim beschlossen, die Bibelschule zu unterstützen. Wir bringen nun kurz etwas aus dem Programm der Schule. In der ersten Klasse wurde besonders deutsche Sprache getrieben, daneben Uebung im russischen und der Anfang im englischen Bibellesen. Weitere Gegenstände waren: Alttestamentliche Exegese, Heil. Geschichte, Kirchengeschichte, Geographie Palästinas, Altertumskunde, Naturgeschichte und praktische Homiletik. In der zweiten Klasse lernten die Schüler Glaubenslehre, Heil. Geschichte, neutestamentliche Exegese und Theologie, Psychologie, Homiletik, deutsche und englische Sprache. In der dritten Klasse wurden die meisten dieser Fächer fortgesetzt. Auch wurde der Gesang sehr geübt. Wie aus diesem reichhaltigen Programm ersichtlich, wurde in der Schule tüchtig gearbeitet. Dr. A. Unruh, der die Geschichte der Schule in einer Broschüre kurz schildert, schreibt wörtlich: “Gerade die ernste Arbeit, deren es bedurfte, diesen Stoff zu bewältigen, gab der Schule den ernsten Geist, sintemal die Schüler 189 es tief empfanden, daß sie nicht zu oberflächlicher Erbauung zusammengekommen seien, sondern zu einer soliden Arbeit, zur Aneignung eines gründlichen biblischen Wissens. Der Arbeitsgeist in der Schule schafft Ordnung, bewahrt vor leichtfertigem Betragen und bildet Charakter.” Von Anfang an war die Schule den bolschewistischen Macht¬ habern ein Dorn im Auge, und auf mancherlei Art und Weise hat man versucht, sie zu verderben. So wurden im Jahre 1920, als die Bolschewisten die Krim endgültig eingenommen hatten, Lehrer und Schüler verhaftet und ins Russendorf zum Verhör gebracht. Aber der Ankläger erwies sich als ein falscher Zeuge, und alle kamen frei. Auch noch andere Versuche, der Schule zu schaden, schlugen fehl. Dann aber, im Jahre 1924, gelang es den Lokalbehörden doch, höheren Ortes die Schließung der Schule auszuwirken, und im März dieses Jahres stellte sie ihre Tätigkeit ein, nachdem sie den Gemeinden sechs Jahre lang in gesegneter Weise gedient hatte. Bei ihrer Schließung hatte die Schule fünfzig Schüler. Abram J. Klassen, Prediger und Leiter der Mennoniten Gemeinde zu Spat, Krim, Süd- Rußland, und Mitglied der KfK. Abram J. Klassen, Sohn des Jakob P. Klassen und seiner Gattin Agnes, Tochter des Aeltesten Abram H. Görz, Ohrloff, wurde geboren am 3. Dezember 1884 in Ohrloff, Taurien, Süd- Rußland. Wohl im Jahre 1893 zogen seine Eltern nach Spat, in der Krim, wo sie sich eine Wirtschaft erworben hatten. In Spat besuchte A. Klassen die Dorfschule und nach Beendigung derselben absolvierte er in drei Jahren den Kursus der Ohrloff er Zentralschule. Die ihm von Gott verliehenen geistigen Gaben standen wohl über dem allgemeinen Durchschnitt, denn er war ein wahrhaft gebildeter Mann. Mehr aber als Schulen und Privatunterricht ihm bei seiner Charakterbildung gegeben, war der Einfluß seiner Mutter, die eine glaubensstarke Christin war; die ihre Kinder auf Händen des Gebets erzog und ihnen wahres Christentum vorlebte. Am 18. August 1902 starb sein Vater, und Abram, der älteste Sohn, führte der verwitweten Mutter die Wirtschaft und half ihr die drei jüngeren Brüder und ein Schwesterlein zu erziehen. Die auf dem jungen Abram liegende und von ihm tief empfundene Verantwortung und Führerschaft in so jungen Jahren halfen seinen Charakter zu stärken und ihn für seinen Glaubenskampf fähig und widerstandsfähig zu machen. Im Oktober 1903 ging seine Mutter eine zweite Ehe ein und sie Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer I, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 190 konnte Abram jetzt entbehren. Er warf sich aufs Selbststudium im Privatunterricht, sich für Lehrerexamen vorzubereiten. Zwei Jahre (die Schuljahre 1904—1905 und 1905—1906?) war er Lehrer in dem Dorfe Ebenfeld. Kreis Nowo-Usensk, Gouvemment Samara. Da hatte er sich die Liebe der Schüler, die Achtung der Jugend und die Anerkennung der Alten und der ganzen Gemeinde erworben, daß er allen in Ebenfeld unvergeßlich gebheben. Dann mußte er auf der Alt-Berdjaner Forstei seinen Vaterlandsdienst ableisten; er bekleidete den Posten des Metereo- logen. Im Oktober 1910 verheiratete er sich mit Agnes A. Esau von Spat, und mit seiner jungen Frau ging er auf etwa ein Jahr nach Barwenkowo, in Fröses Handelsgeschäft, um da den Handel zu erlernen. Darauf eröffnete er in Spat seinen eigenen Handel und ein Kommissionsgeschäft, die befriedigenden materiellen Erfolg auf¬ wiesen. Bald nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er eingezogen und diente als Sanitäter erst in Simferopol, dann in einem Sanatorium in Szaki, einem Kurort in der Krim. Nach dem Kriege wurde er von seiner Heimatgemeinde in Spat zum Prediger berufen und ordiniert (wann?). Auch wurde er als Mitglied und Vertreter für die Krimer Gemeinden in die KfK gewählt (wann?). Mit großen Verlusten hatte er, während er im Sanitätsdienst stand, sein Geschäft liquidieren müssen. Er wurde Bauer. Die Revolution und der Bürgerkrieg brachten ihm, wie allen anderen, den wirtschaftlichen Ruin. Zu Pfingsten 1925 besuchte ihn sein Bruder Peter, der acht Jahre in Ebenfeld, wo Abram früher zwei Jahre Lehrer gewesen war, sein Nachfolger als Lehrer gewesen war; die Ebenfelder Gemeinde hatte Peter zu ihrem Prediger berufen. Neun Jahre hatten die Brüder sich nicht gesehen. Peter kam zum Abschied, denn er stand im Begriff, nach Mexiko oder Kanada auszuwandem, wohin Gott seinen Weg führen würde. Peter wollte den Abram überreden, auch den Wanderstab zu ergreifen und eine neue Heimat zu suchen, denn in Rußland drohe dem Mennonitentum Vernichtung und Untergang. Das sah auch Abram ein, aber er glaubte, er habe erst noch eine große und schwere Aufgabe zu erfüllen und auf Peters Bitten und Drängen beim letzten Abschied, sagte Abram: “Damit bleibe mir weg, Bruder! Du mußt fort; je schneller du über die Grenze kommst, desto besser. Ich befürchte, du kommst schon nicht über die Grenze, denn die G.P.U. hat dich schon lange auf dem schwarzen Brett. Du hast Tausenden deiner leidenden Mitmenschen helfen und zum Segen sein dürfen. Du hast für den Nächsten gearbeitet und gewirkt, solange du konntest. Dich kennen die roten Behörden und die G.P.U. von Uralsk bis Moskau, und deine öffentliche Tätigkeit und Arbeit für Gemeinde und Deutschtum an der Wolga ist ihnen ein Dorn im Auge. Wenn du nicht sehr bald freiwillig von der Bildfläche verschwindest, wird die 191 G.P.U. dich plötzlich verschwinden lassen. Deine Rolle in Rußland ist ausgespielt. Darum gehe, solange du noch gehen kannst und darfst! Ganz anders stehen die Sachen mit mir. Meine Rolle in Rußland ist noch nicht ausgespielt, meine Arbeit hier noch nicht getan, sie fängt jetzt erst recht an: Meine Gemeinde bedarf meiner jetzt mehr denn je zuvor! Soll ich die Flinte in den Graben werfen und das Hasenpanier in dem Moment ergreifen, wenn der Feind zum Angriff bläst? Du, ich selbst und jedermann würde mich verachten — und erst mein Herr und Meister! —, sollte ich jetzt meine Gemeinde verlassen! Ich bleibe auf meinem Posten, bis mein Feldherr mich gehen heißt, oder ich im Kampf für meinen Meister falle. Fahnenflüchtig werde ich nicht.” Mit heiliger Begeisterung, die Augen in edlem Feuer leuchtend, und überzeugungsvoll hatte Abram gesprochen. Peter ergriff, tief erschüttert und bewegt seine Hand und drückte sie warm und kräftig und sagte: “Du hast recht Bruder! Selig der Mann, den sein Meister und Feldherr, wenn er kommt, findet also tun! Gott helfe dir, den Kampf zu vollenden!” So schieden die Brüder auf nimmer Wiedersehen auf dieser Erde . . . Im Januar 1926 fing der Kampf für Abram J. Klassen und seinen Amtsgenossen Prediger J.J. Wiebe aus Minlertschik, Krim, an. Waren die zwei Amtsgenossen, so wurden sie jetzt Leidens- und Kampfgenossen und erlebten wohl gemeinsam alles, bis Wiebe kurz vor Klassens Tode weiter verschickt wurde. Jetzt wurden sie vor die Wahl gestellt, sich freiwillig des Predigeramtes zu entsagen und alle Tätigkeit auf seelsorgerischem Gebiet aufzugeben und sich alle Bürgerrechte zu erhalten, oder sie würden aller Bürgerrechte verlustig erklärt und aller Existenz¬ möglichkeiten beraubt werden. Abram schrieb an Peter, der inzwischen, Oktober 1925, nach Kanada gekommen war: “Ich bleibe auf meinem Posten, bis ich vom Feldherm höre: Gehe, dein Werk ist getan!” November 1926 schreibt Abram: “Ich bin einen Monat als Prediger in der Krim auf Reisen gewesen und habe alle besucht, allen gedient mit dem Worte, die ich erreichen konnte.” Immer schwerer und unmöglicher wird die Amts- und Gemeindearbeit, bis Abram vom 28. Oktober 1928 berichtet: “Ich bin mit Prediger J.J. Wiebe wegen Verwendung bei der Obrigkeit für 44 mennonitische Jünglinge 32 Tage in Simferopol bei der G.P.U. im Gefängnis gewesen. Du hast in unserer Hausbücherei ja das Buch “Die spanische Inquisition” gelesen. Was wir erlitten haben, ist gegenüber dem dort gesagten: “Dir ward die Hälfte nicht gesagt;” — Jetzt ist meine Rolle hier ausgespielt! Ich habe getan, was ich konnte; mehr kann weder ich noch jemand anderer hier tun. Jetzt darf ich gehen, ob ich kann, wird die Zeit lehren. Wenn’s Dir möglich ist, besorge uns Einreiseerlaubnis usw.!” 192 Brief vom 5. Oktober 1929: “Danke, lieber Bruder! Einreise¬ erlaubnis und Freikarten für uns bei der Ruskapa in Moskau eingetroffen, aber ich kann nicht reisen, denn ich bin einmal wieder Gast bei der G.P.U. (Verhaftet!). Weil man ganz genau weiß, daß ich mein Wort nicht breche, hat man mir das Versprechen abgenommen, daß ich nicht entfliehen werde und hat mich aus der Haft entlassen, bis meine Sache vor das Gericht kommt. — Welch ein Widerspruch! Er entkräftigt ja jegliche Anklage. — Da beschuldigt man und klagt mich an der größten Verbrechen, die nach dem Gesetz mit dem Tode bestraft werden, und doch weiß man, daß man mir aufs Wort glauben und vertrauen kann und — läßt mir die Freiheit! Ich darf zu Hause bei den Meinen sein, muß mich nur zweimal in der Woche bei der G.P.U. in Simferopol melden. In den Büchern der G.P.U. werde ich, als mich im Gefängnis befindend, geführt und wer steckt sich die Nahrungsmit¬ tel und Verpflegungsgelder ein! So macht man hier Geschäfte!” Vom 14. Oktober 1929 berichtet Abram ausführlich von der “Flucht nach Moskau”. — “Eine wilde Panik hat alle Deutschen ergriffen . . . Meine Lage ist zum Verzweifeln, unhaltbar!” Genaue Daten fehlen, wann er wieder in G.P.U. Gefängnis eingekerkert wurde, aber was er und Prediger J.J. Wiebe da haben aushalten müssen, spottet, nach später erhaltenen Berichten jeder Beschreibung. Sie wurden beschuldigt, die Urheber der “Flucht nach Moskau” zu sein. Klassen wurde Tag für Tag von 12 bis 19 Stunden ohne Unterbrechung im Verhör gehalten. Auf unmensch¬ liche Folterungen und Drohungen folgten verlockende Angebote: “Verleugne Gott! Bekenne öffentlich, daß du den dummen Bauern wissentlich einen Gott gepredigt, den es gar nicht gibt, nur um sie von der Kirche aus zu beherrschen und ihre Dummheit auszu- nützen. Bekenne das, und sogleich geben wir dir Ausreisepässe und Geldmittel genug, daß du dich mit deiner Familie und deinen Angehörigen sogleich ins Ausland begeben kannst. Wir kümmern uns den Teufel um dich, magst dort tun, was du willst, aber hier ist uns dein Einfluß zu groß und stark. Führtest du sie nicht an, die dummen Bauern würden sich bald bereden lassen.” Aus der Verbannung schrieb Klassen später, daß die G.P.U. ihn gewiß los- und ins Ausland gelassen hätte, wenn er seinen Gott öffentlich verleugnet hätte. Prediger Abram Klassen blieb seinem Gott treu, wurde nicht fahnenflüchtig! Er und J.J. Wiebe und noch drei Leidensgefährten wurden alle (wann?) zum Tode verurteilt . . . Vom 6. April 1930 berichtet Hans Klassen, daß Abram auf zehn Jahre nach dem hohen Norden in die Verbannung verurteilt sei. (Wer, warum und wann das Todesurteil abgewandt, ist mir unbekannt.) Am 2. Februar 1930, während A. Klassen in Simferopol im Gefängnis war, als seine Frau mit ihren Kindern beim kargen Mittagsmahl saß — Schmalhans war schon lange bei ihnen Küchenmeister gewesen — drangen plötzlich eine wilde Horde 193 G.P.U.-Schergen ins Haus und vertrieben Frau Klassen und ihre Kinder, mit nur den Kleidern, die sie auf dem Leibe hatten, aus ihrem Hause, raubten, vernichteten und stahlen alles, was die Familie noch hatte. Frau Klassen ergriff eine Decke, in die sie ihren jüngsten Sohn wickelte, haschte vom Tische noch ein halbes Brot . . . stand nun auf der Straße, obdachlos, heimatlos, Kälte und Hunger, dem Verderben preisgegeben; scheinbar auch von Menschen und Gott verlassen. Wer solche Ausgesiedelte und Vertriebene auf nahm, wurde selber vertrieben und aller Habe beraubt. Dessen ungeachtet nahm Hans Klassen seines Bruders Abram Familie in sein Haus auf. Am 24. April 1930 wurden aus Spat 24 mennonitische Familien nach Simferopol befördert, um von da, als schädliche Kulaken¬ elemente, nach dem hohen Norden verschickt zu werden. Unter diesen war auch Frau Klassen mit ihren Kindern. In zwei Tagen gingen von Simferopol acht lange Züge mit Verbannten nach dem hohen Norden ab. Und als die acht Züge abgegangen waren, da waren vier mennonitische Familien zurückgeblieben; die waren nicht aufgerufen worden beim Einladen der Verbannten. Auch Frau Klassen mit ihren Kindern war zurückgeblieben. Wem die Zurück¬ gebliebenen dieses zu verdanken hatten, ist nicht aufgeklärt worden; wahrscheinlich einem heimlichen Freunde in der G.P.U. Die Zurückgebliebenen erhielten Bürgerscheine und das Recht, ihr verschlepptes Hab und Gut, soweit sie es finden konnten, zurückzu verlangen. Aber mehr als die Hälfte war und blieb verschwunden. Auch wurde Frau Klassen erlaubt, wieder ihr Haus zu beziehen. Frau Klassen und die ältesten Kinder hatten A. Klassen in den letzten Wochen, nachdem er in die Verbannung verurteilt war, einzelne Male auf wenige Minuten besuchen und ihm Lebensmittel bringen dürfen. Sie hatten den Gatten und Vater kaum wiedererkannt, so arg hatte er leiden müssen! A. Klassens einziger Brief an seinen Bruder in Kanada: — “Den 8. Juni 1930 . . . Seit dem 14. Mai bin ich hier in der Verbannung. Als ich abgeschickt wurde, standen Agnes (seine Frau) Olga und Hans auf dem Perron; meine jüngsten Kinder habe ich nicht mehr gesehen . . . Meine Füße und Beine sehen wie Zaunpfosten aus — bin krank und müde und finde doch trotz schwerer körperlicher Arbeit keinen Schlaf. Die Nerven wollen versagen. Habe in den zwei letzten Jahren sehr viel leiden müssen; besonders die sieben letzten Monate waren unbeschreiblich qualvoll und schwer. Heute ist Pfingstsonntag. Habe mir Jeremia 29 und 30 und Apostelgeschichte 2 gelesen. Meine Bibel ist mir, Gott sei Dank, verblieben. Doch Tränen verdunkeln meinen Blick, und mangelndes Gottvertrauen will den Mut und die Hoffnung sinken lassen. — Und doch mit Gottes Hilfe und Beistand werden wir auch dieses Schwere tragen und ertragen. Mein Trost: Ich bin unschuldig! 194 Helft meiner Familie! Schreibe nicht an mich direkt; Agnes wird mir Deine Briefe zuschicken. Auch ich kann und darf von hier nicht schreiben. Dieser Brief geht auf Umwegen an Dich ab. Gott befohlen! Abram.” Nach Möglichkeit wurde A. Klassen von Kanada und von Spat aus mit Lebensmittelpaketen unterstützt. Vom 10. August berichtet seine Frau: “Abram war vor Hunger schon ganz geschwollen gewesen, ehe das erste Lebensmittelpaket ihn erreicht hatte. Bessere und reichlichere Lebensmittel haben seine Gesund¬ heit verbessert und ihn kräftiger gemacht.” Dann blieben jegliche Nachrichten aus Rußland monatelang ganz aus. Endlich kamen die Nachrichten. A. Klassen hatte sich etwas erholt, seine Gesundheit gebessert. Im Archangelschen, beim Dorfe Jerestnaja, (Sawod Sibulona?) arbeitete er in der Kanzlei, wohl so fünf Monate lang(?). Not, Trennung von Familie und Heimat, Ueberanstrengung und das rauhe Klima untergruben seine Gesundheit sehr schnell. Er hatte einen sehr verantwortungsvollen Posten, verwaltete die Schlüssel der Geldkasse und führte die Kassenbücher, aber seine Vorgesetzten brachten ihm volles Vertrauen entgegen. Er war angesehen und beliebt bei jedermann; die Bevölkerung nannte ihn “Nasch Batjuschka” (unser Väterchen, unser Seelsorger). Als er kränker wurde, besuchte und tröstete ihn sein Freund und Kampf- und Leidensgefährte J.J. Wiebe. Zwei Blutstürze erlitt Klassen. Vom ersten erholte er sich, und die Aerzte gaben Hoffnung, daß im Frühling der böse Husten ihn verlassen würde. Nach dem zweiten Blutsturz wurde Prediger J.J. Wiebe nach Nowo-Roßijsk (?) verschickt. Das griff Klassen so an, daß er nun schnell dahinsiechte und ins Krankenhaus bei Sibulon gebracht wurde. Ihn zu erhalten, brachten Aerzte und Hospitalangestellte und Vorgesetzte ihm Lebensmittel von ihren kargen Rationen und bezahlten die Medizin. Einen Monat lag er im Krankenhaus sehr schwer darnieder. Sein anderer Leidensgenosse (?) Federau schrieb an Klassens Frau, wenn sie ihren Gatten noch lebend antreffen wolle, müsse sie sofort kommen. . . . Vom Süden her auf Archangelsk zu dampft ein Zug. In einem Wagen dritter Klasse sitzt Frau A. Klassen und ihr ältester Sohn Hans. Alle ihre Gedanken und Worte drehen sich um den sterbenden Gatten und Vater. Der Brief von ? Federau hat sie die lange, beschwerliche und so sehr teure Reise unternehmen lassen ... Zu langsam geht der Zug! Er kriecht ja nur eben! Und endlos lange hält er auf den Stationen an. “Gott, laß uns nicht zu spät kommen! Laß uns ihn noch einmal lebend sehen!” beten Gattin und Sohn. — Noch drei Tage, dann können sie da sein . . . aber wie langsam kriecht der Zug und wie unendlich lang ist der Weg! Den 3. Juli 1931 wird A. Klassen als hoffnungslos von den Aerzten aufgegeben und morgens in das Sterbehaus im Urwalde hinübergebracht und auf das harte Strohlager der Pritsche gelegt. 195 Das Sterbehaus enthält keine Bettstelle, nur eine von dicken Bohlen hergestellte Pritsche und einen Holzblock statt Tisch, das ist alles. Statt einer Matratze ein wenig halbverfaultes Stroh — von Kissen und Decken schon gar nicht zu reden; die verdienten der “Stalinsche Dung seines Fünf-Jahres-Planes” doch nicht! Bedie¬ nung und Pflege gibt’s da im Sterbehaus auch schon nicht mehr! Man stirbt ja von allein! Kein Mensch bleibt bei dem sterbenden A. Klassen, keiner reicht ihm einen Trunk kalten Wassers, kühlt seine fieberglühende Stirn . . . Nur sein Leidensgenosse Federau schleicht sich von Zeit zu Zeit zu ihm, findet ihn aber fast immer besinnungslos. So liegt A. Klassen noch den 4. und auch noch den 5. Juli, als um Mittag Federau ihn zum letzten Male lebend sieht. Da im einsamen Sterbehause im Urwalde kämpft A. Klassen seinen letzten Kampf . . . Nein! Der Kampf ist ausgekämpft. Der Sieg ist errungen; es ist kein Sterben, es ist ein Heimgehen zum Vater! Am 5. Juli um 3 Uhr nachmittags schleicht Federau sich wieder zu seinem sterbenden Freunde. Er findet ihn sanft schlafend, und um zwanzig Jahre verjüngt sieht er aus. Federau ruft ihn bei Namen, bekommt aber keine Antwort. Da sieht er, daß Klassen tot ist. Federau meldet der Lagerverwaltung den Tod Klassens und erhält den Auftrag, Klassen zu begraben. Mit zwei russischen Mit¬ gefangenen gräbt er ein Grab, und 8 Uhr abends wölbt sich ein neuer Grabhügel auf dem Friedhofe zu Sibulon bei Jeretzkaja. Ohne Sarg, ohne Lied und Gebet oder Grabrede haben sie A. Klassen da begraben, fern der Heimat, eine Schaufel voll Dung im “Stalinschen Fünf-Jahres-Plan”. Nein, Und wieder nein! Nicht A. Klassen haben sie begraben! — Seinen sterblichen Leib wohl, nicht aber seinen Geist und seine Seele! Abram Klassens ureigenstes “Ich”, sein Geist und seine Seele, sind als Sieger hervorgegangen über Stalin, Tod, Hölle und Teufel! Abram Klassen hat einen guten Kampf gekämpft, er hat Glauben gehalten, seinen Lauf vollendet und hinfort ist ihm beigelegt die Krone der Gerechtigkeit! Wer so stirbt, der stirbt wohl! Den u. Juli erreichen Frau Klassen und ihr Sohn Jeretzkaja und erfragen sich den Weg nach Sibulon. Als sie am Friedhof Vorbeigehen, sehen sie zwei neue Gräber . . . “Ob er schon unter einem der Hügel liegt?” Im Lager sagt man ihnen: “Vor zwei Tagen ist A. Klassen gestorben und begraben.” Mit dem Wehruf: “Zu spät! Warum so, mein Gott?!” sinkt Frau Klassen zusammen. Alle Verbannten bemühen sich in liebe¬ voller Weise um sie. “Sie ist unseres Väterchens Abram Jakowlewitsch Frau und das ist ihr Sohn”, flüstern sich die Verbannten zu und helfen und trösten nach Vermögen. “Er war ja unser Seelsorger und unser aller Freund!” 196 Am Grabe des teuren Entschlafenen knien Gattin und Sohn und können es nicht fassen und verstehen, warum Gott sie so schwere Wege führt . . . Nach langer, beschwerlicher und hindemisreicher Rückreise kommen sie endlich zu Hause an. Das ganze Leben hat Wert und Inhalt und Reiz für die Hinterbliebenen verloren. Mit Gott hadernd haben sie nur die eine Frage: “Warum? Warum gerade uns?” (Aus Frau Klassens Brief). Nach Wochen erst gehen sie daran, die armseligen Habselig¬ keiten des teuren Verstorbenen, die ihnen die Lagerverwaltung — ein Ausnahmefall! — alle zurückgegeben hat, durchzusehen, um aufzubewahren, was als ein Andenken an den Teuren verwendbar sein könnte, und finden sein Tagebuch. Da erschließt sich ihnen ein wahrer Trostbronn. Der teure Gatte und Vater hat lange vorausgesehen, was kommen mußte und kommen würde und hat der Gattin und den Kindern klar den Weg vorgezeichnet, den sie gehen müssen, um nicht zu verzagen und zu verzweifeln. Und immer wieder kommt er auf die Worte zurück: “Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. Denn so ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.” Da wird es stille in ihnen, daß sie, wie ihr teurer Entschlafene es konnte, sagen können: “Wie Gott will, so halt ich still!” Und weiter geht ihr Kampf ums Dasein und wider die Sünde in der Roten Hölle, und unerträglich schwer ist er, aber tapfer halten sie stand, und hoch und heilig ihre Losung: “Wie Gott es will!” Seit 1935 sind von Abram und Hans Klassens Familien keine Nachrichten mehr eingetroffen. Ihr weiteres Schicksal ist ganz unbekannt. (Nach Briefen von A. Klassens Familie und nach seinem Tagebuch ausgearbeitet von seinem Bruder P.J. Klassen, Superb, Saskatchewan, jetzt Yarrow, B.C.) Aeltester Hermann Rempel, Karaßan, Krim. Hermann Rempel war der Sohn des Aron Rempel, Gnadenfeld. Er kam als lediger junger Mann nach Karaßan, Krim, wo er Lehrer an der Elementarschule wurde. Seine Vorbildung dazu hatte er zu Hause in Gnadenfeld und später wohl in Halbstadt bekommen. Hier heiratete er die Tochter des Gerhard Schellenberg, Anna Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer I, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 197 Schellenberg. Während seiner Arbeitszeit als Lehrer wurde er zum Prediger der Mennonitengemeinde in Karaßan gewählt. Nach dem Rücktritt des alten Aeltesten Abraham Friesen wurde Hermann Rempel der Aelteste der Karaßaner Gemeinde, die viele Gemeinden in der Krim in sich schloß. Der Berichterstatter Dr. Abr. H. Unruh, Winnipeg, Manitoba, Kanada, schreibt weiter: “Als ich im Jahre 1920 Lehrer an der Zentralschule in Karaßan wurde, stand Rempel im Dienste als Aeltester in der Gemeinde. Am ersten Sonntage meines Weilens in Karaßan hatte ich das Vorrecht, in der Karaßaner Mennonitengemeinde zu predigen. Wie Rempel mir später mitteilte, fanden sich unsere Herzen während dieser Predigt. Wir erlebten, was in 1. Sam. 18, 1 geschrieben steht: “Da David ausgeredet hatte mit Saul, verband sich das Herz Jonathans mit David, und Jonathan gewann ihn lieb wie sein eigen Herz.” Bald nachher fand in Karaßan eine Bibelbesprechung über Römer Kapitel 3 statt, an der auch ich aktiv teilnahm. Hach dieser Bibelbesprechung, die der Herr in besonderer Weise segnete, hatte ich die Gelegenheit, mit Aeltesten Rempel öfters in die umliegenden Gemeinden zu fahren und dort zu predigen. Seine Predigten waren stets klar, solide und fundamental. In dieser Zeit regte sich in Br. Rempel der Gedanke, ob er wirklich wiedergeboren sei. Längere Zeit hatte er damit zu tun. Eines Tages wandte er sich zu mir mit den Worten: “Ich bin doch gläubig gewesen, als ich zur Taufe ging. Aber meine Bekehrung war nicht normal.” Später, als wir auf einer Bibelbesprechung in Schöntal waren, bat er mich, mit ihm aufs Feld zu gehen. Dort knieten wir nieder, und Bruder Rempel durchrichtete auf den Knien vor dem Herrn sein ganzes Leben bis ins einzelne hinein. Tief bewegt stand er von den Knien auf, und von der Stunde an war hinfort in ihm eine tiefe Ruhe, Gewißheit und ein sicherer Gang in der Seelsorge. Vor den Augen aller Brüder nahm er im Geiste zu und wurde zum Segen durch seine persönliche Arbeit. Von nun an lag es ihm besonders am Herzen, seiner Gemeinde zum Segen zu sein und Menschen für den Herrn zu gewinnen. Bruder Rempel suchte mit anderen Predigern seiner Gemeinde einen Weg zur Neubelebung seiner Gemeinde. Eines Tages kamen sie nach Tschongraw mit ihrem Anliegen zu Bruder und Prediger Johann G. Wiens und mir. Ich war in dieser Zeit nach Tschongraw an die Bibelschule gegangen als Lehrer. Nach der Durchsprache dieser Frage wurden sich die Brüder der Karaßaner Gemeinde einig, in ihren Gemeinden diejenigen zu sammeln, die ein klares Verhältnis zu Christo bereits hatten, um so einen Ausgangspunkt für die Neubelebung zu gewinnen. Bei dieser Sammlung der Gläubigen haben sie recht viel Segen genossen. Dabei blieb aber auf seinem Herzen ein Druck. Es lag ihm schwer auf, daß so viele Gemeindeglieder gleichgültig lebten. Eines Sonntags sagte Bruder Rempel zu mir, daß er gedacht habe, in den Gemeinden die Gläubigen zu einem Austritt aus der Gemeinde 198 vorzubereiten. Ich warnte ihn vor diesem Schritt, da er als Aeltester der Gemeinde nicht das Recht habe, Leute zum Austritt aus der Kirche zu bewegen, da er als Aeltester die Aufgabe habe, im Interesse der Gemeinde zu arbeiten. Der Austritt müsse rein persönliche Angelegenheit sein. Da ließ er den Gedanken fallen. Eines Tages versammelte er die Bruderschaft und erklärte seinen Rücktritt vom Aeltestendienst. Er begründete diesen Schritt mit der Tatsache, daß er weiter nicht könne den Leuten das Abendmahl geben, die sich erst auf dem Sterbebett bekehren, im Leben kamen sie jedoch als unbekehrte Menschen zum Tische des Herrn. Die Frage wurde ihm ernste Gewissenssache. Nach diesem Rücktritt geschah sein Austritt aus der Kirche mit einer Gruppe Gleichgesinnter. Diese Ausgetretenen gründeten dann die Evangelische Mennoniten Brüdergemeinde in der Krim. Hier bestimmte man, daß Bruder Rempel als Aeltester dieser Gemeinde anerkannt werde. In dieser Gruppe hat Bruder Rempel in ernster Arbeit in der Verkündigung des Evangeliums gestanden. Sehr viele Gläubige aus anderen Gemeinden schlossen sich ihnen an und es bildete sich eine große Gemeinde. Diese Gemeinde stand in enger Arbeitsgemeinschaft mit der Mennoniten Brüdergemeinde und auf den Bibelbesprechungen auch mit der Karaßaner Mennonitengemeinde. Der Herr gab in jener Zeit große Erweckungen in den Gemeinden in der Krim. Es gab eine Neubelebung aller Orten und das Reich Gottes wurde gebaut allenthalben. Zur Auswanderung nach Amerika konnte er sich nicht entschließen. Er hat später seinen Wohnort verlassen müssen. Darüber berichten andere Krimer, die nach Kanada gekommen sind. Aeltester Hermann Rempel, der in so großem Segen gearbeitet und so vielen Seelen den Weg zu Christo geführt, hat auch schwere Wege gehen müssen. Er war eine Zeitlang auch Mitglied des Mennonitischen Schulrates in der Krim. In Lustigstal hatten sie ihr Bethaus. Im Jahre 1929 war er mit seiner Familie auch unter den vielen Flüchtlingen, die ins Ausland wollten, wurde aber mit Familie zurückgeschickt und kam nach Memrik; von da mußte er in die Steinbrüche; bei Jusowka mußte er harte Arbeit tun in den Kohlenschachten. Einmal hatte er einen Urlaub erhalten. Er fuhr in die Krim, besuchte die Dörfer und stärkte und tröstete die zurück¬ gebliebenen einsamen Geschwister. Später wurde er verbannt nach Sibirien und ist dort im Gefängnis umgekommen. Auch sein Sohn kam in die Verbannung und mußte schwere Zwangsarbeit tun. Er starb schließlich an den Folgen der vielen Entbehrungen und Mißhandlungen. Die Frau des Aeltesten Hermann Rempel, die ihm gefolgt war in die Verbannung und schon früher auf der Flucht, wurde von einem herabstürzenden Felsstück erschlagen, als sie für ihren Bedarf bei den Kohlengruben Kohlen sammelte. Die Nachrichten 199 von den Leiden und dem Sterben der lieben Predigerfamilie sind nur sehr spärlich und zum Teil lückenhaft. Als Hermann Rempel von Moskau nach Memrik kam, hat er hier für den Herrn gearbeitet in Versammlungen und auch durch Hausbesuche. Drei seiner Söhne waren auch in der Verbannung. Der eine wurde dort beim Bäumefällen getötet, indem ein fallender Baum auf ihn fiel und ihn zu Tode schlug. Von dem einen haben wir auch schon gehört und vom dritten weiß man nicht, wie sein Ende war. Von seinen Töchtern blieben einige (?) auf Memrik wohnen, wo ihre Eltern sich nach der Flucht von Moskau eine Zeitlang aufhielten. Sein Mitarbeiter, Prediger Peter Konrad, Lehrer in Schöntal, mußte auch in die Verbannung auf drei Jahre, soll aber noch einmal zurückgekommen sein; nachher fehlen aber alle Nachrichten, wo er schließlich verblieben ist. Weitere Märtyrer aus der Krim. Johann Wall, Diakon der Mennoniten Brüdergemeinde zu Coaldale, Alberta, Kanada, berichtet auf dem Krimerfest im Sommer 1946 in Coaldale: “Das Zeugnis für den Meister bedeutete für viele in Rußland, stimm- und damit rechtlos zu werden. Solcher bekam keine Anstellung zu irgendeiner Arbeit und hatte kein Recht auf Lebensmittel-Karten. Zudem war er der Willkür der Sowjetbeamten preisgegeben. Als es erst so weit kam, entsagten sich manche von der Gemeindezugehörigkeit und besonders von den Aemtern in den Gemeinden. Doch die meisten blieben standhaft und nahmen alles auf sich. Als im Jahre 1929 die große Flucht der deutschen Siedler: Mennoniten, Lutheraner, Katholiken — nach Moskau begann, um von da aus durch die deutsche Botschaft oder durch andere ausländische Vermittlung ins Ausland zu gelangen, dann gingen die Wellen des roten Terrors besonders hoch. Manche unserer Brüder wurden da hingestellt, wo der Kampf am heißesten war. Viele mußten ins Gefängnis und wurden dort fortgesetzt gequält mit endlosen Verhören und Foltern allerlei Art. Die beiden Brüder Bernhard Wall von Ebenfeld und Peter Konrad von Kodagaj wurden abwechselnd in heiße und eiskalte Zellen gesteckt, um sie mürbe zu machen zu allerlei Geständnissen beim Verhör. Doch alles war umsonst, die Brüder blieben treu und fest. Trotz des Verbotes, nicht mehr zu predigen, predigten sie doch weiter, auch im Gefängnisse, und dort wurden Seelen zu Christo geführt und laue Kinder Gottes machten sich von neuem auf. Sie wurden dann verurteilt, aber schließlich doch dem Gericht in der Krim übergeben. Weiter weiß man von ihnen nichts. Prediger Gerhard Wiens jun. von Tschongraw, welcher mithalf beim Auswirken der Auslandspässe, wurde im letzten Moment, als sie schon im Zuge bereit waren zur Abfahrt, genommen und 200 weggeführt. Was für ein Schmerz das war für sein geliebtes Weib und seine Kinder und Angehörige, kann man sich denken. Sein Sohn ertrank dann später auf der Reise im Fluße Newa bei Petrograd. F. Fehderau, Ogustobe, kam auch ins Gefängnis; seine Familie kam schließlich nach Brasilien, wo die Frau an den Nerven zusammenbrach. Prediger Johann Töws von Karaßan wurde auch in Moskau festgenommen und nach dem hohen Norden verbannt, wo er mit Prediger Johnann J. Töws, Jgnatjewka, das Los teilte, und ist dort auch umgekommen. Geschwister Jakob Dirks, Ebenfeld. Sie starb im Hospital bei der Entbindung und er wurde unterdessen ins Gefängnis geworfen, wo er an den Nerven zusammenbrach. Prediger Johann Wiens, Tschongraw, kam ins Gefängnis in Moskau; die Familie aber entkam nach Deutschland. Später erhielt die Familie die Nachricht, daß Bruder Wiens dort elend im Gefängnis umgekommen ist. Jakob Fast und Tochter Liese von Karaßan sind auch in der Verbannung umgekommen. Diakon Heinrich Reimer und Frau kamen nach drei Jahren aus der Verbannung zurück, weiter ist keine Nachricht von ihnen mehr eingetroffen. Prediger Johann Hübert in der Verbannung gestorben. Von Kodagaj: Isaak Wall in der Verbannung gestorben. Jakob Wall und Frau — ebenfalls. Jakob Fast und Frau, zwei Söhne und eine Tochter erlitten das gleiche Schicksal. Frau Franz auch dort gestorben. Jakob Dück und Sohn — beide in der Verbannung umgekommen. Im ganzen von dort — 30 tot; von 9 sind die Nachrichten nicht bestimmt. Heinrich H. Fast, geboren in Spat, gewohnt später auf Sergejewka — in der Verbannung gestorben. Abram J. Braun, geboren in Tschockmack — in der Verbannung zu Tode gekommen. Jakob H. Dück, auch von dort, starb auch in der Verbannung. Von Lustigstal: Aron Dück, verbannt und tot. Heinrich Neufeld und Karl Wiens — tot. Nick Kröker und Sohn Peter, beide in der Verbannung. Dort wurden sie totgeschlagen bei einem Unglück. Die Baracke, in welcher sie wohnten, brach zusammen und sie wurden von den Trümmern erschlagen. Ein langes Verzeichnis von Menschen, die unschuldigerweise ums Leben kamen, und wie viele noch, deren Namen keiner erfahren hat! Doch der Herr kennet die Seinen — das ist ein Trost auch für alle diese Märtyrer, die irgendwo umgekommen und dort in der Wildnis begraben sind. Nachschrift: Prediger Kornelius Löwen, Buslatschi, gehörte zur Mennonitengemeinde, stammte aus der Molotschna. Der ist 201 auch in die Verbannung gekommen. Im Gefängnis wurde er furchtbar gequält mit übermäßiger Hitze und Kälte. Das Ende — unbekannt. Aeltester Letkemann, Karaßaner Mennonitengemeinde, ist auf der einsamen Insel Solowki im Weißen Meer umgekommen. Lehrer und Prediger Johann J. Wiebe, Krim, Süd-Rußland, der auch Mitglied der KFK in der Krim war. (Das meint, er war Mitglied der Kommission für kirchliche Angelegenheiten, welche die Aufgabe hatte, die mennonitischen Gemeinden vor der Obrigkeit zu vertreten.) Johann J. Wiebe wurde am 15. Mai 1884 geboren. Seine Eltern waren Johann J. Wiebe, stammend von Altonau, Molotschna, und Anna Wiebe, geb. Unruh, aus der Krim. Seine Eltern waren wohnhaft in der Krim, im Dorfe Schattenruh, woselbst Johann Wiebe auch die Dorfschule besuchte. Nachdem er daselbst sein Examen gemacht hatte, ging er nach Ohrloff, Molotschna, wo er drei Jahre die Zentralschule besuchte. (Hier war er mein Schul¬ kamerad. — Der Verfasser.) Die Krim hatte damals noch keine mennonitische Zentralschule. Hier in Ohrloff war zu der Zeit sein Onkel Korn. B. Unruh Lehrer an der Zentralschule. Die anderen Lehrer waren: J.J. Bräul und J.H. Janzen. Nach Absolvierung dieser Schule besuchte er noch den Lehrerkursus in Neu-Halbstadt und machte sein Lehrer¬ examen in der Stadt Melitopol. Er wurde dann zuerst Lehrer in dem Dorfe Busau (?) und dann später im Dorfe Minlertschik (beides tatarische Namen), ebenfalls in der Krim. Hier verheiratete er sich mit Justina Dück aus dem nämlichen Dorfe. Dann kam der Erste Weltkrieg und das Lehreramt mußte er aufgeben und in den Dienst treten. Er wurde Sanitäter im Allrussischen Semstwo-Verband. Nach dreijähriger Dienstzeit kehrte er zurück in die Heimat und wurde dann gleich darauf von der Heimatgemeinde zum Prediger berufen und auch bald darauf ordiniert. Die obwaltenden Verhältnisse zwangen ihn dann bald dazu, seinen Lehrerberuf aufzugeben. Er wurde Landmann. Sein Wirken als Prediger des Evangeliums, dann als Mitglied der KfK, weiter als Vertreter der Jungmannschaft bei der Mobilmachung vor dem Gericht, seine öfteren Fahrten nach der Hauptstadt Simferopol, wo es auf kirchlichem Gebiete verschiedene Verhandlungen gab, und anderes mehr — zog bald die Aufmerksamkeit der Sowjetbehörden auf ihn und es dauerte nicht lange, da wurde er verhaftet und ins Gefängnis geführt. Es war im Jahre 1928, als man ihn einkerkerte. Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer I, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 202 Man ließ ihn dann noch einmal frei, aber er mußte sich regelmäßig bei der Polizei stellen. Als im Herbst 1929 die Massenflucht der deutschen Kolonisten nach Moskau einsetzte, um ins Ausland zu gelangen, da wurde er mit vielen andern verhaftet, da man ihn als Urheber dieser Bewegung stempelte, was natürlich nicht auf Wahrheit beruhte. Prediger Johann Wiebe wurde mit vier anderen Predigern zum Tode verurteilt. Diese andern vier waren: Prediger Johann Hiebert, Mare; A.J. Klassen, Spat, auch Mitglied der KfK; J. Dück, Buslatschi, und Pastor Hörschelmann von der lutherischen deutschen Kirche bei Yalta, Krim. Sie verbrachten 27 Tage in der Einzelhaft, in der Todeskammer, der Vollstreckung des Urteils wartend. Als dann das Urteil geändert wurde auf 10 Jahre Verbannung nach der Insel Solowki im Weißen Meer, im hohen kalten Norden, dann schreibt Br. J. Wiebe unter anderem: “Als wir dann wieder nach langer Zeit zum ersten Male in der gemeinsamen Zelle versammelt waren, da sangen wir das Lied: “Keiner wird zuschanden, welcher Gottes harrt; sollt ich sein der erste, der zuschanden ward? Nein, das ist unmöglich, du getreuen Hort, eher fällt der Himmel, eh mich täuscht dein Wort“ usw. Klingt das nicht ähnlich wie dazumal im Gefängnis zu Philippi von Paulus und Silas im Gefängnis (Apg. 6, 16)? Es hatte sich jemand für diese Gefangenen höheren Ortes verwendet und daraufhin war das Todesurteil umgeändert worden. Nach diesen Ereignissen in der Krim wurden alle Gefangenen nach der Stadt Archangelsk im hohen Norden geschickt, wo es dann weiter nach dem Norden gehen sollte. Es gesellte sich noch ein russischer Priester zu ihnen. Von dort schreibt Bruder Wiebe: Hier sind alle Scheidewände gefallen, wir sind alle “Einer in Christo Jesu”. Hier in Archangelsk starb Br. A.J. Klassen, Spat, J. Wiebe konnte ihn öfters besuchen, mit ihm seine schweren Stunden teilen, seine letzten Wünsche anhören und seifier Familie telegraphieren. Doch leider kam Frau A. Klassen mit ihrem Sohn zu spät bis Archangeljsk, es war das ein sehr weiter, beschwerlicher Weg. Ein Grabeshügel wölbte sich über den Geliebten, und sie konnten nur noch gemeinsam am Grabe beten. Was für ein trauriger Weg zurück für die arme Witwe und ihren Sohn! Von Archangeljsk ging der Leidensweg nach Solowki, wo in früheren Jahren nur ein orthodoxes Kloster war, wo die Mönche mit Salzgewinnung mühsam ihr einsames Leben fristeten. Nur spärlich kamen die Nachrichten von dort. Im Winter waren alle Verbindungen zwischen Insel und Festland auf lange Zeit unterbrochen. Als acht Jahre um waren, da kam im August 1937 die letzte Nachricht aus zweiter Hand, daß Bruder J. Wiebe von dort zurückgekehrt sei nach dem Ural-Gebiet, wohin in der Zwischenzeit seine Familie verbannt worden war. Man hatte ihm zwei Jahre erlassen von seiner Gefängnishaft für treue Arbeit und gutes Betragen. Wieder Anklänge an die 203 Geschichte Josephs in Aegyptenland, der sich auch im Gefängnis das Vertrauen der Beamten erwarb, nicht wahr? Er schrieb damals: “Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe Glauben gehalten ...” Welch ein herrliches Bekenntnis eines stillen Dulders! Seitdem fehlen jegliche Nachrichten. “Diese sind es, die gekommen sind aus großer Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider helle gemacht im Blute des Lammes ...” (Bearbeitet nach dem Bericht von seinem leiblichen Bruder Philipp J. Wiebe, Domain, Manitoba, Kanada.) Lehrer und Prediger Karl Friedrichsen hatte Zentralschulbildung und war Absolvent von der Prediger¬ schule in St. Crischona in der Schweiz. Später wurde er Leiter und Lehrer der Karaßaner Zentralschule. Er predigte anfänglich freiwillig, mit Erlaubnis der Gemeinde seit 1905. Seine Heimat¬ gemeinde war die Mennonitengemeinde von Busan-Aktalschi früher Ettingerbrun in der Krim. Im Jahre 1913 kam er, damals als Religionslehrer nach Dawlekanowo, Ufa, an die Zentralschule daselbst, wo auch die Lehrer Fr. C. Thießen, Gerh. Gäde, Cornelias Neufeld und andere gearbeitet haben. Hier durfte er wohl bis 1922 in der Schule tätig sein. Dann sah er ein, daß seines Bleibens als Lehrer an der Schule nicht mehr möglich sein würde, weil er zu gleicher Zeit auch Prediger war und solche wurden von der Sowjetregierung nicht geduldet in den Schulen, so trat er denn notgedrungen aus der Schule aus und gründete in Dawlekanowo eine kleine Bibelschule, in der er mehrere Jahre wirkte. Hier starb ihm seine erste Frau, und nach einiger Zeit verheiratete er sich wieder. Da ihm von der Regierung der Boden immer heißer gemacht wurde, mußte er seine segensreiche Arbeit hier aufgeben und zog nach dem Süden. Er wohnte hier in den letzten Jahren mit seiner Tochter Marianne in Saporoshje, früher Alexandrowsk. Sie kamen öfters zur Versamm¬ lung nach Einlage, wo er den dort weilenden Mennoniten mit dem Worte diente. Es waren damals hier viele Rechtlose ansässig, welche am Dnjeprostroj arbeiteten und ihr Brot verdienten. Er war ein sehr guter Freund von Franz F. Wall, Muntau, der damals auch schon mit Frau und Schwester Liese sich hier aufhalten mußte. Dies war in den Jahren 1935—36. Nachher wurde er krank an den Nerven und konnte nicht mehr ausfahren. Zuletzt wurde er schwer krank und seine Tochter mußte ihre Arbeit aufgeben und ihren Vater pflegen, was sie auch mit großer Aufopferung getan hat. Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer I, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 204 Lehrer und Prediger Karl Friedrichsen Seine zweite Frau war damals wohl auch schon nicht mehr am Leben. Bei seinem Zustand war die Pflege nicht leicht. Seine Gedanken beschäftigten sich immer damit, noch einmal nach Hause zu kommen. Er fühlte sich so heimatlos und wollte dann immer nach Hause reisen. Er wurde zuletzt sehr schwach, und endlich holte der Herr seinen müden Knecht heim. Alle, die ihm nahe¬ standen, waren sehr dankbar dafür, denn im Jahre 1941 wurde auch seine Tochter Marianne in die Verbannung geschickt und man hat nie mehr von ihr gehört. So endete ein arbeitsreiches Leben eines unserer Lehrer und Prediger in der alten Heimat! Lehrer Heinrich H. Ediger aus Spat, Krim, Taurien, Süd-Rußland. Heinrich H. Ediger war Lehrer an der Zentralschule in Spat, Krim, und hat später in Saporoshje bei Chortitza gewohnt. Seine Frau, Helena Ediger, geb. Fast, ist in Deutschland, wohl mit zwei Kindern, Friedei und Annelie. Zwei Söhne sind im Kriege verschollen: Rudi und Woldi. Die Frau berichtet nun über den Tod ihres lieben Mannes, von dem sie nur immer als von ihrem lieben Heinz spricht. “Mein lieber Mann war in Haft bei der G.P.U. und ist an den Folgen dessen, was er da durchmachen mußte, gestorben. Ich kann bis heute nicht ruhig darüber denken, warum wohl mein Heinz soviel Schweres durchmachen mußte. Die ganze Zeit, die er dort in Haft war, bekam er kein Essen; ich mußte ihn verpflegen. Trug Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer I, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. ihm jeden Tag das Essen hin. Er war in Alt-Saporoshje in Haft und wir wohnten in Maloje Saporoshje, 12 Kilometer auseinander. Ich ging jeden Tag hin, da wir nicht trockene Verpflegung hatten, bis meine Kräfte versagten; dann jeden zweiten Tag. Schickte Friedei mit Essen hin, den 4. Juni; der kam zurück, sie hatten das Essen nicht angenommen. Papa sei ins Krankenhaus gebracht, da wurde er verpflegt. Da ging ich den nächsten Tag auf den Markt und verkaufte Kleider, um für Heinz etwas Milch und Mehl zu kaufen und etwas zu backen. Hatten damals eine furchtbare Teuerung in Rußland. Alle drei Kinder arbeiteten, aber es reichte nicht aus zum täglichen Unterhalt. Wie ich sonntags zu Heinz gehe, zur G.P.U., und bitte, ob ich ihn sehen dürfe, sagte man mir, ich dürfe, wenn der Arzt es erlaube. Wie habe ich auf dem Wege zum Krankenhaus den Herrn angefleht, er möge doch das Herz des Arztes erweichen. Als ich hinkam, war der Arzt bereits fort; zu lange hatte ich bei der G.P.U. warten müssen. Ich fragte ein Mädchen daselbst, ob sie etwas von meinem Manne wisse, der vorgestern abends aus dem Gefängnis hereingebracht worden sei. “Ja”, sagte sie, “der ist gestern gestorben.” Welch ein Schreck! Zurück ging’s noch einmal zur G.P.U., wo ich um die Leiche bat. Man erlaubte mir, Heinz zu beerdigen. Spät war’s, als ich heimkam und meinen Kindern die Nachricht brachte, daß sie keinen Vater mehr hätten. Wie groß war der Schmerz! Am nächsten Tage ging’s wieder zum Krankenhaus. Ich sah da meinen lieben Heinz . . Ein alter weißer Greis besorgte für mich den Sarg und alle anderen Formalitäten mit den Behörden. Als ich nach Hause kam, war meine liebe Schwester Anna schon da. Mutter konnte nicht kommen, war zu krank; wir haben es ihr auch nie gesagt, daß Heinz im Gefängnis sei. Nächsten Tag ging es wieder nach der Altstadt; es wurde der Sarg geholt und alles fertig gemacht. Meine Schwester Anna ging bis Schönwiese, einen Prediger zu holen. Annelie, meine Tochter schickte ich zum Arzt, den Schlüssel von der Kapelle zu holen, um Heinz anzukleiden. Da kommt Annelie zurück mit dem Bescheid vom Arzt: wir bekommen die Leiche nicht. Ihr könnt Euch meinen Jammer nicht vorstellen! Wir alle, Kinder und ich gehen zur G.P.U. Sie hätten es uns doch versprochen. Endlich die Erlaubnis. Anna kam zurück, aber ohne Prediger, er habe nicht Zeit. Da haben wir, eine russische Lehrerin und unsere Nachbarn, Heinz still zu Grabe getragen. Ich betete noch am Grabe. Heinz wurde auf einem russischen Friedhofe begraben; auf dem deutschen, meinte der Bürgermeister, sei kein Platz. So ist es, wenn ein unschuldiger Mensch in der Haft stirbt. Aber er ruht auch da ebenso gut, und ich weiß wenigstens, wo er beerdigt ist. Möchte ich doch noch nur einmal Nachricht bekommen von meinen beiden lieben Jungen: Rudi und Woldi. Wie hat man nur so 206 viel Sorgen um Nahrung und Kleidung! Friedei soll besser essen; seine Gesundheit ist zu schwach; doch alles ist sehr knapp, besonders Milch und Fett. Wir lernen immer mehr neue Rezepte, ohne Fett zu kochen. Sollten wir noch einmal in normale Verhältnisse kommen, da würden wir so sparsam sein, daß wir bald reich wären!” (Bei all dem Schmerz und Leid noch Humor! Sie warten nun auf Einreise nach Kanada oder USA. — Der Verfasser.) Sein Bruder schreibt später noch mehr von ihm: “Mein Bruder Heinz Ediger dürfte vielen bekannt sein, da er eine Reihe von Jahren Zentralschullehrer in Spat, Krim , und auch an anderen Stellen war. Zuletzt in Chortitza gelebt, gewirkt und auch gestorben. Unter anderem schreibt seine Frau Helene: Haben sehr viel durchgemacht; unsere Familie ist ganz klein geworden. Unser Aeltester, Rudi, wurde im Mai 1941 zum russischen Militär eingezogen; vom 4. Juli den letzten Brief erhalten; er mußte an die Front. Rudi war Student der Rostower Hochschule. Mein lieber Heinz ist am 6. Juli 1942 an Fleckentyphus gestorben. War vom 23. März 1942 in Untersuchungshaft. Wurde einen Tag vor seinem Tode ins Krankenhaus gebracht. Ich wußte nichts von seiner Krankheit. Beerdigen durften wir ihn; er sah so freundlich im Tode aus! Endlich mal ausgelitten. Das Haar ganz grau. Es ist furchtbar, einem lieben Menschen so nahe zu sein und ihm nicht den kleinsten Dienst erweisen zu können! Aber, glaubt es mir, Heinz war unschuldig. Jedesmal, wenn ich ihn sehen durfte, hat er mich immer beruhigt und gesagt: “Ich komme nach Hause, mein Gewissen ist rein!” Was hat er nur alles aushalten müssen! Die letzten 2 Wochen durfte ich ihn nicht sehen, wahrscheinlich ist er sehr krank gewesen. Woldi arbeitete als Radio-Techniker bei der Firma “Telefun- ken”; er wurde nach der Tschechoslowakei versetzt, hatte noch keine richtige Adresse; seit Februar 1945 keine Nachricht mehr von ihm. Anneli hat sich in Deutschland mit Emst Speit verheiratet. Haben seit dem 3. Januar ein Söhnchen Rudi, wohnen in Bad Lauterburg im Harz. Von meinen Geschwistern ist niemand in Deutschland. Bruder Jasch Fast ist seit 1938 mit seinem Sohn Kornelius in der Verbannung verschollen. Schwägerin Lena hat nur einen Sohn behalten; sind alle aus der Krim nach dem Kaukasus evakuiert worden und von dort später nach Sibirien. Ich weiß gar nichts von ihnen. Jetzt wohne ich mit Siegfried in Lebenstedt; habe eine kleine Wohnung; verdienen unseren Unterhalt mit Nähen und Holzschuhe machen. Friedei arbeitet noch in einem Magazin (Warenhaus). 207 Weitere Märtyrer aus der Krim, Halbinsel in Süd-Rußland, zwischen dem Schwarzen und Asowschen Meer. Prediger Cornelius Wall, aus dem Dorfe Spat in der Krim ist auch in der Verbannung gestorben. Ueber ihn berichtet Prediger Abr. Kröker, Mt. Lake, Minnesota, USA, aus dem Jahre 1932: Wie verschiedene andere so ist auch der leitende Prediger der Mennoniten Brüdergemeinde aus Spat unlängst in der Verbannung gestorben, jedenfalls infolge der Strapazen und Entbehrungen, die so ein Leben in den Urwäldern Sibiriens mit sich bringt. Er wurde anfangs des Jahres 1930 festgenommen und nach der Hauptstadt der Krim, Simferopol, ins Gefängnis gebracht. Nach ungefähr zwei Monaten wurde auch seine Familie in Spat arretiert und der Vater mit der Familie zusammen in den Ural verschickt. Das Uralgebirge bildet die Grenze zwischen Europa und Asien und erstreckt sich vom Norden, vom Eismeer, bis tief hinein in den Süden Rußlands. Hier sind viele Bergwerke, wo die aller¬ verschiedensten Minerale und Metalle gewonnen werden. Vorher war bei der Familie Wall alles ausgeraubt worden, selbst alle besseren Kleider hatte man ihnen weggenommen. Bruder Wall war damals schon ungesund: eine Tochter war verkrüppelt und konnte nur auf dem Fahrstuhl sitzen, liegen und sich weiterbewegen. Auch den Fahrstuhl hat man ihr genommen. Wie unbarmherzig können doch Menschen werden, auch der größten Not gegenüber. Nicht umsonst hat der Herr das Wort niederschrei¬ ben lassen: “Es wird ein unbarmherziges Gericht ergehen über den, der nicht Barmherzigkeit geübt hat.” Unlängst traf nun die Nachricht ein, daß die Eltern Wall beide langsam an Unterernährung dort gestorben sind. Was aus der Familie geworden ist, weiß man nicht. Im Anschluß hieran einige Mitteilungen über die Verwandten dieser Familie. Der Vater der verstorbenen Frau Wall war Diakon der Mennoniten Brüdergemeinde in Spat. Er starb vor dem Kriege. Sein ältester Sohn, seinerzeit leitender Prediger der Gemeinde, starb 1920 infolge von Typhus, auch eine direkte Folge des Krieges resp. Bürgerkrieges. Der zweite Sohn, Joh. Hiebert, wurde mit seiner Familie und der 83-jährigen Mutter im März 1930 in den Norden verschickt. Die alte Mutter starb im ersten Jahre der Verbannung. Johann Hiebert schreibt aus der Verbannung ganz Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer I, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 208 kurz und vorsichtig, daß seine Gesundheit nur schwach ist und er gerne eine Unterstützung in Form eines Paketes haben möchte. Eine seiner Töchter wurde in der Verbannung schwermütig und brach schließlich an den Nerven zusammen. Eine Tochter des Onkels ist auch in der Verbannung gestorben. Ihre Tochter, eine Frau Dick, wurde in hochschwangerem Zustande auch in einen überfüllten Waggon für Verbannte eingeladen. Am vierten Tage auf der Reise wurde sie dort unter den vielen Menschen von Zwillingen entbunden, die natürlich unter solchen Umständen bald starben. Mein älterer Bruder Johann Kröker von Rosenort an der Molotschna ist auch zunächst nach Melitopol ins Gefängnis geführt und von dort dann in die Verbannung geschickt worden. Tina Langemann, Frau des Peter Langemann, früher Spat, in der Krim, weilt mit ihrer Tochter Käthe in Deutschland als Flüchtling. Ihr Mann, Peter Langemann, wurde vor 8 Jahren in die Verbannung geschickt und seit der Zeit hat die Familie kein Lebenszeichen von ihm. Zum “Schicksal der Krimer Bibelschule” — oder des “Mennonitischen Theologischen Seminars”. 1. Gründung und Zweck der Schule. — Es war im Herbst 1918 — als die Bibelschule im Dorfe Tschongraw (etwa 30 Meilen von der Kreisstadt Simferopol) in der Krim ins Leben gerufen wurde. Der Gründer war Prediger und Missionar Johann G. Wiens, der seinen Wohnsitz im genannten Dorfe hatte. Er kam aus Indien vom Missionsfelde, wo nach 6-jähriger Tätigkeit die Tür durch den Ersten Weltkrieg geschlossen wurde, und das war der Moment, wo es dem Herrn gefiel, die Tür für die Bibelschularbeit zu öffnen. Den jungen Leuten in unsern Kreisen, die sich für den Missionsdienst vorbereiten wollten, war die Möglichkeit ins Ausland zu gehen, durch den Weltkrieg genommen worden. Um solchen entgegenzu¬ kommen, bot das Missionskomitee der MBG es dem Bruder Johann G. Wiens an, den jungen Leuten, die es wünschten, in dieser Hinsicht Lektionen zu erteilen. Sobald dieses bekannt gegeben war, fingen die Anmeldungen an zu kommen und gleich mit der Bemerkung “zum Eintritt in die Bibelschule”. Anfänglich kamen die Anmeldungen mehr von jungen Brüdern der Gemeinden, die auch eine Empfehlung zwecks Vorbereitung für den Dienst am Evangelium mitbrachten. Dieses war ein klarer Wink dafür, daß der Herr für diese Arbeit die Türen geöffnet hatte. Es wurden auch Schwestern zu den Lektionen zugelassen, die am Unterricht Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer I, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 209 teilnehmen wollten zwecks persönlichen Gebrauchs, oder auch zwecks Anleitung in der Bibelarbeit an Kindern und an der Jugend. 2. Verwaltung, Lehrer und Schulkomitee. — Als Prediger Johann G. Wiens den Ernst der Sache erkannt hatte, berief er angesichts der vielen Lernlustigen den Pred. Heinrich J. Braun aus Halbstadt zum zweiten Lehrer. Dieser Bruder, der auch ein Mitglied des Missionskomitees war und auch seine Bildung im theologischen Seminar zu Hamburg erhalten hatte, war der Schule eine entsprechende Lehrkraft. Ein halbes Schuljahr erteilten Wiens und Braun den Unterricht. Neujahr 1919 trat Br. G. J. Reimer hinzu als die dritte Lehrkraft, der seine Ausbildung im Lehrer-Institut (Jaroslaw) und im Kommerz-Institut (Kiew) bekommen hatte. Er traf als Flüchtling mit Frau und Schwieger¬ eltern aus dem Charkowschen zu Weihnachten im Dorfe ein, wo letztere ein Landbesitztum erworben hatten. Die beiden Lehrer sahen das Eintreffen des Bruders Reimer als Gottes Führung an und beriefen ihn zum Dienst als Arbeiter an der Bibelschule in säkularen und etlichen Bibel-Fächern. Als periodische Hilfe trat hinzu Prediger jakob Friesen (Morija-Halbstadt), der von der Revolutionswelle nach der Krim versetzt wurde; er unterrichtete etliche Monate im Frühjahr 1919 als Ersatz für Br. H.J. Braun, der seit Weihnachten wegen Unruhen und Absperrung der Front im Heimatdorf zeitweilig Zurückbleiben mußte. Im Herbst 1919 vertrat Prediger Abraham A. Kröker (Halbstadt-Raduga) den Lehrer H. Braun, der als Flüchtling nach der Krim kam und vom Schul¬ komitee zur Mitarbeit gerufen wurde; er unterrichtete auch nur etliche Monate. Zum Herbst 1920 wurde vom Schulkomitee Prediger Abraham H. Unruh (Lehrer der Karaßaner Zentralschule) eingeladen, als ständiger Lehrer an der Bibelschule zu arbeiten. Später gelang es Br. H.J. Braun — durch die Front reisend — wieder nach der Krim zu kommen, und so durften etliche Jahre vier Lehrer — J.G. Wiens, H.J. Braun, A.H. Unruh und G.J. Reimer — in dem Unterricht der Schule tätig sein. Weil nun durch die Wirren im Lande die Verbindungen zwischen den Gemeinden gelockert waren, und weil das Missionskomitee keine Beratungen über die Angelegenheiten der Bibelschule abhalten konnte, — so war man genötigt, am Orte ein Schulkomitee ins Leben zu rufen, welches der Schule in äußeren Angelegenheiten Hilfe erweisen sollte. Zum Schulkomitee zählten die Lehrer der Schule und drei Brüder aus der Ortsgemeinde, — wie Pred. Gerhard isaak (nach Paraguay ausgewandert und gestorben), Diakon Gerhard P. Fröse (jetzt wohnhaft in Winnipeg, Man.) und Ortsvorsteher Peter Warkentin (in die Verbannung geschickt). — 3. Der politische Hintergrund. — Als die Bibelschule ihren Anfang machte, stand Rußland in den Revolutionswehen. Die Kaiserregierung war gestürzt, und neue Führer hatten sich der größeren Städte und Eisenbahnen im Norden des Reiches bemächtigt. Es wurden neue Regierungsorgane eingestellt, — zuerst im Norden, dann später auch im Süden des Landes. In dem 210 Moment, als die Bibelschule ins Leben gerufen wurde, stand die Krim unter der Herrschaft der deutschen Besatzungstruppen, die etwa Februar 1918 die ganze Ukraina okuppiert hatten. Diese Truppen waren der Bevölkerung in den Dörfern freundlich gesinnt, und so gelang es den Brüdern mit dem Unterricht in der Bibel¬ schule zu beginnen. Unterdessen hatten sich in dem Dorfe und auch in den umliegenden russischen Ansiedlungen lokale Dorfsver¬ waltungen gebildet, denen die Gründung der Bibelschule ange¬ kündigt ward. Etwas später erhielt die Schule die volle Erlaubnis und Genehmigung von der Ortsbehörde, die Bibel zu unterrichten. Leider zog das deutsche Militär schon im Dezember 1918 ab und ging in die Heimat zurück. Es gab eine Schwüle und unangenehme Pause unter der Bevölkerung, bis sich im Jahre 1919 eine “Temporäre Krimer Regierung“ bildete, die selbständig Minister für alle Zweige der Reichsarbeit einsetzte. So kam das Ministerium der Volksaufklärung zu seiner Arbeit, die die Aufsicht über alle Schulen im Lande hatte. In den Dörfern wurden regelrechte Dorfs - komitees eingeführt, die mit den höheren Verwaltungsorganen in Verbindung standen. Bald fragte man höhererseits nach unserer Bibelschule. Zwei Lehrer fuhren darauf zur Schulbehörde, um Information einzuholen. Die Aufnahme beim Herrn Minister (in Simferopol) war eine sehr wohlwollende, und man gab uns den Rat, in der Bibelschule den Lehrplan eines “russischen geistlichen Seminars” einzuführen und nach diesem Plane den Unterricht zu betreiben, worauf man uns die volle Erlaubnis geben wolle, das Werk weiter zu führen. Das Schulkomitee beriet sich hierüber, und der Herr gab die Freudigkeit, den Lehrplan zu ändern anpassend an den Lehrplan eines Seminars mit dem Wunsch, die Schule als ein “Mennonitisches Theologisches Seminar” bestätigen zu lassen. Die Brüder A.H. Unruh und G.J. Reimer fuhren mit einem neuen Bittgesuch zum Herrn Minister, in dessen Kanzlei ein gewisser Offizier O. Obolensky tätig war; dieser Mann war ein Freund und Bekannter an diese Brüder aus dem Charkowschen. Durch die Vermittelung dieses Offiziers und durch die Gnade des Herrn gelang es, die Bestätigung der “Schulstatuten” binnen etlichen Tagen zu erhalten. Die Schule hatte volle Anerkennung bei der neuen Regierung mit allen stattlichen Rechten. Diese gaben der Schule die Möglichkeit, militär-pflichtige Lehrer und auch Studenten vom Staatsdienst zu befreien, und so konnten die Brüder ruhig ihr Studium beendigen und in den Gemeinden ihre Arbeit als Mitarbeiter (oder als Prediger) tun. Das war Gottes gnädige Führung, woraufhin die Schule eine spezielle Gebet- und Dankstunde anberaumte! 4. Die Bedeutung der Schule. — Die Bedeutung und den Wert der Bibelschule zu jener Zeit, konnten am besten die damals bestehenden Gemeinden abschätzen. Von uns aus gesehen, brachte, erstens, das Bestehen der Schule im Dorfe eine ernste Stimmung und Einstellung zum Studium der heiligen Schrift; der Gottesdienst wurde belebt durch 211 die Ansprachen und Zeugnisse der Brüder aus den älteren Klassen. Die Ortsprediger der Gemeinde räumten freundlichst es der Schule ein, Schüler der letzten Klasse auf die Arbeiterliste zu stellen, — sowohl für den Morgen- als auch für den Abend-Gottesdienst an den Sonntagen. Dann wurde auch durch die Mitarbeit der Schüler die Arbeit unter der Jugend intensiver betrieben, — was zum Segen für die Gemeinde war. Der Gesang in der Gemeinde und Umgebung wurde durch die regelrechten Chorgesänge der Schule, wo außer dem praktischen Singen auch theoretischer Unterricht geboten wurde, bedeutend gehoben. Die benachbarten Gemeinden kamen am Wochenende mit ihren Fuhrwerken und holten sich Brüder und Schwestern, die ihren Versammlungen mit dem Wort, Zeugnis und Gesang dienten. Auch fuhr die Schule aus ab-und-zu in die größeren Ansiedlun¬ gen, wo sie Programme lieferte und so mehr in Fühlung mit der Gemeinde und Ortschaft kam. Die Lehrer selber fuhren einige Male aus und hielten Bibelbe¬ sprechungen ab, — was sich zum großen Segen für die Zuhörer auswirkte. Nach Beendigung der Schule gingen die Schüler zurück in ihre Heimat, wo sie vielfach freundliche Aufnahme in der Heimatge¬ meinde fanden; manche brachten neue Schüler mit, wenn sie wieder zur Schule kamen. Die Studenten aus Orenburg gingen zurück in ihre Ansiedlung und gründeten dort eine Bibelschule, die ein Segen für die Gemeinden daselbst wurde. 5. Schüler und Schülerleben. — Die Schüler kamen aus den Gemeinden beider Richtungen — MBG und M.G. Darunter waren mehrere Elementarlehrer und auch etliche mit Mittelschulbildung. Sie kamen aus folgenden Ansiedlungen: Krim, Orenburg, Sibirien, Molotschna, Alt-Samara, Memrik und Alt-Kolonie (die höchste Zahl aus den ersten und die niedrigste Schülerzahl aus den zuletzt¬ genannten Ortschaften). Dank dem, daß die meisten Insassen des Dorfes die Verwandten an den Vorsteher der Schule (J.G. Wiens) waren, ließ es sich bald machen, in den Häusern entsprechende Quartiere für die Lernenden einzurichten. Auf dem Hofe eines Schulkomitee- Mitgliedes hatte man eine allgemeine Küche eingerichtet zwecks billiger Beköstigung. Die Studenten waren durchweg arm, weil sie von ihren Heimatgemeinden und von den Verwandten durch die Front abgeschnitten waren. Das Dorf selbst und auch manche andere Bewohner etlicher Ansiedlungen der Krim leisteten Hilfe in Form von verschiedenartigen Produkten. In den Sommerferien gingen die Schüler auf die Arbeitsuche und verdienten soviel, daß sie ihr Studium im nächsten Schuljahr fortsetzen konnten. In den schweren Jahren des Hungerns (1921-22) kam auch Hilfe aus Amerika (MCC) für die Schule in Lebensmittelpaketen, — 212 was eine große Unterstützung für Lehrer und Schüler in der Zeit des armseligen Studiums war. Die Bibelschule hat 6 Jahre (sechs Schuljahre) gearbeitet: im Jahre 1918—1919 lernten 35 Studenten 1919-1920 37 1920-1921 40 1921-1922 28 1922-1923 37 1923-1924 49 im ganzen 226 Die Zahl derer jedoch, die im Laufe von sechs Schuljahren in den Wänden der Schule das Studium aufnahmen, betrug (aus der Zahl 226) 104 Personen. Das Verhältnis der Zahl der Brüder zu der Zahl der Schwestern war 3 zu 2. — Das Verhältnis der Zahl der ledigen zu der Zahl der verheirateten Schüler war 9 zu 6. Absolventen, die den vollen Kursus der Bibelschule beendet haben und denen das Zeugnis zur Mitarbeit im Dienste am Evangelium gegeben wurde — waren 22 Personen. Von diesen sind aus Rußland ausgewandert: Johann K. Siemens, jetzt wohnhaft in Hillsboro, Kansas, USA. Abraham K. Siemens — Chicago, 111, USA. Johann J. Penner — California, USA. Martin A. Kröker — Marion, S. Dakota, USA. David D. Dürksen — St. Catharines, Ont., R.R.2. Abraham J. Schierling — Yarrow, B.C. Abraham J. Voth — Winnipeg, Man. Nicolai J. Enns — Kitchener, Ontario. Franz J. Kröker — Brasilien. Jakob J. Abrahams (gestorben) in Yarrow, B.C. Susanna G. Isaak — Paraguay. Margarete D. Reimer (geb. Enns) — Kingsville, Ontario. Justina A. Dyck (geb. Harder) — Sardis, B.C. 6. Verfolgung und Gottes Geleit durch die Revolutionszeit. — Wie ich schon oben erwähnte, erhielten wir die Genehmigung zur Weiterarbeit von der neu-entstandenen “Temporären Krimer- Regierung”. Die Bibelschule durfte auch etliche Zeit im Frieden arbeiten. Und doch zeigten sich bald düstere Gewitterwolken am politischen Himmel Rußlands: — im Norden und auch in andern Teilen des Reiches kämpften die letzten Reste der alten Armee mit den “Roten”, die ein bolschewistisches Reich aufzubauen gedachten. Und so kam die Front vom Norden durch Mittelrußland näher der Krim zu. Bald hörte man auch das Donnern und Schießen bei der Landenge (Perekop). Etwa im Januar Monat 1921 zeigten sich die ersten Rotgardisten, die durch die mennonitischen Dörfer dem Schwarzen Meere zu hinzogen. Ihr Hauptweg war die Eisenbahn und auch größere Ansiedlungen. Unser Dorf, welches mehr von großen Verkehrswegen abgelegen war, erhielt den ersten 213 “groben Besuch” im Februar 1921; es kam ein Heereszug unter der Leitung eines “roten Kommissars”; er umstellte recht schnell das Dorf mit seinen Reitern und ließ die Bevölkerung sich beim Schulhause versammeln. Der Dorfsvorsteher wurde ins Verhör genommen, dann die Lehrer der Bibelschule, weil man die erwachsenen Schüler sah, die sich womöglich für den Offiziersdienst vorbereiteten. Es war ein strenges Verhör mit dem Befehl, daß alle Jünglinge und Männer (außer den ganz alten) sich binnen einer Stunde im nächsten Russendorf (etwa 3 Meilen von der Bibelschule) beim Kriegsgericht einstellen sollten. Die Kriegsreiterei umgab diese Schar der Fußgänger und geleitete sie bis zum angesagten Punkt, während der andere Teil Soldaten zurückblieb, um das Dorf zu bewachen. Es gab das eine große Aufregung an dem Orte, welche die Zurückgebliebenen — darunter die Familien und Frauen — auf die Knie brachte, um für die Abgeführten zu beten. Während die Beter den Gnaden thron umgaben, wurden die Lehrer, Schüler und die andern Einsassen vor dem Kriegstribunal geprüft. Im stillen seufzte wohl ein jeder in der Reihe Stehende zum Herrn um Erbarmen und Errettung. Nachdem der Kommissar alle Fußgänger aufgestellt hatte, fragte er etliche von den Veteranen, — ob jemand in der Reihe bekannt sei, — und ob da in der Reihe irgendwo ein Offizier stehe. Als die Gefragten “nein” sagten, fragte der Führer das russische Volk des Dorfes, das auch herbeigeeilt war, was das für Menschen seien, die da vor ihm standen? Da sagten 2 russische Bauern: “Das sind unsere Nachbarn aus dem Dorfe Tschongraw, die wir gut kennen; das sind fromme Leute, lieben die Bibel und singen uns Lieder vor; gebe Gott, daß wir alle solche Leute wären ...” Dieses Zeugnis scheinbar überzeugte den Kommissar von der Unschuld der Fußgänger, und er hieß sie nach Hause gehen. Wir alle dankten und priesen in unsern Heimen den Herrn für die Freilassung! Das nächste Schuljahr 1922-1923 durften wir noch in Frieden unterrichten, als ganz zuletzt ein “roter Beamter” aus dem Kultur- Kommissariat ins Dorf hereinkam, um die Schule zu untersuchen. Er griff die Bibelarbeit scharf an und drohte mit Schließen der Schule. Die Lehrer jedoch wandten sich an die Ortsmiliz, wiesen darauf hin, daß wir außer der früheren Genehmigung auch noch von dem Orts-Sowjets-Komitee die Erlaubnis erhalten hatten, solchen Unterricht zu betreiben. Als man aber erfuhr, daß unter den Studenten auch junge Männer aus Sibirien, Orenburg und andere waren, mehrte sich der Verdacht. Von dieser Zeit an hatte die Polizei ein schärferes Auge auf uns. Es kamen ab-und-zu Polizeibeamte ins Dorf, die die Insassen ins Verhör zogen. Noch im Herbst 1923 wollte man unsern Unterricht gänzlich verbieten, doch gelang es uns durch Zureden unserer Ortsbehörde, ihn durch den Winter zu ziehen. Im März 1924 jedoch wurde von der Polizei die Schule geschlossen und die Lehrer zur Verantwortung gezogen. Das war ein furchtbarer Schlag für unsern Ort, für die Schule, für Lehrer und Schüler und auch für die Gemeinden. Besonders schwer 214 empfand es Br. J.G. Wiens, der als Leiter der Bibelschule die größte Verantwortung für das Werk trug. In der Zwischenzeit jedoch — am 27. Juli 1924 — ver¬ sammelten sich die Mitglieder des Schulkomitees zu der letzten Beratung; es war eine ernste Stunde des Beisammenseins, eine Stunde des Gebets und Seufzens zum Herrn. Man wollte Wege suchen, und das Schulkomitee gab sich der Hoffnung hin, vielleicht könne man doch noch den Unterricht fortsetzen, wenn jemand von den Brüdern zur hohen Regierung in Moskau führe und dort die Erlaubnis einhole. Daraufhin gab man dem Lehrer G.J. Reimer den Auftrag, mit einem speziellen Bittgesuch nach der Centralregierung zu fahren. Mitte August 1924 gelang es ihm in Moskau mit dem höchsten Beamten in Schulangelegenheiten über die Bibelschule zu sprechen. Die Aufnahme und Begegnung schien eine sehr wohlwollende zu sein; man gab dem Bruder ein Geheim-Paket mit scharfer Versiegelung in die Hand, zwecks Abgabe an die Kreis- Polizei in Simferopol. Der Inhalt des Briefes jedoch wurde nicht bekannt gegeben; wir bekamen den Eindruck, die Entscheidung über das Weiterbestehen der Schule sei der Ortsbehörde übergeben worden. Am 7. - 10. November 1924 fuhr derselbe Bruder als Vertreter des “KfK” der Krim mit noch zwei Brüdern (A.E-r; J.R-1) nach Moskau, um dort über “kirchliche Angelegenheiten” vorzu¬ sprechen, unter anderm auch neue Bittgesuche einzureichen zwecks Abhaltung einer Bundeskonferenz der Mennoniten und Gründung von Bibelschulen. All das Bemühen und Wirken für diese Sachen blieb ohne Erfolg. Bald erfuhren wir die Gesinnung der örtlichen Polizei, die uns die Wiedereröffnung der Bibelschule nicht erlaubte, sondern ankündigte, daß über das Schicksal der Lehrer und der Schule das Volksgericht entscheiden würde. Und so kam es auch! 7. Das Volksgericht und die Folgen. — Im Juli 1924 fand das Volksgericht statt. Dazu war der Ort des Volksrichters unseres Kreises von dem Krimer Gerichtshof bestimmt. Zwei Advokaten kamen zum Gericht: der eine — der die Seite der Regierung (eigentlich Partei) vertrat, und der andere Redner, der die Sache der Beschuldigten (der Schule) führte. Die Lehrer J.G. Wiens, H.B. Braun, A.H. Unruh und G.J. Reimer waren die Angeklagten, die unlegal — wie sie es hinstellten — Religionsunterricht getrieben hatten unter der Bevölkerung eines Reiches, das den freien Unterricht der Bibel nicht gestatte. Es wurden heftige Reden dagegen und dafür gehalten, — was den Richter (mit Hilfe der Geschworenen) zur folgenden Entschei¬ dung führte: (Urteil) “Für weiter die Bibelschule als geschlossen anzusehen, die Lehrer der Schule als unschuldig zu erklären und ihnen volle Freiheit nach außen hin zu gewähren.” Betrübten Herzens einerseits und doch froh andererseits kehrten die Brüder in ihre Heime zurück, — froh darüber, daß ihnen die Ausreise aus Rußland offen stand und keine Hindernisse Vorlagen für die Erlangung der Auslandspässe, — wovon sie auch 215 recht bald Gebrauch machten. Man hatte den bestimmten Eindruck mitgenommen, daß an einen Bibelunterricht in Schulen für die Zukunft nicht mehr zu denken sei. Daher dachten die Brüder an Auswandern. Die Türen für eine solche Arbeit waren geschlossen, — die Schule begraben, die Lehrer entlassen und die Studenten erhielten Befehl, in ihre Heimat zu gehen. Am ersten faßte Lehrer A.H. Unruh den Entschluß, bei der Regierung um Herausgabe der Auswanderungspapiere einzu¬ kommen. Der Herr schenkte Gnade dazu; am 5. Dezember 1924 nahm die Familie A.H. Unruh Abschied und zog nach Kanada. Im nächsten Jahre (Dezember 1925) zog die Familie G.J. Reimer und anfangs 1926 kam Lehrer J.G. Wiens mit Familie nach Amerika, — wo Prediger A.H. Unruh schon den Grund zu einer neuen Bibel¬ schule gelegt hatte; — und so durften diese drei Lehrer in Winkler, Manitoba, mit ihrem Unterricht Fortsetzung machen. Das war Gottes Führung und des himmlischen Vaters Fürsorge! Ihm sei Ehre und Dank für sein Geleit und für seine wunderbare Durchhilfe! Eingesandt vom Schulsekretär G.J. Reimer. Kingsville, Ontario, den 20. Sept. 1952. Erinnerungen an Moskau vor 20 Jahren. 1929 — 1949. H. Martins, Blumenau, Brasilien. Aus “Der Bote”. Losgefahren von Moskau — 1. Gruppe — den 29. Okt. 1929; in Leningrad angekommen — den 31. Okt. abends; den 3. Nov. in Kiel, Deutschland. Der 29. Oktober 1929 wird bei vielen noch in Erinnerung sein und unvergeßlich bleiben, denn es war der Tag, in dessen ersten Nachtstunden die erste Gruppe verladen wurde von den vielen Tausenden Füchtlingen, die im Laufe der letzten Monate sich bei Moskau angesammelt hatten, um die Erlaubnis zu erhalten, nach Uebersee auszuwandern. Ueber die Ursachen der Ansammlung von Flüchtlingen bei der russischen Metropole, ihre Entwickelung und die endliche Ausreise selbst von einem Teil der Familien ist in den darauffolgenden Jahren manches veröffentlicht worden in den Zeitschriften. In folgendem möchte ich einiges Selbsterlebtes aus jenen bewegten Tagen festhalten und Einzelheiten mitteilen, über welche meines Wissens in den mennonitischen Blättern bisher nichts berichtet worden ist. Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer II, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 216 Der Verband der Bürger holländischer Herkunft in der Ukraina, unter Zusammenarbeit mit dem A.M.L.V. in Moskau, hatte bei der Zentralregierung eine Sondererlaubnis erwirkt für Abwanderung nach Uebersee, als Entlastung für einzelne Mennonitensiedlungen Rußlands. Diese Bewegung begann 1923/24, und zog sich bis 1929. Die Krim blieb davon unberührt. Hauptsächlich auf Grund mündlicher Nachrichten, durch Besuche von Siedlung zu Siedlung, hieß es immer wieder: Es geht! Nur nach Moskau kommen und dort etwas warten! — Anfang 1929 glaubten wir, daß auch für unsere Familie der richtige Augenblick gekommen sei. Nach zweimaligem Ausruf und sonstigen andern Vorbereitungen verließen wir unser Heimatdorf und kamen Mitte August 1929 nach Moskau. Die letzte Abwanderungs oder Entlastungsgruppe, versehen mit ordentlichen russischen Auslandspässen, verließ wenige Tage nach unserer Ankunft die Hauptstadt, Richtung Grenze. Wehmütig blickten wir ihr nach, aber mit der festen Hoffnung, daß es auch uns gelingen werde, auf dieselbe Art hinauszukommen. Es war aber ganz anders. Ein Wendepunkt trat ein. Nach Abreise dieser letzten ‘‘legalen" Gruppe stellten wir fest, daß etwa sechzig Familien noch da seien. Ein jeder von uns versuchte nun, bei den entsprechenden Behörden ebenfalls die Ausreiseerlaubnis zu erhalten, aber alle unsere Bemühungen waren erfolglos. Anfang September versammelten sich im Wäldchen bei D. ein gutes Dutzend Männer, um über unsere Lage zu beraten, und. wenn möglich, ein Komitee zu wählen. Draußen waren Posten aufgestellt, um uns zu warnen bei herannahendem unerwünschtem Besuch. Die Gemüter waren gedrückt. Von den Anwesenden wurden Männer in Vorschlag gebracht für das Komitee, das sich unserer Angelengheit im besonderen annehmen sollte. Eine Wahl kam aber nicht zustande, denn einer der Anwesenden, es war M.. wies darauf hin, daß wir kein Komitee wählen können, weil jede Person, die von uns herausgestellt wird als Bevollmächtigter von den Behörden angesehen werden wird als Agitator und Organisator einer illegalen Sache; damit wird nur dessen Freiheit und auch sein Leben aufs Spiel gesetzt, und unserer Sache ist nicht gedient. Das leuchtete ein, aber — was tun? Wir können doch nicht untätig bleiben in unserer Lage! Das wenige mitgebrachte Geld wird bald aufgebraucht sein, und es geht in den Winter. Wir wohnen ja in Holzhäusern! — Tiefes, ernstes Schweigen. “Es sind hier Namen genannt worden. Wir dürfen diese Personen nicht wählen. Aber auch ungewählt tut ein jeder von uns für die Allgemeinheit das, was er glaubt tun zu müssen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wir wissen ja, was man von uns erwartet!” — Es war derselbe M., von dem dieser Vorschlag kam, als Ausweg aus der entstandenen kritischen Lage. Stillschweigend stimmt man zu und geht wieder auseinander, wenn auch mit bangem Herzen, aber nicht ganz ohne Hoffnung. Auch mein Name wurde auf dieser Waldversammlung genannt. Der dort geäußerte Wunsch war für alle, im besondern aber für 217 mich, nicht nur Befehl, sondern selbstverständliche Pflicht, ein heiliges Muß: denn indem ich der Allgemeinheit zu helfen suche, helfe ich auch mir und meiner Familie. Es wäre ein interessantes Kapitel für sich, einmal die einzelnen Namen derjenigen Personen festzuhalten, die sich furcht- und selbstlos für ihre Brüder einsetzten, stets unter Gefahr, persönliche Freiheit und Eigenes Leben zu verlieren. Jeden Tag nun wurden Behörden und auch Einzelbeamten der verschiedensten Regierungsanstalten mit unserer Angelegenheit “belästigt”, sodaß diese mit Bestimmtheit annehmen mußten, dahinter stecke eine stramme Organisation. Die so “Arbeitenden” waren unter sich nicht in Verbindung, aber das eine Ziel, das sie alle im Auge hatten, und zwar “Erlaubnis zur Auswanderung”, dieser Hauptgedanke machte ihre Arbeit und ihr Vorgehen “einheitlich”. Vergeblich suchten die GPU-Agenten — darunter auch junge Juden, die plattdeutsch sprachen — unter den Massen nach den Führern dieser Bewegung, aber man konnte sie nicht entdecken, denn sie waren nicht da, jeder einzelne wußte sich irgend wie aktiv in der Bewegung. Eines Tages stoßen diese Agenten tatsächlich auf eine Person, welche die Führer der ganzen Bewegung verraten will. “Ich weiß es”, sagt endlich ein altes Mütterchen. Neugierig und gespannt rücken sie näher, damit ihnen auch kein Wort entgeht. “Nun, wer ist es denn?” fragt man ungeduldig. “Soll ich es sagen?” “Ja!” “Es ist der liebe Gott, der uns führt,” kommt es langsam von den Lippen dieses Großmütterchen. Enttäuscht gucken sich die Agenten an, einige spucken entrüstet aus, denn solche Antwort hatte man nicht erwartet. In der Folge ließ ihr Eifer etwas nach. Die Zahl der Flüchtlinge vermehrt sich allmählich. Täglich treffen neue Familien ein, anfangs vereinzelt, dann in Gruppen. Am häufigsten sieht man Ansammlungen auf den Nordbahnhöfen: die meisten Leute kommen aus Richtung Orenburg, Samara, Sibirien. Die Wohnungsfrage wird akut. Fast sämtliche leerstehende Sommerwohnungen der Moskowiter in den Vororten (es sind Holzhäuser) werden besetzt von den neu eintreffenden Familien. Die Mietspreise steigen, die Existenzfrage wird alarmierend, denn eine größere Anzahl von Familien ist bereits ganz ohne eigene Mittel. Verschiedene Familienväter und Einzelpersonen über¬ nehmen irgend welche Arbeit, um die notwendigsten Unkosten decken zu können. Die Agentur der RUSCAPA wird öfters besucht, für eine ganze Reihe von Familien sind Schiffspassagen angemeldet, eingesandt von Verwandten und Bekannten. Eine Ausreiseerlaubnis erhält aber niemand. Einigen von den unsrigen gelingt es, Audienz bei führenden Beamten zu erhalten, bei den nächsten Mitarbeitern Stalins. Niemand gibt Aussicht oder Hoffnung auf Ausreise¬ erlaubnis. “Geht zurück, geht nach Hause.” “Wir haben kein Zuhause mehr, man hat uns alles weggenommen.” “Wir werden Euch alles zurückgeben, nur fahrt zurück!” “Wir wünschen nichts zurückzuerhalten, wir möchten nur raus!” “Ihr habt ja keine Mittel 218 für die Reise!” “Und wenn wir zu Fuß bis zur Grenze gehen müßten, das andere wird sich schon finden. Nur gebt uns die Erlaubnis zur Auswanderung!” — Diese und ähnliche Gedanken waren meistens Gegenstand der Unterhaltung mit den Beamten. — Einigen von unseren jungen Leuten gelingt es, durch ein recht gewagtes Vorgehen, mit Beamten ausländischer Vertretungen in Fühlung zu kommen und sie über die Lage der bei Moskau angesammelten Flüchtlinge zu informieren. Das war nicht ganz einfach, weil wir alle dauernd aufs schärfste durch Agenten der GPU beobachtet werden. Immer mehr Familien kommen nach Moskau. Waren es Mitte August ca. 60 Familien, so steigt die Zahl sehr rasch auf einige Tausend Personen: Anfangs Oktober können es schon mehr als 6 Tausend gewesen sein, nach oberflächlicher Schätzung. Die Zahl wächst täglich. Gegen Mitte Oktober sind bereits achttausend, rasch werden es zehntausend, und gegen Ende Oktober zählt man schon nahe an dreizehntausend. — Die Zentralregierung sieht dem unheimlichen Anwachsen der Flüchtlingsmassen nicht gleichgültig zu. Schon gegen Ende September werden von Moskau aus gewisse Gegenmaßregeln getroffen: Eisenbahnzüge durch Gebiete mit deutschstämmigen Einwohnern dürfen keine Passagiere von diesen Leuten mitnehmen. Viele machen große Umwege, umfahren die eigene Bahnstation, um oft nach Tagereisen auf eine andere Bahnstation zu kommen, die in einem ganz russischen Gebiet hegt, nur, um nach Moskau zu kommen. Vereinzelt werden von GPU- Agenten schon Familien aus den Zügen herausgeholt, denn am Gepäck und an den geschlossenen Familien erkennt man in ihnen “Auswanderer”. Daher kommt es, daß in den letzten Oktober¬ wochen verschiedene Familien nach Moskau ganz ohne Gepäck kommen, um nicht unnötigen Verdacht auf sich zu lenken. Auch bei ihrer Ankunft in Moskau werden vereinzelte Familien von Agenten der GPU “in Empfang genommen”. Es gelingt, eine große Anzahl Neueintreffender zu warnen, und sie steigen schon einige Stunden vor Moskau aus, um nicht den Agenten direkt in die Hände zu fallen. — Neuankommende berichten von weiteren schärferen Ma߬ regeln der örtlichen Agenten, um ein Reisen nach Moskau möglichst zu verhindern. Inzwischen meldet sich der Winter. Trübe, kalte und nasse Tage. Feuchte Wohnungen, keine Brennung. Die Kinder fangen an zu kränkeln, es findet sich Keuchhusten, etc. Eine allgemeine Unruhe bemächtigt sich unserer Leute, man fängt an, ungeduldig zu werden. Noch immer keine Aussichten. Ist wirklich keine Hoffnung mehr? Verschiedene Schichten der Bevölkerung in und bei Moskau verhalten sich unserer Bewegung gegenüber sympatisch. Großes Interesse zeigen die sogenannten Tolstojaner, die Anhänger und Nachfolger des Lew Nikolajewitsch Tolstoj, des berühmten russischen Schriftstellers. Mit verschiedenen Männern aus diesen Kreisen kommen wir in Fühlung und in Verbindung. Warm interessiert man sich für unsere Lage, und hat uns verschiedentlich 219 beraten, wie wir uns als Masse zu verhalten hätten, und welche Schritte von uns eventuell unternommen werden müßten. Durch Vermittlung von Freund J. K. werde auch ich mit Männern aus diesen Kreisen bekannt. Es kann Anfangs Oktober gewesen sein, als J.K. und ich im sogenannten “politischen Roten Kreuz” vorsprechen, auf Anraten unserer Tolstojaner Freunde. Im Empfangszimmer treffen wir vereinzelte Frauen und Jungfrauen an mit verweinten Gesichtem. Sofort wußten wir: diese Frauen suchten und forschten nach dem Verbleib ihrer Männer, Väter und Brüder, die, meistens in dunkler Nacht, weggeholt worden waren von Agenten der GPU, und seitdem “verschollen”. Die Leiterin dieses politischen Roten Kreuzes war Frau Peschkowa, die Frau des weltbekannten russischen sozialistischen Schriftstellers Maxim Gorky. Wir werden auch bald empfangen. II Aufmerksam mit freundlicher wohlwollender Miene hört diese Dame den Bericht über unsere Lage als Flüchtlinge an. Auf unsere Bitte, unsere Bemühungen um die Ausreisegenehmigung gehörigen Orts zu befürworten und zu unterstützen, gibt sie zur Antwort: Ihr seid doch keine politischen Flüchtlinge! “Aber unsere Lage ist der Lage jener doch gleich!” — Stillschweigend wird das zugegeben. Ein besonderes Versprechen wird ihrerseits nicht gegeben. Dieser Besuch wird die Veranlassung zu einer schriftlichen Eingabe, die von mehreren hundert unserer Frauen unterschrieben, an diese Dame gerichtet ist, und worin die hoffnungslose Lage unserer Familien und besonders der Kinder geschildert wird, angesichts des herannahenden Winters. An das gute und mitleidige Herz dieser Frau appellierend, wird sie gebeten, ihrerseits, wo notwendig, mitzuhelfen, daß unsem Familien die Ausreiseerlaubnis gegeben würde. Am übernächsten Tage soll dieses Gesuch ihr persönlich über¬ reicht werden in ihrer Wohnung. Bei dieser Gelegenheit versuchen wir Herrn Maxim Gorky persönlich zu sprechen, um auch ihm unsere Lage ans Herz zu legen, werden aber nicht vorgelassen. — Inwieweit diese Eingabe an Frau Gorky (Peschkowa) mit dazu beigetragen haben mag, bei der schließlichen Erlaubnis zur teil¬ weisen Auswanderung, wissen wir nicht. Wir glauben aber bestimmt daran, daß sie nicht ohne Erfolg gewesen ist. Durch die Vermittlung der Tolstojaner-Freunde werde ich auch mit Genossen D. bekannt, der den hohen Posten eines Direktors von sechs chemischen Fabriken in und bei Moskau bekleidete. Auf alle Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen. Genug, wohl im Laufe fast eines ganzen Monats besuche ich allabendlich diesen uns ebenfalls wohlgesinnten Genossen, um ihm Unterricht in englischer Sprache zu erteilen. Er gehörte früher auch zu den Tolstojanem, war jetzt “abtrünnig”, noch ledig und bewohnte einige Zimmer im Zentrum der Stadt. Seinen Haushalt besorgte ein älteres Frauen¬ zimmer, eine Art Amme (Babka!). Sie nannte ihren Herrn auch bei 220 jenen Zeiten “Barin”. Beim Eintritt in sein Arbeitszimmer grüßte mich jedesmal ein großer wohlgepflegter Hund. — Da wir in einem entlegenen Vorort wohnten, mußte ich ca. 25 Werst mit der Vorort¬ bahn nach Moskau fahren. Jeden Abend nach 8 Uhr machte ich mich allein auf den Weg. Dort angekommen, werde ich vor Beginn unserer Sprechstunde, (für jeden Fall hatte ich englische Lehrbücher mit), von diesem Beamten genauestens unterrichtet darüber, was Stalin persönlich, und seine nächsten Mitarbeiter einzeln, über unsere Bewegung denken, und in welchem Sinne sie sich dazu geäußert haben. Daran anschließend berieten wir über eventuelle Maßnahmen, die unrerseits gut wären, um eine raschere Entscheidung in unserer Angelegenheit herbeizuführen. Ich greife nur folgendes heraus aus den letzten Wochen unseres Dortseins: Genosse D. macht eines Abends den Vorschlag: Nachdem einzelne von uns verschiedentlich in Privataudienz von verantwortlichen Persönlichkeiten empfangen worden seien, wäre es gut, inzwischen einmal eine stumme Massendemonstration im großen Warteraum vor Kalinins Zimmer durchzuführen, und zwar durch Anwesenheit von vielen Frauen mit kleinen Kindern. Als nächsten Mitarbeiter und Gehilfen hatte Gott mir einen “Adjutanten” zugestellt, es war Freund B., jetzt in Paraguay. In den letzten Wochen besucht er mich fast regelmäßig jeden Morgen, und stellt die kurze Frage: Was gibt’s? — Kurz teile ich ihm mit, wie man in Moskauer führenden Kreisen über unsere Bewegung denkt, und gebe auch ganz kurz einige Hinweise auf eventuelle Verhaltungsmaßregeln für die Massen. — An jenem Morgen teile ich ihm auch den Gedanken von Genossen D. mit, ohne sich auf irgend eine Person oder sonstige nähere Umstände zu beziehen, gibt er meinen Gedanken weiter. Und am darauffolgenden Tage kann ich selbst beobachten, wie bald sämtliche Vorortzüge der Nordseite angefüllt sind mit wohl mehr als hundert mennonitischer Frauen, die, mit ihren kleinen Kindern auf dem Arm, Richtung Moskau fahren. Nach und nach füllt sich der große Warteraum vor Kalinins Zimmer. Nach mehreren Stunden Verweilens dort geht’s wieder zurück. Niemand von den Frauen hatte um Erlaubnis gebeten, mit Kalinin oder mit Sinowjew zu sprechen: ihr Erscheinen dort mit den kleinen Kindern sollte den Behörden mehr sagen als irgend eine Audienz: Wir sind noch da, und bitten euch inständig, besonders um unserer Kinder willen, uns reisen zu lassen! Diese und ähnliche Fälle zeigen, wie stramm organisiert diese Menge von Flüchtlingen auftreten konnte, trotzdem jede sichtbare Organisation fehlte. Ein Gedanke, ein Vorschlag, hineingegeben in die Menge mit der Absicht, der von uns allen so sehnsüchtig erwarteten Lösung zu dienen, um uns herauszuhelfen, war für alle ein selbstverständlicher Befehl, dem unbedingt nachgekommen werden mußte. Meine allabendlichen Besuche nach Moskau bei Genossen D. setzte ich fort, allein, ohne Begleitung, um nicht unnötig die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Einmal bat ich Freund W., mich zu begleiten. Als wir auf der Bahnstation auf den Zug nach 221 Moskau warteten, zeigt einer von den zufällig anwesenden Mennoniten auf mich und sagt: “De foat va ons wirke!’’ — Ich erschrak etwas, und wagte seitdem nicht mehr, jemanden als Begleitung zu bitten. Wir waren uns der Gefahren voll und ganz bewußt, die solche regelmäßigen Nachtfahrten in dieser besonderen Mission mit sich brachten. Menschliche Garantien waren keine geblieben! — In allem Ungewissen war der große Gott der einzige sichere Halt, und in vollem unbeschränktem Vertrauen auf ihn verließ ich allabendlich meine Familie, und durch Gottes große Gnade, wie ein Wunder, durfte ich immer wieder zurückkehren. Unser Leben betrachteten wir als täglich uns von Gott neu geschenkt. III Dieses “ausschließlich aus Gottes Hand leben” machte unser Herz fest, und wir konnten, bei Ueberwindung aller Menschen¬ furcht, uns von Gott ruhig brauchen lassen auch in dieser Arbeit. In jenen kritischen Tagen war das Verhalten meiner treuen Lebensgefährtin von ganz besonderer Bedeutung. Sie hat nie Einwendungen gemacht gegen meine allabendliche Abwesenheit, hat sich nie beschwert darüber, daß ich sie jeden Abend mit den vier kleinen Kindern allein ließ. Im Gegenteil: durch völligste Verschwiegenheit vor den andern, und durch aktivste Anteilnahme an meiner Mission war es überhaupt möglich, solche Arbeit zu tun. Jeden Tag gab es etwas Neues. Einmal gelang es mir, Audienz bei Genosse Sinowjew zu erhalten. Zwei unserer Brüder begleiteten mich. Schilderung unserer Lage, anknüpfend daran unsere besonderen Wünsche: Zweck unseres Vorsprechens: Laßt uns auswandern! Wir erhielten keine bestimmte Antwort, wie das schon so oft der Fall gewesen war. Die Spannung in unseren Kreisen wurde größer in der zweiten Hälfte des Oktobers. In dieser Zeit lernte ich auch den alten Iwan Iwanowitsch Gorbunow-Possadow kennen, den berühmten russi¬ schen Kinderschriftsteller, einen Zeitgenossen und intimen Anhänger und Freund Lew Tolstojs, den er überlebte. Oefter durfte ich in seiner Wohnung einkehren, deren Zimmer in ihrer Ausstattung ganz den Geist Tolstojs atmeten. Seines hohen Alters wegen und auch aus Rücksicht auf sein Ansehen als Literat und Schriftsteller, das er auch über die Grenzen Rußlands besaß, hatten ihn die Genossen in Ruhe gelassen, trotzdem er ihnen oft manche Wahrheit gesagt hatte. Mit warmem Herzen nahm er Anteil an unserm Schicksal, und hat uns aus seiner reichen Erfahrung heraus manchen wertvollen Rat geben können. Bei Genosse D. in Moskau treffe ich eines Abends mehrere mir unbekannte Herren an. Sie werden mir als Vertreter der amerikanischen jüdischen Hilfsorganisation “Agrojoint” vorge¬ stellt. Ihre Aufgabe war, den notleidenden Juden in Rußland zu helfen. Frei und offen wurde auch über die Lage der deutsch¬ stämmigen Bauern in Rußland gesprochen, nachdem ich kurz 222 hierüber berichtet hatte. Diese “Fremden” hörten solches zum ersten Male und drückten ihre Verwunderung darüber aus. Es kann der 20. Oktober gewesen sein. Ich mache meinen üblichen Besuch bei Genosse D. Nach ausführlichem gegenseitigem Gedankenaustausch sagt er mir plötzlich: Jetzt wird es Zeit, zu handeln! — Gespannt horche ich auf. Es gilt einen letzten entscheidenden Versuch eurerseits zu machen, und “über Euch wird so oder anders entschieden!” — Er rät uns, wohldurchdachte, begründete Eingaben anzufertigen, sie mit mehreren Hunderten Originalunterschriften zu versehen und sie gleichzeitig an die sechs verantwortlichen leitenden Stellen der Sowjetregierung in Moskau einzureichen. Die Schlußgedanken dieses Gesuches müssen die Behörden vor ein Entweder-Oder stellen. — Beim Weggehen weist er noch auf einige Umstände hin, die in der Eingabe unbedingt erwähnt werden müssen. Er wünscht noch viel Glück, und wir verabscheiden uns. Es war mein letzter Besuch bei ihm. Gott wird sein Wohlgefallen gegen uns gelohnt haben! Aus seinem guten Herzen heraus hat er sich bemüht, uns in unserer Lage zu raten und zu helfen, ungeachtet der Gefahren, die auch für ihn damit verbunden waren. Sein Name bleibt unvergeßlich verbunden mit den Erlebnissen jener kritischen Tage bei Moskau Ende Oktober 1929. In später Nachtstunde komme ich nach Hause. Wie immer, erwartet mich meine Frau. Die Kinder schlafen schon einige Stunden. Für uns beide heißt es: Sofort an die Arbeit, keine Zeit versäumen. Eine gemeinsame Eingabe wird ausgearbeitet. In kurzen klaren Sätzen schildere ich unsere Lage, die bereits droht katastrophal zu werden. Und wenn aus irgend welchen Erwägungen heraus die Behörden es nicht für möglich finden sollten, uns die Erlaubnis zur Auswanderung zu geben, dann bliebe für uns kein anderer Ausweg, als geschlossen auf dem Roten Platz zu erscheinen und dort vor ihren Augen zu sterben! — Das war der Schlußsatz des Gesuches, das bei sechs Stellen eingereicht werden sollte. Es folgte noch eine Anmerkung: Dasselbe Gesuch geht ebenfalls an folgende fünf Stellen: die namentlich aufgenannt wurden. — Durch diesen Nachsatz sollte von vomeherein ein Verschwinden unter dem grünen Tischtuch unmöglich gemacht werden, die Behörden wurden gewissermaßen gezwungen, Stellung zu nehmen zu unserer Lage, und darüber zu entscheiden! — Nachdem der Entwurf fertig war und mehrere Male durchgelesen, wurde er von meiner Frau umgeschrieben. Eine gut Bogenseite von Oktavformat füllte das Gesuch aus. — Erst lange nach Mitternacht legten auch wir uns zur Ruhe, uns Gottes Schutze empfehlend. Wie üblich besucht uns mein Adjutant am nächsten Morgen. Auf seine Frage: Was gibt’s Neues? überreiche ich ihm das handgeschriebene Gesuch und bitte ihn selbiges anfertigen zu lassen in sechs Exemplaren, und jedesmal von einer anderen Handschrift. Unser Original möchte er so bald wie möglich zurückbringen. Die andern sechs Exemplare müssen unterschrieben werden von möglichst viel Personen, und schon nach wenigen 223 Tagen mir wieder zurückgebracht. — Ohne unnötige Worte zu verlieren, entfernt sich "mein Mitarbeiter”. Etwas gespannt bin ich selbst, wie das wohl vor sich gehen wird, und flehe zu Gott um Hilfe auch bei dieser Sache, die für uns vielleicht doch eine Lösung bringen wird. — Am nächsten Tage kommt unser Entwurf zurück. Er wird vernichtet. Bei Spaziergängen durch unsere “Siedlungen” bei Moskau kann ich in den nächsten zwei Tagen beobachten, wie sich an verschiedenen Stellen Menschen ansammeln, wobei laut diskutiert wird. Auf mein Befragen hin gibt man mir den Bescheid: es werden Eingaben an die Regierung unterschrieben. — Nach zwei Tagen bringt mein Adjutant alle sechs Eingaben zurück, jede unterschrieben mit ca. sieben hundert Namen. Die Eingaben waren fertig, aber sie an die richtigen Stellen abzuliefern, das war ein neues, nicht ganz einfach zu lösendes Problem. IV Meine üblichen Fahrten nach Moskau fanden in diesen Tagen nicht statt. Alle Gedanken waren einzig darauf konzentriert, die angefertigen Gesuche sicher an die betreffenden Stellen zu leiten. Es war das nicht so selbstverständlich einfach, wo jeder unserer Schritte beobachtet wurde. Als ich auf der Straße eines unserer Massenquartiere einen bekannten Mennoniten treffe, hält er mich an, begrüßt mich und fragt teilnahmsvoll, ob ich das Neueste wisse? “Was denn?” — Wir haben Bittschriften an die Regierung eingereicht, und jetzt wird man uns bestimmt hinauslassen! — Eine große Zuversicht spricht aus seinen Worten. Ich erwiderte gar nichts, denn die Gesuche lagen wohlversteckt unter den Fußboden¬ brettern unserer kleinen Wohnstube, die 3x4 Meter maß, und in welcher wir Eltern mit 4 Kindern schon mehr als 2 Monate wohnten. — Gott, zeige uns den Weg, und hilf uns! — Am 25. abends stecke ich in jede innere Rocktasche je drei dicke Briefe. Länger darf nicht gewartet werden. Jeder Umschlag großen Formats hat seine Adresse, aber kein Absender ist vermerkt. Die Eingaben müssen so aufgegeben werden, daß sie auch sicher ihren Bestimmungsort erreichen. Ueber das Wie bin ich mir selbst noch nicht klar. Langsam, in Gedanken versunken, gehe ich zur Bahnstation und besteige den ersten Zug nach Moskau, wie üblich, auch dieses Mal ohne Begleitung. Im vollen Vertrauen auf Gottes Beistand gehe ich diesen Weg. Von Genossen D. hatte ich bereits Abschied genommen. Also wohin? Ich denke an unsem alten Freund Iwan Iwanowitsch Gorbunow-Possadow. Zu ihm lenke ich meine Schritte, um ihn um Rat zu fragen. Auch jetzt empfängt er mich freundlich. Ich werde mit Tee bewirtet. Dabei erzähle ich ihm das Letzte und Neueste. Mit warmer Teilnahme hört er mich an. Wie soll ich es machen, damit die Eingaben an die Behörden gelangen? “Da kann ich Dir keinen Rat geben, Gott möge Dir helfen, Brüderchen! Von mir aus wünsche ich Euch alles Beste!” Es ist schon spät geworden. Ich drückte ihm die Hand, bedankte mich für die Freundlichkeit und verabschiede mich für immer. So gelange 224 ich auf die Straße mit meinen vollen Rocktaschen, und weiß immer noch nicht, was zu tun. Es geht gegen Mitternacht. Ohne bestimmte Richtung gehe ich durch mir ganz unbekannte meistens schmale Straßen. Plötzlich bemerke ich eine kleine Postabteilung, die Nachtdienst hat. Im selben Augenblick wird mir die Eingebung: Hier bietet sich dir Gelegenheit, die dicken Briefe abzugeben. Aber unbedingt registriert, eingeschrieben, damit sie auch sicher ankommen. Und wen soll ich als Absender vermerken? Einen Privatnamen auf keinen Fall. Rasch kommt mir der Gedanke, auf der Rückseite abgekürzt zu vermerken: Gruppe der Mennoniten aus Dj. (einer der von uns bewohnten Vororte bei Moskau), das entspricht vollständig der Wahrheit, und verrät niemanden. Aber alle Briefe auf einmal abgeben an dieser Stelle, könnte verdächtig werden, weil sie sämtlich an die höchsten Stellen der Zentralregie¬ rung gerichtet sind. Ich will es mit zwei Briefen versuchen! — Alle diese Erwägungen und Ueberlegungen gingen blitzschnell durch den Kopf. Kaum hatte ich diese kleine Postabteilung bemerkt, als ich auch schon eintrete, begrüße kurz das verschlafene Fräulein, vermerke rasch mit meinem Füllfederhalter den Absender auf zwei von meinen Briefumschlägen, überreiche sie und erhalte die Quittungen. Etwas erleichtert befinde ich mich nach wenigen Augenblicken wieder auf der Straße und schlußfolgere: es muß im großen Moskau also noch mehr solcher kleinen Postämter geben, die Nachtdienst verrichten. Ohne zu wissen, wo ich mich befinde, gehe ich weiter durch mehrere Straßen, und treffe glücklicherweise ein zweites ähnliches Postamt an, bedient von einem schläfrigen Fräulein. Ich gehe ebenso vor, wie im ersten Postlokal, und meine Taschen werden um weitere zwei dicke Briefe erleichtert. Bedeutend ruhiger und etwas sicherer, bin ich wieder auf der Straße, und — geführt von einer unsichtbaren Hand, wandere ich noch einige Zeit durch schmale Vorortsstraßen, bis ich auf ein drittes Postlokal stoße, wo ich meine letzten zwei Briefe abgeben kann. Ein Dankesseufzer entsteigt meiner Brust, aus Freude über das Gelingen dieses Vorhabens, und dazu noch ohne unliebsame Zwischenfälle. Jetzt aber rasch nach Hause, denn es ist schon weit nach Mitternacht. Dieselbe Hand, die mir die kleinen Postämter gezeigt;, führte mich in finsterer Nacht durch mir ganz unbekannte Straßen zum richtigen Bahnhof. Ein Nachtzug bringt mich glücklich zu den Meinigen. Wie schon so manche Nacht, erwartet mich auch dieses Mal meine treue Lebensgefährtin. Was der alte Iwan I. Gorbunow-Possadow uns gewünscht hatte, war Wirklich¬ keit geworden: Gott hatte bis hierher wunderbar geholfen! Nach einem kurzen Dankgebet begeben wir uns zur Ruhe für den Rest der Nacht. Menschlicherseits war alles getan worden, um die Behörden vor die Entscheidung zu stellen: entweder die Erlaubnis zur Ausreise, oder: wir sterben vor Euren Augen auf dem Roten Platz! — Unser Schicksal lag in des Allmächtigen Hand! 225 V. Unsere Eingaben hatten Erfolg. Schon in den Vormittags¬ stunden des nächsten Tages konnten wir bald merken, daß in Moskau etwas los sei. Man mußte fast den Eindruck gewinnen, etwas Außergewöhnliches sei geschehen: ein Hasten und eine Nervosität vonseiten einiger Beamten, daß man meinen müßte, alle bösen Geister seien losgelassen. Aus Moskau kommt durch einen Boten Nachricht, man wird uns rauslassen. Jemand von uns soll zum NKWD (Innenkomissariat) kommen. Ich selber eilte dorthin. Gegen Mittag erhalte ich offiziellen Bescheid: man gibt uns die Erlaubnis auszuwandern! — Ueberwältigt von dieser von uns allen so sehnlichst erwarteten Nachricht, renne ich vor übergroßer Freude auf die Straße, und miete eine Taxi für 60 Rubel. Dem Chauffeur gebe ich Anweisung, rasch zu fahren. Bald sind wir außerhalb der Stadt, und nach mehr als einer halben Stunde fahren wir durch die von unsem Leuten bewohnten Vororte. Bei verlangsamter Fahrt stehe ich im Wagen und rufe laut nach rechts und links: Wir dürfen fahren, macht Euch fertig! — Einer gibt dem andern die freudige Mitteilung weiter, und bald wissen alle, was los ist. Nachmittags sind auch schon Agenten da, um die genehmigte Auswanderung zu “organisieren”, um Gruppen zu bilden und namentliche Listen aufzustellen. Verschiedene von uns versuchen diesen Beamten behilflich zu sein in ihrer Arbeit. Wir merken aber bald, es klappt nicht alles richtig: die meisten Namen werden falsch geschrieben, es muß aber auch berücksichtigt werden, wie lange die einzelnen Familien schon bei Moskau liegen. Wir machen den Agenten den Vorschlag, diese Arbeit uns zu überlassen, damit es rascher geht. Sie gehen darauf ein. An die Spitze der ersten Gruppe stellen sich M.L. aus der Krim und meine Wenigkeit. Als Sammelpunkt für sämtliche Angaben dieser Gruppe gilt unsere Wohnung. — Vom NKWD erhalten wir Anweisung, alle zur Ausreise notwendigen Dokumente zu sammeln, und je 400 Rubel pro erwachsene Person in der Familie für den Auslandspaß einzusammeln. Unmündige Kinder sollen auf die Pässe der Eltern gehen: die Knaben zum Vater und die Mädchen zur Mutter. Jede Gruppe soll bei 100 Familien enthalten. Die erste Gruppe wird mit annähernd 200 Familien abgeschlossen, Liste Nr. 2 hat bald 300 Familien. Die Familienzahl der Nächstfolgenden Gruppen bewegt sich zwischen 200 und 300 Familien. Am darauffolgenden Morgen, dem 29. Oktober, hat die erste Gruppe ihre Listen abgeschlossen. Eine Unmenge von Dokumenten sind zusammengebracht, und an Geld etwas über 77 Tausend Rubel. Wir lassen uns eine Taxi kommen, und mit zwei Koffern: der größere mit Dokumenten und der kleiner mit Geld gefüllt, fahre ich nach Moskau. Zwei Brüder aus unserer Mitte begleiteten mich. Angekommen im NKWD, nimmt man unsere Dokumente in Empfang, und schüttet sie in eine Ecke eines abgeteilten Büroraumes, als ob alles Abfallpapier wäre. Ich stehe unter dem 226 Eindruck, daß die Dinge nicht normal gehen. Das Geld wird ordnungsgemäß in Empfang genommen. Man gibt uns Bescheid: am nächsten Tage werden wir alle fahren dürfen. Wir begeben uns zurück zu den unsrigen. Es wird noch immer gruppiert, und an den Listen gearbeitet. Am Nachmittage des 29. Oktober weiß man schon von Gruppe Nr. 7. zu berichten, Gruppe 8 ist in Bearbeitung. Nach den bereits erfaßten Familien müssen es weit mehr als 10,000 (zehntausend) Seelen gewesen sein, und eine größere Anzahl von Familien wartete noch auf Eintragung. Eilig wird gepackt, Wäsche noch rasch gewaschen. Unwillkürlich denkt man an den Auszug der Kinder Israel aus Aegypten. Ueberall ein Eilen und Hasten, um nichts zu versäumen und nicht zu verspäten. Wir wissen von keiner genauen Stunde unserer Abfahrt, und versuchen, uns bereit zu halten. Es wird auch damit gerechnet, daß unerwartet, ganz plötzlich eine Sondermeldung uns überraschen kann. Für jeden Fall hatten wir persönlich uns einen Wagen (Teleshka) bestellt, und auch im voraus bezahlt, nur damit dieser Fuhrmann die ganze Nacht uns zur Verfügung stehen sollte. Die Kinder schlafen schon. Die Uhr geht auf 10. Auch wir denken an die Nachtruhe. Für heute ist kaum noch etwas zu erwarten. Der große Tag kommt also morgen. Kaum dieses gedacht, hören wir draußen das Geräusch eines Autos, das immer näher kommt. Es hält neben unserem Hause. Es kann sich nur um etwas Außergewöhnliches handeln. Ein kleiner Schreck durchfährt uns. Plötzlich wird die Tür unseres Zimmers geöffnet, und vor mir steht M.L., einer der Gruppenführer der ersten Liste, in Begleitung eines Agenten des NKWD. Ganz bleich und fast ohne Atem teilt M.L. mit: Und wer bis 12 Uhr nachts nicht auf dem Bahnhof sein wird, bleibt überhaupt zurück! — Die beiden verlassen uns, um noch vielen anderen aus der ersten Gruppe diesen eiligen Befehl zu bringen. Ohne noch viel zu überlegen, weshalb die große Eile, wecken wir unsere Kinder. Die letzten Sachen werden rasch verpackt. Aus einem Nachbarhause schickt der alte Bärgen (ging später nach Paraguay) einen Boten und läßt fragen, ob dieser Befehl wörtlich zu nehmen sei, vielleicht geht es morgen auch! — Ich lasse ihm sagen: Für ihn ist es die letzte Gelegenheit! Wenn er diese versäumt, wird er nie mehr auswandern können! — Das klang fast prophetisch! Und für verschiedene aus der ersten Gruppe war es die einzige und letzte Gelegenheit. Selbst der erwähnte M.L. der mit dem NKWD-Agenten uns diese Einmeldung brachte, ist nicht mitge¬ kommen, denn er erwartete aus dem Süden eine größere Summe Geldes. Andere hatten draußen Wäsche, die noch wenigstens einen Tag trocknen mußte. Noch andere wollten die letzte Zahlung für ihre Arbeit bei Privatleuten erst abholen, einige warten auf nächste Angehörige, die sie zu ihren Familien hatten schreiben lassen in den Listen; diese Verwandten konnten erst morgen oder übermorgen kommen. “Eile und errette deine Seele!” Nur derjenige, der diesen Befehl persönlich auf sich bezog und nicht zögerte, ihn zu befolgen, konnte mit Auswanderung rechnen. “Sieh nicht hinter dich!” — Geld, Angehörige, Wäsche oder Sonstiges, nichts durfte uns 227 zurückhalten. Für eine ganze Reihe Familien aus der ersten Gruppe bot sich keine Gelegenheit mehr zur Auswanderung. VI. Draußen nasse Moskauer Oktobemacht. Es regnet sanft. In etwa einer halben Stunde sind wir fertig. Unser Fuhrmann war nicht gekommen. Später erfuhren wir, daß er, ziemlich angetrunken, mit seinem Fuhrwerk in den Bach gestürzt war. Also zu Fuß die fast 3km bis zum Bahnhof, in dunkler Nacht. Die Truhe mit den wertvollsten Andenken und den notwendigsten Sachen muß Zurückbleiben, denn sie tragen oder schleppen geht über unsere Kräfte. Wir bitten einen Bekannten, mit der nächsten Gruppe uns die Truhe nachzuschicken. Wir haben von ihr aber nie mehr etwas gesehen. Ruhig, ohne ein Wort zu verlieren, oder nur irgend eine lästige Frage zu stellen, schreiten die Kinder neben uns einher, sich am Arm oder am Koffer festhaltend. Das jüngste ist 4 Jahre alt, das älteste 10. Querfeldein über eine nasse Wiese eilen wir zum Bahnhof, wo wir schwer keuchend, fast ohne Atem ankommen. Es ist bereits Mitternacht, also fast zu spät. Auf dem Bahngeleise steht ein Zug mit 6 Eisenbahnwagen, besetzt von Familien aus der ersten Gruppe. Ein Agent des NKWD registriert im kleinen Wartesaal die Ankommenden. Wir sind schon von den letzten. Nach uns kommen noch zwei Familien, und dann erklärt der Agent die Liste für geschlossen, ein Blick auf die Liste sagt mir, daß mehr als die Hälfte der Familien noch fehlen aus der ersten Gruppe. Auf meine Frage antwortet mir der Agent: Wir haben heute nicht mehr Wagen zur Verfügung, die anderen fahren später! Etwas mehr als 300 Personen — einschließlich die Kinder — haben Platz genommen und die Wagen gefüllt. Ein besonderer Gepäckwagen war auch zur Verfügung gestellt. “Wir müssen jemanden zum Transportführer dieser Gruppe bestimmen,” sagt der Agent. Einer von den wenigen, die noch im Wartesaal mit uns am Tisch des Agenten saßen, nennt meinen Namen. Ich werde als solcher namentlich eingetragen. — Gegen zwei Uhr nachts setzt sich der Zug langsam in Bewegung. Die Stimmung ist gehoben, endlich fahren wir! — Eine auf dem Bahnhof zurückbleibende Familie sieht uns wehmütig nach: sie durfte nicht mitfahren, weil jemand von der Familie fehlte. Der Morgen graut. Gegen Mittag hält der Zug. Wir befinden uns noch immer in Moskau, auf einem entfernt liegenden Nebengeleise eines großen Bahnhofes. Wie lange werden wir hier stehen? Wann geht es weiter? Niemand gibt uns rechten Bescheid. Fast scheint es, wir sind vergessen. Einige von uns gehen auf Suche nach Lebensmitteln und nach Wasser. Erst nachts setzt sich unser Zug wieder in Bewegung. Am nächsten Morgen merken wir, es geht nordwärts, Richtung Leningrad (früher Petersburg). Außer den von uns besetzten 6 Personenwagen hat der Zug vorne und hinten nach eine Reihe Militär. Unsere Wagen tragen in großen Buchstaben die Aufschrift: Umsiedler (Peresselenzy!), um das 228 Eisenbahnpersonal und die Bevölkerung zu täuschen über die mit Hack und Pack reisenden Passagiere. Sowohl während der Fahrt, wie auch auf den Bahnstationen, beim Anhalten des Zuges dürfen wir uns ganz frei halten und bewegen. Oefter werden Lebensmittel gekauft. Am 31. Oktober abends kommen wir in Leningrad an, ohne besondere Zwischenfälle. Auf dem Bahnhof werden wir bereits erwartet von Agenten der Regierung und auch der GPU. Nach ganz kurzem Verweilen im Wartesaal werden wir über einen Platz geführt zur Straßenbahn. Unsere Sachen schleppen wir zum größten Teil mit uns. Straßenbahnwagen werden von den Agenten angehalten, die Passagiere müssen auf die Straße, und uns heißt man in die entleerten Wagen steigen. Auf jedem Wagen steht vorne und hinten eine Wache, damit niemand von uns “ausreiße”. Man bringt uns bis zum sogenannten “Ueberseeheim”, dem Hafen und der Zollabfertigungsstelle der russischen Gesellschaft für Schiff¬ fahrt und Handel (früher ROPIT), eingerichtet mit großen Sälen und Unterkunftsräumen für Reisende. An großen weiß gedeckten Tischen wird uns ein gutes Abendessen serviert. Alles sauber und nett, wie wir es selber schon viele Jahre nicht gesehen hatten. Bald nach dem Essen gehts an die Desinfektion der Kleider. Inzwischen wird uns alles Geld abgefordert, das wir besitzen, unter dem Vorwand, nach Möglichkeit zur Reise beizusteuem, weil niemand für uns die Reise bezahle! Die ganze Nacht hindurch läßt man uns nicht in Ruhe. Mitten in der Nacht noch die Zollabfertigung, gleich am Hafen in der Nähe des Ueberseeheimes, ziemlich oberflächlich: die Koffer, kaum geöffnet, konnten wir sie auch wieder schließen. Dann wieder zurück in die Aufenthalts¬ räume. Weil die Desinfektion der Kleider sich in die Länge zieht, fangen besonders die Kinder an zu frieren und zu weinen. Es geht schon gegen Morgen. Dazwischen wird auch eine ärztliche Untersuchung durchgeführt: eine Familie wird zurückgestellt, wegen Krankheit unter den Kindern. — Wir bitten um warmes Wasser für die Kinder, nachdem die Frühstückszeit längst vorüber ist, und wir merken, daß man nicht daran denkt, uns Kaffee oder Tee zu geben. Unsere Bitte wird abschlägig beantwortet. Hatte man abends uns freundlich empfangen und an einen guten Tisch gesetzt, so war gegen Morgen das Verhältnis zu uns genau das Gegenteil: man hatte nichts mehr für uns übrig. Die Kinder mußten frieren ohne Kleider und ohne irgend welche Decken, die man uns verweigerte. Warmes Wasser oder Tee gab’s auch nicht. Es wurde draußen heller Tag. Allmählich nötigt man die Familien, ins Schiff zu gehen. Meine Frau mit den drei kleinen Töchtern führt man in ein besonderes Zimmer, unsern Sohn und mich in ein anderes Zimmer, wo wir eingeschlossen werden. Draußen im Korridor höre ich die Schritte unserer Leute, die zum Schiff geführt werden. Nach einer Weile tritt ein Agent in unser Zimmer. Alle Taschen müssen entleert werden, Falten und Nähte an jedem Kleidungsstück werden sorgfältig untersucht, auch die Schuhe müssen ausgezogen werden. Durch ernstes Bitten kann ich den Agenten bewegen, mir wenigstens unsere Geburstscheine zurückzugeben. Notizbuch, 229 verschiedene Postmarken, eine Liste der Passagiere und einige kleine Zettel behält er. Dann läßt man uns allein im abgeschlossenen Zimmer. Mit bangem Herzen seufze ich, das Weitere steht in Gottes Hand! VII. Später erfuhr ich, daß meine Frau und die 3 Töchter von einer weiblichen Agentin, die dünne Gummihandschuhe trug, ebenfalls untersucht wurden. Auffallend fand sie das ausgezeichnete Russisch meiner Frau, wie es sonst keine der unsrigen Frauen beherrschte. In einer anschließenden kurzen Unterhaltung antwor¬ tete meine Frau unerschrocken, sehr entschieden und bestimmt, was die Agentin zum Nachdenken brachte. Sie verläßt das Zimmer, und wenige Augenblicke darauf ist die Frau frei und wird zum Schiffe geführt, in dessen Innerem alle andern bereits Platz genommen hatten. Aufgefordert, ebenfalls ins Schiff zu gehen, weigert meine Frau sich das zu tun, mit der Begründung: Ohne meinen Mann gehe ich nicht ins Schiff! — Sehr entschieden klingen ihre Worte und kurz darauf hören wir den Schlüssel unserer Tür sich drehen, und ein Agent führt uns beide — unser Söhnchen und mich — zum Schiff. Als letzte Familie steigen wir die Treppe hinunter ins Schiff. Einer von den Unsrigen, Br. F., jetzt in Paraguay, der bei der Luke steht, hört von einem Agenten noch eine Drohung mir nachrufen: “Warte nur, dich kriegen wir noch!” — “Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott hat es wohl gemacht!” Schluß Der Name unseres Dampfers ist “Djershinsky”. Der Konstruk¬ teur, ein englischer Schiffsbauingenieur, begleitet den Dampfer auf seiner Jungfernfahrt. Das Innere dieses Frachtdampfers ist jetzt für Personentransport eingerichtet: ein großer Schlafraum mit Himmelbetten, und lange Tische für gemeinsame Speisung. Am 1. November um die Mittagszeit werden die Anker gelichtet, und wir stechen in See. Sehr angenehm begrüßen wir das Mittagessen, das wir gleich nach Abfahrt des Dampfers zu uns nehmen dürfen. Wir denken noch an die eben verlebte unruhige, hungrige und kalte Nacht. Die Seelenstimmung ist wohl sehr ernst, aber es wird ruhiger in uns. Unsere Mädchen helfen beim Servieren an den Tischen, beim Zu tragen der Speisen und auch beim Abräumen. Gleich die erste Mahlzeit wird mit einem gemeinsamen Liedervers und einem kurzen Gebet eingeleitet. Diese Gewohnheiten halten wir bei während der ganzen Fahrt. Die Einleitung zum Abendessen ist zugleich Schlußgottesdienst des Tages. Wir sind uns dessen voll bewußt, daß wir uns im Dampfer noch auf Sowjetboden befinden. Menschlich betrachtet, bleiben wir der Willkür der alten Regierung ausgesetzt. Beim Singen und Beten danken wir Gott für seine Gegenwart und für seinen Trost, und bereiten unsre Seelen darauf vor, alles aus Gottes Hand auch in der 230 Zukunft anzunehmen, was auch kommen mag, Gutes oder auch Leides! Wir haben auch keine andere Wahl: alle menschlichen Stützen sind haltlos geworden und wertlos, die einzige Zuflucht bleibt: nur Gott allein! Mit Ihm, sollten uns gute Tage geschenkt werden, aber auch nur mit Ihm, wenn es vielleicht in den Tod gehen sollte! Ueber ähnliche böse Absichten unserer damaligen Macht¬ haber erfuhren wir nachträglich, als wir schon in einem deutschen Lager waren. Gott hatte es über uns anders beschlossen! Haben wir diese besondere Wohltat Gottes heute schon vergessen? Ohne besondere Zwischenfälle, ohne besondere Ereignisse verläuft die Reise, bis wir, am 3. November 1929, in den Kieler Hafen einlaufen. Ein wunderschöner Sonntagmorgen zeigt uns deutsche Landschaft wie in einem bunten Büderbuche. Vor Jubel hätten wir laut aufschreien mögen. Beim Durchfahren unter der hohen Brücke winkt man uns von oben zu, auffallend sind die roten Tücher, aber wir achten nicht viel darauf. Mit Spannung erwarten alle den großen Augenblick — die Landung. Ein deutscher Hafen¬ polizist kommt an Bord. Man läßt mich rufen in die Kajüte des Kapitäns. Ein kurzes Fragen und Antworten! Sprechen Sie auch deutsch? — fragt man mich. Bis dahin sind wir ganz ohne Dokumente gereist. Daran hatten wir selbst nicht einmal ernstlich nachgedacht. Es ging ja alles außergewöhnlich! Zu meinem Staunen bemerke ich, wie der Kapitän dem Hafenpolizist unsere Dokumente einhändigt, von denen wir keine Ahnung hatten. Es waren kurzfristige Sowjetpersonalausweise, mit einem Transitver¬ merk der Deutschen Botschaft in Moskau. Durch diese Dokumente waren wir staatenlos geworden, man hatte uns ausgebürgert. Wir dürfen an Land gehen. Ein neues Kapitel für die heimat¬ losen Wanderer. Heinrich Martins, Blumenau, Caixopostal 131 Sta. Catarina, Brazil. Deutsches Kolonistenschicksal in Sowjet-Rußland Dem “Gemeinschaftsbote” 1929 entnommen. Der nachstehende Bericht zeigt uns die Ursache, warum Tausende deutscher Kolonisten: Katholiken, Lutheraner und Mennoniten zur Massenflucht griffen, um aus dem “Roten Paradies” zu entfliehen. Ein deutscher Sibirienkolonist (ein Mennonit), der das Glück hatte, als einer der ersten von den zugrunde gerichteten deutschen Bauern aus Rußland zu entkommen, schreibt über seine Erlebnisse in schlichter, aber eindringlicher Weise die nachstehenden Zeilen. Kiel, den 12. November 1929. Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer II, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 231 “Der Auszug der Kinder Israel”, das ist uns als Scherzwort von einem Kieler entgegengerufen worden, als wir von dem russischen Dampfer “Djershinsky” ausgeladen wurden und in dem großen Getreidespeicher am Kieler Hafen untergebracht wurden. Für uns ist es mehr als ein Scherzwort, für uns ist es bitterer Ernst. Denn jeder von uns weiß seine Geschichte zu erzählen von den Bausteinen, die wir Zusammentragen halfen, um den Reichtum Rußlands zu schaffen und seine Größe aufzubauen in der Zarenzeit, und über die bittere Fronarbeit, die wir leisten mußten zur Ehre des neuen “Systems”. — Aber in Kiel hat man uns wie Brüder empfangen. Deshalb will ich erzählen, warum wir, 380 Seelen, die das Glück hatten, als erste abtransportiert zu werden, und mit uns an die Zehntausend anderer Kolonisten, die aus Rußland ausgezogen sind. Wir haben Monate und Jahre hart mit uns kämpfen müssen. Der Entschluß ist uns nicht leicht geworden, wohl keinem von uns. Jeder für sich allein und gemeinsam in geheimen Versammlungen sind wir mit uns zu Rate gegangen, bevor wir uns zum Entschluß durchrangen. Als gewissenhafte Deutsche und gute Christen¬ menschen wußten wir zur Genüge, daß die Verantwortung jedes einzelnen groß war. Wir haben alle große Familien. Ich habe fünf Kinder, der eine Kolonienachbar hat acht, der andere sieben. Und so ist es überall. Die kleinen Würmer würden, so dachten wir, die Strapazen der langen Reise nur schwer ertragen. Aber gerade ihre Zukunft, die Zukunft unserer Kinder, hat dann den Ausschlag gegeben, daß wir uns aufgemacht haben, um zu fliehen und so schnell wie möglich über die Grenze zu kommen. — Was war auch zu machen? Jeder einzelne wurde von den bolschewistischen Getreidetreibern ausgequetscht wie eine Zitrone, jedem hat man genommen, was nehmenswert war, und was in saurer Arbeit durch Generationen geschaffen wurde. Wir wissen wohl, daß das Schicksal des einzelnen den neuen Machthabern in Rußland nicht maßgebend ist, wo es um das System geht. Aber blieb bei diesem System überhaupt noch Raum für den Begriff des Eigentums? Wir sollten nach dem Willen der Herrscher in Rußland proletarisiert werden, wie das dort genannt wird. Sie verstehen darunter einen neuen Stand im heutigen Rußland und ernennen sogar “Ehrenpro¬ letarier”. Wir aber wissen, daß sich darunter nur Arbeitsscheue verbergen und Maulhelden und Müßiggänger. Denn wer arbeitet, will die Frucht seiner Hände Arbeit genießen, will die Zukunft seiner Kinder sicherstellen, will besitzen, was er sich erarbeitet hat. Jetzt nennen die in Rußland das aber Diebstahl, während die Unzähligen, die nur umherreisen und reden und nicht arbeiten, die immer nur vom System sprechen und von dem Paradies der Arbeiter, in Wirklichkeit selbst gar nicht arbeiten. Ist das nicht viel eher Diebstahl? Das ist eine moralische Verrohung und Zerrüttung, und deshalb sind wir ausgezogen. Wir waren nie schlechte Staatsbürger, wie es jetzt die Kommunisten wahr haben wollen. Wir haben immer dem Staat gegeben, was des Staates war. Unter dem Zaren ist es uns gut 232 gegangen. Man hat unsere deutsche Gründlichkeit und Sauberkeit und unsere Arbeitswut oft bespöttelt und uns Kleinkrämer und Philister genannt. Aber im Geheimen hat man uns immer abgucken wollen. Wir hatten in unserer Kolonie eine eigene Schule, die wir selbst unterhielten, und eine Kirche. Die Sprache ist überall deutsch, viele verstehen gar nicht russisch, obwohl wir alle in Rußland geboren sind. Wir wählten unsem eigenen Ortsältesten, der den Verkehr mit den Behörden besorgte. Wir zahlten pünktlich unsere Steuern, lebten unser stilles Arbeitsleben und hatten auch nie mit den Behörden etwas zu tun. Wir waren glücklich und vergrößerten uns schnell. Die meisten von uns hatten 50 Desjatinen und mehr und zehn oder zwölf Pferde und Kühe im Stall. Wir hielten fest zusammen und berieten in unserem Rate über alle Angelegenheiten der Kolonie. Nach der Revolution und dem Umsturz begann aber eine trübe Zeit. Man wollte diejenigen unter uns, die zu den Mennoniten gehören, zum Heeresdienst zwingen, und wir sollten den Eid tun. Das lehnten wir ab. Da kam es zu den ersten Reibereien. Vielen aus der Umgebung war auch unser Wohlstand ein Dorn im Auge, so daß sie zum Kommissar in die nächste Kreisstadt gingen und uns als “Kulaken” anzeigten. Solange Lenin lebte, ging es aber noch. Als die Kommunen, die neuen Getreidefabriken, eingeführt wurden, schlossen auch wir uns zusammen und bestellten unsere Felder gemeinsam. Es herrschte aber Friede, weil wir unter uns blieben. Vor zwei Jahren fing die schwere Zeit erst eigentlich an. Wir mußten immer wieder abliefern, und es wurde nicht gefragt, ob wir es auch tragen könnten. Wer die festgesetzte Pudzahl nicht aufbringen konnte, der mußte Getreide zukaufen. Vielen ging es über die Kraft. Aber wir halfen uns gegenseitig und dachten nur, über das schwere Jahr hinwegzukommen. Aber im vergangenen Jahr ging man dann dazu über, Strafsteuern auszuschreiben und zu pfänden, wer sie nicht bezahlen konnte. Wem sie das letzte Getreide abgenommen hatten, dem stellte der Staat dann Saatgetreide zur Verfügung, aber zu so hohen Preisen, daß der Ankauf sich nicht mehr lohnte. Aber auch das mußte zwangsweise geschehen, und wenn solchen Bauern dafür das letzte Pferd und die letzte Kuh aus dem Stalle geholt wurde. Es ging ein großes Wehklagen durch die Kolonie, blühende Wirtschaften wurden über Nacht zertrümmert, wenn die Fuhre des Eintreibers gekommen war. Mir hat man erst fünfzig von meinen achtzig Deßjatinen genommen, weil ich, wie sie sagten, nicht soviel brauchte. Dann sollte ich aber Weizen für die achtzig Deßjatinen ab liefern. Man nahm mir sechs von meinen sieben Pferden und holte mir fast alle Kühe von der Weide. Im letzten Jahre konnte ich nicht mehr säen. Es lohnte sich auch nicht mehr. Meinem Nachbarn ist es etwas besser ergangen. Ihm hat man erst in diesem Jahr sein Vieh weggenommen, — er hat aber gar nicht mehr geerntet, als er erfuhr, daß er soviel ab liefern sollte, daß er neues Saatgetreide hätte kaufen müssen. Ein anderer hat noch geerntet, aber das Getreide auf dem Felde liegen lassen, denn es hätte nicht einmal ausgereicht, um alles abzuliefern, was er 233 zugeschrieben erhielt. Einem andern hat man das Haus gepfändet, nachdem man ihm alles Getreide abgenommen hatte. Das Geld dafür hat er aber nicht mehr bekommen. Es hätte zu lange gedauert, und da hat er verzichtet und ist geflüchtet. Viele haben ihre Häuser und ihre Habe nicht mehr verkaufen können, — sie haben alles stehen gelassen und sind geflohen. Und es ist gut so, für jeden ist es gut, der noch rechtzeitig sein Papier kriegt und in die neue Heimat gelangt. Lieber ein Ende mit Schrecken als eine endlose Fortsetzung dieses Lebens, das kein Leben mehr war. Es war eine Hölle, wie es in der Bibel steht, mit einer ewigen Qual an Leib und Seele. Das Elend ist jetzt groß unter uns, besonders unter den Frauen und Kindern. Aber wir tragen alles mit Geduld. Denn wir sehen eine neue Heimat vor uns, wo wir von neuem arbeiten und aufbauen wollen. Uns helfen auch die deutschen Brüder. Das Elend derer, die noch vor Moskau liegen, wird größer sein. Wir möchten ihnen helfen, wir können aber nicht. Helfe ihnen Gott, daß sie noch die 220 Rubel für das Papier bezahlen und über die Grenze kommen können. “Aufwärts”. Die Endphase in der Geschichte unserer Siedlungen in der Ukraine. Von Dr. Hans Rempel — aus “Der Bote”. Dr. Hans Rempel stammt aus dem Nordosten Rußlands. Als junger Mann kam er auch in die Verbannung, wo er das Los seines Vaters teilte (Prediger Dav. Rempel, Orenburg). Es gelang ihm aber von Archangelsk auf einem ausländischen Schiffe zu entfliehen. Er kam trotz großer Gefahren nach Deutschland, hat dort studiert und gibt nun seine Eindrücke wieder, die er beim Besuch der mennonitischen Siedlungen in Rußland während der Besatzung durch Deutschland — 1941-43 — bekommen hat. — Die Geschichte der gesamtdeutschen Kolonisation im Osten ist eine Ruhmesblatt menschlichen Arbeitswillens und menschlicher' Tatkraft. Sie zeugt vom Unternehmungsgeist der Pioniers, von der Zähigkeit im Verfolgen eines Zieles, von der Ausdauer im Leid, vom Nichtnachlassen im Erfolg; vor allem aber legt sie beredtes Zeugnis ab von unerschütterlichem Gottvertrauen. Das Mennonitentum nimmt im Rahmen des Ganzen eine Sonderstellung ein. Diese ist gekennzeichnet durch die eigene Mentalität, die oft eine Exklusivität gegenüber den andern darstellt, durch eine erhöhte wirtschaftliche Potenz, durch den Willen zu eigener kulturlichen Leistung und durch das enge Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl auf religiöser Aus dem Buche: Mennonitische Märtyrer II, A.A. Toews, mit Erlaubnis des Erben J.A. Toews. 234 Grundlage, das ja bis in die Gegenwart hinein — und das darf man mit freudigem Stolz sagen — in der tätigen Hilfsbereitschaft an den Glaubensgenossen zum Ausdruck kommt. Aber das Mennonitentum in Rußland bildete immer nur einen Teil des gesamten deutschen Siedlertums, dem es letzten Endes in seiner Geschichte verhaftet bleibt. Das muß klar gesehen werden. Vertieft man sich in die Geschichte unseres Siedlungswesens, so stellt man mit freudiger Genugtuung fest, das sie von einem nur friedlichen Willen zur Eroberung der Scholle getragen wurde. Wenn in den Anfangsjahren der russische Staat das Siedlertum förderte, so blieb doch immer der eigene Fleiß die Voraussetzung für den Erfolg. Wenn später beispielsweise kurz vor und während des Weltkrieges derselbe Staat das Bauerntum zu unterdrücken begann und es politischer Umtriebe bezichtigte, so blieb es ebenso unverrückt seinen friedlichen Absichten und seiner Berufung als Ackerbau treibende Volksgruppe treu. Ja, das Mennonitentum bewahrte trotz aller Anfechtungen seinen traditionellen Standpunkt der Wehrlosigkeit. Auch die Stürme der Revolution und des Bürgerkrieges vermochten das nun schon Geschichte gewordene Werk der kolonisation nicht auszulöschen. Und die ursprüngliche Kraft der ersten Pioniere, auf die man als auf die Vorväter zurückblickte, war in den Nachfahren immmer noch lebendig und tat sich kund in neuem Aufbau willen. Ueberblickt man das Ganze, so darf man feststellen, daß hier eine außerordentliche Leistung vollbracht worden war, und stellt man in Rechnung, daß alle Leistung sich in physischer Arbeitskraft, in seelischer Energie ausdrückt, so wird man das letztere, in diesem Fall als tiefgegründete, im Glauben an und im Vertrauen auf Gott verankerte Sittlichkeit ansehen dürfen. Den interessierten Historiker mag vielleicht noch vor einem Jahrzehnt die Frage nach dem weiteren Verlauf, d.h. nach der Zukunft der deutschen Siedlungen in der Ukraine beschäftigt haben. Hätte man ihm damals gesagt, daß das, was deutsche Arbeit und deutscher Geist in über anderthalb Jahrhunderten geschaffen und bewahrt, einmal von deutschen Händen und mit Mitteln deutscher Technik zerstört werden solle, so hätte er es nicht für möglich gehalten. Und doch ist es so, wenigstens zum Teil. Hierin liegt die ungeheuerliche und unbegreifliche Tragik unserer Geschichte. Es war mir vergönnt, unsere Siedlungen kurz vor ihrer Zerstörung noch einmal zu sehen. Wenn ich in folgendem hierüber berichte, so soll es in der Gestalt des Erlebnisberichtes geschehen. Jeder, der seine russische Heimat verlassen hatte, trug in sich die Sehnsucht, sie einmal wiederzusehen. Wieviel liebe Erinnerungen knüpfen sich an das ehemalige Daheim. Der Wunsch, und wenn auch nur einmal für kurze Zeit, dort zu sein, war um so größer, da er ja schlechterdings unerfüllbar erschien. So war es auch mir ergangen. Als sich nun während des letzten Krieges die Möglichkeit ergab, fieberte ich diesem Erlebnis mit großer Spannung entgegen. Mein erster Besuch galt Chortitza, der Mutterkolonie aller 235 mennonitischen Siedlungen in Südrußland. Schon der erste Blick ließ die Wandlung der letzten Jahrzehnte erkennen. Das ehemalige deutsche Dorf hatte sich zu einer kleinen Industriestadt entwickelt, deren Einwohner über 3 A Fremdvölker, d.h. Russen oder Ukrainer waren. Der deutsche Charakter war kaum noch erkennbar. Das Wahrzeichen von Chortitza, das hochgelegene Gebäude der ehemaligen Zentralschule, war Sitz des Gebietskommissars und wurde von den Bauern die Wartburg genannt, weil sie dort unendlich lange warten mußten, um ihre Anliegen Vorbringen zu können. Die alten Bauernhäuser standen verloren und verkümmert unter zahlreichen Neubauten, meistens kleinen Arbeiterhäuschen. Die Höfe waren verludert. Die Scheunen und Ställe abgebrochen, weil sie im Kollektiv nicht mehr benötigt wurden. Vielfach lagen noch Bauschutt und restliche Steine über dem Fundament. Trat man aber in ein Haus, so war man sofort zu Hause. Da standen noch die alten bekannten Möbel; die Schlafbank, der klobige Kleiderschrank, an der Wand hing die Schlaguhr usw. Alles das, obwohl alt und verbraucht, war sauber und leidlich gepflegt. Das Entscheidende aber, der Mensch — er stand da, ob Mann oder Frau, mit sorgendurchfurchtem Gesicht. Dieses Antlitz war ebenso grau und verwittert wie das Häuschen, und die Bekleidung wohl fast ebenso alt und zerschlissen wie die Möbel. Die Barfüße steckten in den traditionellen “Schlorren”. Man bekundete verlegen seine Freude über den Besuch. Aber zu einer flüssigen Unter¬ haltung wollte es nicht kommen, als ob die Zunge gleich der alten Schlaguhr nicht mehr so recht parieren wollte. Der Grund der Wortkargheit lag aber woanders: zu viel Leid hatte diese Menschen gebeugt. Doch darüber später. Erst allmählich taute der Mennist auf, um darüber zu berichten, was in den letzten Jahren über ihn ergangen war. Rosenthal hatte schon mehr den Charakter des Dorfes gewahrt. Aber auch hier waren die breitausladenden Gehöfe und die Bauten außerordentlich verwahrlost. Seit Jahrzehnten war kaum Hand angelegt worden, um Instandsetzungsarbeiten durchzu¬ führen. Ich betrat einen beliebigen Hof. In der Stalltür stand ein junger Bauer, die Hände in den Hosentaschen, mit einer Schulter an den Türrahmen gelehnt. Das Hemd das er trug, war fast bis zur Unkenntlichkeit schmutzig und an vielen Stellen guckte das nackte Fleisch heraus. Die Hosen — viel zu kurz, als wären sie unten abgeschnitten um oben angehängt zu werden — gehörten nur insofern zur Kategorie der Hosen, als wir ja keine andere Bezeichnung für das haben, was Männer tragen. Ich begrüßte ihn freundlich, und er sagte auch “guten Tag.” Das war aber auch alles. Unverändert lehnte er am Türrahmen, die Hände immer noch in den Hosentaschen. Ich fragte ihn, ob dies sein Haus sei. Er sagte "nein”. Ich fragte ihn, wessen Haus dies denn sei. “Es gehört dem Kollektiv”. Ich fragte weiter, warum er dann hier sei. “Ich bin Arbeiter im Kollektiv.” Ich fragte, ob ich nicht in den Stall hineingehen dürfte, denn 236 auffallenderweise hatte das Haus einen größeren Stall, es war ein Kollektivstall. Der Mann machte soviel Platz, daß ich durch die Tür eintreten konnte. Sofort fiel mein Bück auf die gutgepflegten und rassigen Pferde. “0, was haben Sie für schöne Pferde,” rief ich aus. Jetzt kam Leben in den Mann. Das Lob über die Pferde hatte es ihm angetan. Ja, so versicherte er, die Pferde seien jetzt besser. Sie wären mager gewesen, aber jetzt hätten sie mehr Futter. Und die Hauptsache, dieses seien bei weitem nicht die schönsten Pferde, die seien für Kriegszwecke genommen worden. Aber das müsse wohl so sein. Dabei streichelte er liebevoll die Mähnen der Tiere und klopfte auf die Sattellage. Der Bann war gebrochen, und er redete sich den Kummer vom Herzen, daß da alles dem Kollektiv gehöre, und daß er hoffe, daß es anders werden, und er dann vielleicht selbst Pferde und Wagen besitzen würde. Beim Abschied sagte er verlegen, daß ihm mein Besuch sehr unangenehm gewesen sei, weil er sich seiner schlechten Kleider wegen schäme. Einlage, wieder eine Arbeitersiedlung. Das alte Einlage ist ja bei Errichtung des Staudammes niedergerissen worden. Das neue beherbergt nur noch eine kleine Zahl Deutscher. Alle andern sind Fremdvölkische. Der Ort machte einen freundlichen Eindruck, weil ja die Arbeiterhäuschen jüngeren Datums waren. Das ganze Leben wird hier bestimmt durch das große Kraftwerk. Ich reiste weiter an den Ingulez, in den Kronauer Rajon. Diese Dörfer machten einen viel einladenderen Eindruck. Die breiten Straßen waren notdürftig in Stand gesetzt, und die Höfe ließen die aufräumende Hand merken. Selbstverständlich waren auch hier Scheunen und Ställe niedergerissen, und die Zäune an den Straßen, ob Backstein oder Holzzäune, waren verfallen oder fehlten ganz. Auch hier derselbe Eindruck: Seit Jahrzehnten keine Instand¬ setzungsarbeit. Mit dürftigen Mitteln wurde versucht, das Versäumte nachzuholen. Ja, manche Häuser waren sogar neu gekalkt und machten aus einiger Entfernung einen recht freundlichen Eindruck; aus der Nähe aber wirkten sie wie ein altes zahnloses Weib, das das Brautkleid der Enkelin angelegt hat und krampfhaft versucht, fesch zu sein. Immerhin — Kleider machen Leute. Die Fremdvölkischen waren aus fast allen Dörfern ausgesiedelt, so daß das Bevölkerungsbild einen geschlosseneren Eindruck vermittelt. Orlow, Gnadenfeld, Nokolaifeld, Blumenort, Kronau und die ganze Reihe der übrigen Dörfer ließ erkennen, daß sich neues Leben zu regen begann. Ganz anders das Bild wieder an der Molotschna. In dem Gebäude der ehemaligen Zentralschule in Prischib lief ein Lehrerfortbildungskursus, an dem sich junge hoffnungsvolle Menschen für ihren Erzieherberuf rüsteten. Halbstadt beherbergte eine Reihe deutscher Dienststellen, die vornehmlich die schmucken villenartigen Häuser mit Beschlag belegt hatten. Das halbe Städtchen verriet immer noch, daß es einmal gute Tage gesehen 237 und daß hier ein situiertes Bürgertum gelebt, das nicht nur seinen Wohlstand ordnungsgemäß verwaltet, sondern auch Schönheitssinn und Originalität an den Tag gelegt hatte. Ich besuchte wohl sämtliche Dörfer, die an der Molotschna liegen. Das Gesamtbild war noch ungünstiger als im Chortitzer Gebiet. Bei den Rückzugbewegungen der russischen Truppen war die Bevölkerung evakuiert worden. Einem Teil war es gelungen, sich durch die Flucht zu befreien und in die heimischen Dörfer zurückzukehren. Viele aber kamen nicht wieder; dagegen zogen andere, ebenfalls deutsche Flüchtlinge ein. So war die Bevölkerung, zwar deutsch, aber bunt zusammengewürfelt. Dementsprechend lag auch das wirtschaftliche Leben vollkommen darnieder, und es waren kaum Ansätze eines neuen Aufbaues zu erkennen. Ich will hier nicht weiter von den einzelnen Orten reden. Zusammenfassend und für alle zutreffend war folgendes: 1. Das wirtschaftliche Leben war von Grund auf umgestaltet. Die sogenannte sowjetisch-sozialistische Wirtschaftsform hat den Privatbesitz bis auf einen kleinen Rest in das Kollektiv über¬ geführt. Aeußerlich zeigte sich das schon in dem schon erwähnten Fehlen von größeren Einzelställen und Scheunen und in dem Vorhandensein großer Kollektivsställe und gelegentlich auch kollektiver sogenannter Kulturhäuser: Klubs, Bibliotheken usw. Vor allem aber, die Ackerflur bot ein neuartiges Bild. Die ehemaligen Streifenfelder waren aufgelöst in einem auf ukrainischer Ebene besonders imposant wirkende riesige Ackerflur mit gleichartiger Anbaukultur, die sich oft über ganze Quadratkilometer dehnte. Vor dem Kriege wurde diese Kollektivflur mittels Traktoren und Mähdreschern bearbeitet. Die Mechanisierung der Landwirtschaft war Wirklichkeit geworden. Konnte sich die ältere Generation hiermit bis zuletzt immer noch nicht abfinden, so waren die Jungen in der neuen Wirtschaftsform zu Hause. Und es muß sachlich festgestellt werden, daß diese Form der Bodenbearbeitung für den Staat durchaus ertragreich ist. Die kollektive Bewirtschaftung bedingte ein eigenartiges Spezialistentum. Vom Traktoristen bis zum Schweinefütterer inzwischen mit besonderer Klassifizierung, so etwa der Unter- und Oberschweinefütterer usw. Diese Spezialisierung führte einerseits zu besonderen Hochleistungen, andererseits zur Einseitigkeit. Das ehemalige kernige Bauerntum aber, das auf höchsteigener Initiative beruhte, war ausgelöscht. 2. Wie die Wirtschaft, so war auch der Mensch umgestaltet. Die ältere Generation zusammengeschrumpft, stumpf und ver¬ kümmert, lebte immer noch im inneren Protest gegen die neue Zeit. Das Bewußtsein der Unabänderlichkeit der Lage und das Gefühl der Ohnmacht hatten einen tiefen Pessimismus aufkommen lassen. Alle Alten zehrten von der Vergangenheit als dem Herbst aller Freuden und waren ohne Zukunftshoffnung. Dabei hatten sie ihre tiefe Gläubigkeit und Innerlichkeit bewahrt, und der Glaube war es auch, der sie in aller Not aufrecht hielt. Am schwersten drückte alle, daß so viele Männer in der Verbannung waren. Der Anteil der 238 Männer im Alter von 18-60 Jahren, die verbannt waren, belief sich in den Dörfern im Durchschnitt auf 40 bis 60 Prozent. Die Massenverschickungen hatten zum weitgrößten Teil in den Jahren 1937/38 stattgefunden, und man fand kaum eine Familie, die nicht betroffen gewesen wäre. Immer, aber auch immer wieder hörte man dieselbe Klage. Der Historiker wird einmal nicht von Einzelschick¬ salen berichten, sondern von einer Summe von Tragik, von einer Tragödie ohne Maß und Grenze. Lobenswert hervorzuheben ist noch die altbewährte Gast¬ freundschaft, die immer bereit war, über Vermögen und Gebühr vom Besten und Letzten zu opfern. Ein eigenes und ganz anderes Gesicht hatte die junge Generation. Sie stand kaum noch im Konflikt mit der Zeit. Ein Hang zu einem eigenen Hof war nicht vorhanden. Da das sowjetische Schulwesen sehr stark ausgebaut ist, hatten auch die deutschen Dörfer ihre höheren Schulen. Viele Jünglinge und Mädchen haben auch das sogenannte Technikum oder eine Universität besucht und betätigen sich in geistigen Berufen. Man konnte der Jugend eine gewisse Frische und Tatkraft nicht absprechen. Dabei fiel auf, daß das Denken und die Vorstellung der Jugend sich von dem Althergebrachten weitestens gelöst hatten. Der Jugendliche war ein neuer Mensch — eine Art Typus sowjetikus. Dem Glauben und religiösen Leben der Alten stand er meist gleichgültig gegenüber, wenn er auch keineswegs der bolschewisti¬ schen Weltanschauung huldigte, so neigte er doch zu Liberalismus und Rationalismus; vor allem beschäftigte ihn die unmittelbare Gegenwart und die nahe Zukunft. Er war diesseits-gebunden. Das Ende der Siedlungen kam mit dem Rückzug der deutschen Truppen. Die deutschen Bauern wurden vorher evakuiert. Selbst¬ verständlich wird bei dem oft sehr raschen Rückzug der eine und der andere dort geblieben sein. Und viele, die bis ins Reich kamen, wurden hier von den russischen Besatzungstruppen ereilt und nach dem Osten zurückgebracht. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sie nicht in die alten Heimatdörfer gekommen sind. Ich habe es nicht selbst gesehen, aber es ist mir berichtet worden, daß manche von den deutschen Dörfern vor dem Rückzug von den deutschen Truppen zerstört wurden, so beispielsweise Halbstadt. So muß man mit tiefem Schmerz feststellen: unsere Siedlungen in der Ukraine und der Krim existieren nicht mehr. Zusammen mit dem deutschen Reich sind sie untergegangen. Dies Beispiel zeigt, wie das Schicksal einer Volksgruppe trotz großer räumlicher Entfernung doch eng verknüpft ist mit seinem Mutterland. Unsere Bauern, die jene rund ein halbes Jahrtausend alte Tradition der Wehrlosigkeit sorgfältig gehütet und den Krieg mit Bestimmtheit abgelehnt hatten, wurden dennoch ein Opfer eines der furchtbarsten Kriege der Geschichte. Versuchen wir hierzu einen biblischen Standpunkt zu gewinnen, so können wir nur sagen: Des Herrn Wege sind unbegreiflich. 239 Für uns alle aber ist es ein großer Trost zu wissen, daß in den Urwäldern Paraguays und Brasiliens und auf den weiten und fruchtbaren Ackerflächen Canadas fleißige Hände am Werk sind; sie schaffen in nur friedlichem und nur dem Frieden dienendem Geiste. Und das alte Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeits¬ gefühl tut sich auch heute kund in tätiger Hilfsbereitschaft. Das Ausmaß der Opfer- und Hilfsbereitschaft ist zugleich der Maßstab für unser Verantwortungsgefühl gegenüber unserer Geschichte. Frau Anni Bartsch, Reedley, California, berichtet: Mein Name ist Frau Anni Bartsch, geb. Fehderau aus dem Dorfe Beck-Bulatschi, Krim. Hier verlebte ich meine Kindheit bis zum 12. Lebensjahr. Stark ist mir in Erinnerung geblieben, wie die Tataren mit den von Weiden geflochtenen Wagen aus dem nahen südlichen Gebirge verschiedene Arten Obst ins Dorf brachten. Von weitem hörte man sie rufen: Aepfel, Aepfel, Weintrauben (natürlich auf russisch). So brachten sie uns auch das frische Schaffleisch ins Dorf. Da sah man die Frauen von den verschiedenen Höfen, von einer Schar Kinder begleitet, zu den Wagen gehen. Hier ließ man sich ab wiegen, so viel man wollte und bezahlte. 1926 verkauften wir in Beck-Bulatschi und kauften eine Wirt¬ schaft in Ogus-Tobe. Dieses Dorf lag etwa 5 Km vom Asowschen Meer entfernt. Hier genossen wir noch etliche schöne, ruhige Jahre. Es ist mir noch gut in Erinnerung, daß wir jeden Sonnabend, gleich nach dem Mittagessen (im Sommer) baden fuhren. Das ganze Dorf Jakob und Justina Fehderau mit Tochter Anni und Sohn Peter vor dem zweiten Weltkrieg abgenommen. Wir haben die Eltern nicht wiedergesehen. Eing. Frau Anni Bartsch. 240 Peter und Mariechen Konrad mit ihren Kindern, Hans und Njuta, Peter und Mariechen, Schöntal, Krün. Hier ist Onkel Peter Konrad viele Jahre Prediger und auch Lehrer gewesen. Später ist er in der Verbannung umgekommen, auch der jüngste Sohn, Peter. Eing. Frau Anni Bartsch. nahm daran Teil, ungefähr 20 Bauernhöfe. Dort am Meer traf man sich. Bevor wir das Meeresufer erreichten, kamen wir durch ein Tatarendorf “Akmananaj”. Die Tataren lebten meistens nur be¬ scheiden, in Lehmhütten, aber sauber. Sie betrieben die Landwirt¬ schaft nur im Kleinen; ihr Hauptbetrieb lag in der Viehzucht, hauptsächlich Schafe und Ziegen. Aber gebettelt wurde nicht. Wir haben nie einen Tataren betteln sehen. Von Ogus-Tobe zogen wir am Jahre 1936 nach Berdjansk. Als im Jahre 1941 der Krieg ausbrach, kamen wir als Familie ausein- 241 Jakob und Justina Fehderau, 1906 abgenommen. Vater hat 7 Jahre an der Südküste der Krim Forsteidienst getan. Eing. Frau Anni Bartsch. ander. Meine Eltern waren Jakob Johann Fehderau, Mutter geborene Justina Konrad. Mutter ist 1947 Hungers gestorben. Vater starb 1947. Niemand von uns vier Kindern konnte am Sterbebette der lieben Eltern sein. 2 Brüder mit ihren Familien sind noch in Rußland, und zwar Hans und Jakob Fehderau, dann bin ich, und der jüngste Bruder Peter Fehderau wohnt mit Familie in Kitchener, Ontario. Montanai Von Maria H. Martins, Winnipeg Montanai, von Eupatoria 30 Werst nördlich gelegen, entstand im Jahre 1885. Die Gründer waren 5 Brüder: Heinrich, Wilhelm, Peter, Jakob und Johann Martins, Söhne einer armen, kinder¬ reichen Familie, deren Vorfahren aus Ostdeutschland kamen. Als Heinrich erst 25 Jahre alt war, heiratete er als Aeltester; sie machten einen Bund, und somit fing der richtige Ernst des Lebens an. Heinrich fand seine treue Lebensgefährten in Anna Friedrichsen, deren Vater aus der Danziger Gegend kam. Bis zu ihrer Heirat hatte Anne ihren Eltern fast ausschließlich auf dem Felde geholfen, so daß sie vom Haushalten nicht viel mitbekommen hatte. Von jetzt an hieß es, die vier Junggesellen, die Brüder ihres Mannes, mit zu verpflegen. Ihre eigene Familie wuchs auch bald heran, sie selbst war noch sehr jung und der Arbeit war sehr viel. 242 Sie wohnten sieben Jahre zusammen in einer Kate mit nur zwei Zimmern; in einem Zimmer wohnte das junge Paar und gegenüber auf dem anderen Ende mußten sich die vier Junggesellen so gut wie möglich einrichten. Der Zwischenraum war das Eintrittszimmer, diente auch als Eßzimmer, Küche und vielen anderen Zwecken. Hinten war noch ein kleines Zimmerchen mit einem Schrägdach hinzugebaut, das als Vorratskammer diente. Der Vorsatz dieses jungen, starken und mutigen Bündnisses war: Gottesfurcht, Liebe, Eintracht und Frieden. Sie standen vor sehr großen Problemen; das Land war ungebrochen, auch waren große Schulden gemacht worden, um überhaupt einen Anfang machen zu können. Auch die sieben langen, schweren Jahre gingen vorüber, doch sie verloren den Mut nicht, denn der Segen kam von oben. Alle Beschlüsse und Pläne fürs “Allgemeine” wurden von den “Gebrüder Martins” gemacht und festgelegt, mit dem Vorsitz des Allmächtigen, der alles, ja alles geschaffen und alles erhält, was da lebt und webet nach seinem Wohlgefallen. Alle Beschlüsse wurden gemeinsam gemacht und auch gleichmäßig ausgeführt. Im Jahre 1892 wurde der Dorfplan für Montanai ausgearbeitet und die Plätze für die einzelnen Wirtschaften bestimmt. An einer Seite des Dorfes war Platz für drei Familien und an der anderen Seite für zwei; die dritte Hofstelle blieb für Schule, Andachtsraum und Lehrerhaus. Weiter erhielt die Windmühle, später die Dampf¬ mühle ihren Platz. Später wurde hier auch noch der Brunnen Wohnhaus von Heinrich und Anna Martins, Montanai. Vor der Tür des Koridors steht Tochter Tina als Madchenschülerin. Vor dem Zaun steht Wilhelm, Sohn von Jakob und Margareta Martins, den wir bei uns großzogen. Eingesandt: M. Martins. 243 Dorfszene in Montanai. Links steht der Tranktrog fürs Vieh. Hinter dem Baum denken wir uns den Stall und weiter zur Straße das Wohnhaus. Schaut man über die Straße hat man einen Teilan¬ blick auf Onkel Johann’s Wirtschaft, auch einen Teil vom Straßenzaun. Eing. M. Martins. In der dunklen Hausschürze meine Mutter, Anna Martins, geborene Fried- richsen. Die Serviette über dem Schoß beim Apfelschalen, zum Trocknen, meine Großmutter, Anna Friedrichsen, geb. Liedke. Im Sommerkorridor, An¬ bau am Wohnhaus, zugleich Eingang. Eing. M. Martins. gestoßen. Die Straße durchs Dorf hatte die Breite von 70 Faden (700 Fuß). In der Mitte der Dorfstraße war der Brunnen und hier war die Einrichtung mittels einer großen Trommel mit Pferde¬ antrieb das Wasser aus dem 30 Fuß tiefen Brunnen hier aufzuholen, indem zwei Fässer auf und abgingen, und dann wurde das Wasser in einen großen Basin gegossen und von hier führten Eisenröhren das Wasser zu den einzelnen Wirtschaften. Neben dem Brunnen standen auf Steinen gehoben, lange Tröge, wo dann das Vieh und die Pferde ihren Durst stillen konnten. Inzwischen schauten die anderen vier Junggesellen sich nach allen Seiten um und allmählich führte ein jeder sein “Liebchen” ins Heim, das vorbereitet war. Die Gebrüder Martins gehörten zur Krimer Busauer-Kirchen- gemeinde. Heinrich Martins wurde am 23. Mai 1893 zum Prediger gewählt und vier Jahre später am 2. April wurde er in das Aeltestenamt eingeführt. Im selben Jahre wählte man auch Peter Hermanowitsch Friedrichsen zum Prediger, der ein Bruder von Heinrichs Frau Anna war. Mein Vater Heinrich Martins nahm den Ruf mit vollem Ernst, doch bangen Herzens an, denn die Krimer-Mennonitengemeinde 244 Straße von Montanai, 70 Faden oder 700 Fuß breit. In der Mitte der erste Brunnen. Eing. M. Martins. Drei Geschwister, Kinder von Heinrich und Anna Martins: Tina, Mädchenschülerin, ganz links, in der Mitte Peter, Zentralschüler. Sitzen aufgepackt in der Droschke. Ich, Maria Martins, ganz rechts, bringe die Geschwister zur Bahn, von wo sie nach Orloff zur Schule fahren. war sehr groß, lag weit zerstreut. Die Arbeit war mit viel Reisen verbunden; zudem hatte er, wie die meisten, nur wenig Schul¬ bildung erhalten. Er holte sich so viel Bücher wie nur möglich zusammen und grub sich in dieselben hinein. Oft studierte er des Nachts. Das Reisen nahm viel Zeit in Anspruch, meistens mit Pferdegespann. 245 Zur Zeit des Krimerkrieges war es, als er wieder auf längeren Reisen war. Die Züge streikten und es dauerte ziemlich lange, bis er endlich nach Hause kam. Er erkrankte darauf und erlag bald der Krankheit. Am 11. November 1905 kamen viele von weit und breit zu seinem Begräbnis. Mutter, erst 35 Jahre alt, blieb als Witwe mit 8 Kindern zurück, der jüngste 2 Monate alt. Ein 18jähriger und zwei von 10 und 8 Jahren wurden auch auf den Friedhof getragen. Ein zweijähriger war schon zu Lebzeiten des Vaters aber in seiner Abwesenheit im Januar 1906 hinausgetragen worden. So schied der älteste aus dem Bunde derer, die Montanai aufgebaut hatten. Als zweiter mußte der drittälteste zurücktreten, Jakob; er zog sich ein Nierenleiden zu und zu Ostern 1911 ging er heim. Seine Frau erlag einem Leiden, das sie sich nach der letzten Geburt zugezogen hatte. Es hinterblieben aus dieser Ehe 4 unmündige Waisen, die im Dorfe untergebracht wurden. Die Revolutionsjahre gingen an Montanai auch nicht spurlos vorbei. Im Jahre 1928, in einer finsteren Herbstnacht, mußten die letzten gebürtigen Montanaier verduften; noch ehe die Morgenröte anbrach, flüchteten sie nach dem Kaukasus, nach Dolinowka am Kasbek. Montanai blieb verwüstet zurück. Einige von den Montanaier Martins durften durch Gottes wunderbare Führung Kanada erreichen; einige kamen in den Urwald Brasiliens, — der Rest kam nach Sibirien. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, sein Name werde gepriesen! Ein Gedicht, das aus den ersten Jahren der Ansiedlung stammt. Das sind die Zeiten unsres Lebens, In kurzem Abriß dargebracht; Das Leben hat uns Gott gegeben, Die Gnade uns bisher gebracht. Und dieses Leben weihen wir Dem Herrn und seinem Dienst allhier. O daß ich tausend Zungen hätte Und einen tausendfachen Mund, So stimmt ich damit um die Wette Und machte Gottes Liebe kund! O, wäre jeder Puls ein Dank Und jeder Odem ein Gesang! 246 P.M. Friesen, Seite 687 (Alt-Evangelische-Mennonitische Brüderschaft in Rußland), unter: Ansiedlungen von molotschnaer Mennoniten auf selbstgekauftem Lande. 2) “Krim. — Die Krim wurde schon 1860 das Ziel von Land¬ suchern aus der mennonitischen Molotschna, man zog auf Pacht, “Auf Garben”, man kaufte ganz wohlfeil. Gegenwärtig (1910) wohnen in der Krim wohl stark 700 mennonitische Familien. Das größte uns bekannte Gut eines M. aus der Krim enthält stark 7000 Dess. Die Dörfer sind meistens sehr klein. Der gesamte Landbesitz der M. in der Krim umfaßt (ohne Pachtland) rund 40.000 Dess.” Typische Windmühle Zweischariger Pflug 247 | £=-jr ■ ■ aB Pi j | 1 all IsäC xs&T iüL luaa! 249 Gottes Führung in unserem Leben Krim — Kanada (Lustigstal — Abbotsford) Das Dorf Lustigstal war eines der vielen Pachtdörfer in der Krim, das eine Familie “Lustig” eignete. Von all den Dörfern hatte unser Dorf die breiteste Straße. Das Land war eben, aber doch war es ein Tal, das heißt, eine Landsenkung gerade der Straße entlang. Wenn es einmal im Sommer stark regnete, oder, was nicht oft der Fall war, der Schnee im Frühjahr taute, dann lief das Wasser stromartig die Straße entlang nach Osten, dem Salgier-Fluß zu. Mitten im Dorf stand die Schule. Die Lehrer, von denen ich mich erinnere, waren ein Neufeld, Jakob Dick, und eine russische Lehrerein in den späteren Jahren. Ich wurde in Lustigstal am 11. Juni 1908 geboren. Meine Eltern waren Kornelius Peter Penner und Eliesabeth Tjart, Tochter von Gerhard Tjart. Man nannte ihn auch den Knochenarzt-Tjart. Meine Eltern wohnten einige Jahre im Nachbardorf Adschi-Mambet, wo ich zur Schule ging; dann aber zogen sie wieder zurück nach Lustigstal. Meine Lehrer in Adschi- Mambet waren Lehrer Isbrand Koop und Johann Duerksen, beide aus der Molotschna. Mitten im Dorfe war auch der tiefe Dorfsbrunnen. Dieser war oft Sammelplatz der Dorfsleute, wenn sie mit den von Pferden gezogenen Fässern kamen, Wasser zu holen, oder im Winter das Vieh zur Tränke brachten. Im Sommer an Sonnabend- oder Sonntagabenden, war es unser Sammelplatz als Jungen. Natürlich nicht alles gefiel den Alten, was wir da machten, aber wir waren halt ihre Söhne. Dieses Dorf wurde um die Jahreswende angesiedelt. Einige der ersten Pioniere waren wohl: Meine Großväter, Peter Penner und Gerhard Tjart, dann Willems, Kornelius Wiens, Harders, Wittembergs, Thiessens, Abram Kroekers, Johann Neufelds u.a.m. Die meisten Gebäude waren von Lehmziegeln errichtet. Das Wohnhaus war mit Dachpfannen gedeckt, wogegen Stall und Scheune ein Dach von Erde hatten. Dieses mußte von Zeit zu Zeit frisch “verschmiert” werden, um es wasserdicht zu halten. Weil dieses Land vor Jahren mal Mohammedanern gehört hatte, waren dort allerlei Hügel von Asche. Diese alte Asche war praktisches Material, das zum Dachverschmieren gebraucht wurde. Der Brunnen war tief und das Aufziehen des Wassers geschah mittels eines Gestelles, wo um eine “Trommel” ein sehr langer und dicker Strick gewickelt war und an jedem Ende ein Faß, welches etwa 6-8 große Eimer Wasser faßte, befestigt waren. Mittels eines oder zwei Pferden wurde das volle Faß hochgezogen indem zugleich das leere Faß hinunterging, vollschöpfte, und dann wieder hochkam. Gewöhnlich hatte der Dorfshirte, neben dem “Vieh¬ hüten” auch diesen so wichtigen Dienst des Wasserziehens zu 250 verrichten. Schlimm war die Sache, wenn mal der Strick schwach wurde und eines der Fässer, voll oder leer, mal so in die Tiefe stürzte. Man hatte einen Anker, um, wenn möglich, irgend wie das Faß unten zu erfassen und wieder hochzubringen. Manchmal mußte jemand in den Brunnen gelassen werden, um dort das Faß herauszufischen und zu befestigen, um es wieder heraufzuziehen, das war eine gefährliche Sache. Unser Hirte wohnte auf dem West- Ende in einer “kleinen” Hütte. Der letzte, den wir hatten, ein “Pawlo” war ein sehr guter und treuer Mann. Einige der Prediger waren: Abram Kroeker, Heinrich Reimer, und zuletzt Karl Wiens, der die Tschongrawer Bibelschule beendigt hatte. Auffallend war Karl wegen seinem Buckel, vorne und hinten. Deswegen war auch sein Oberkörper kurz. Er war auch einige Zeit Dorflehrer. Auf dem Ostende stand die Windmühle, die ein Lutheraner Namens Pufall eignete. Oft diente sie als Sammelplatz der Russen¬ mädchen des Dorfes, die sich an Sonntagabenden dort zusammen¬ fanden und sangen. Wir wissen ja, daß der Russe gut singen kann. Dieses schallte nur so das Dorf entlang. Auch versuchte man, einen Chor im Dorf zu haben. Einige der Dirigenten waren: Johann Kroeker, Kornelius Friesen, Kornelius Peter Penner (mein Vater) und ganz zuletzt Hans Warkentin. Es gab manchmal ganz schöne Jugendprogramme unter der Leitung von Karl Wiens. Meine erste Sonntagsschullektion erhielt ich von Reimers Tin, das war noch in der Dorfschule. Als man die Schule nicht mehr zu Versammlungen benützen durfte, wurden die Andachten in einer Scheune bei Harders auf dem Hof abgehalten, wohl weil sie mitten im Dorf wohnten. Zur Zeit der Ansiedlung waren es etwa 14-16 Bauernhöfe. Zur Zeit des Zusammenbruches 1929 waren es etwa 34-36 Höfe. Das Dorf wuchs nach beiden Enden. Nach der Landreform wurden den jungen Bauernsöhnen am Ende des Dorfes kleine “Baustellen” eingeschnitten, und so wurde das Dorf immer größer. Ich bekam auch solche Hofstelle, fing auch im Sommer 1929 an zu bauen, aber dann kam die Flucht nach Moskau und ich habe das Dorf nie wieder gesehen. Meine Frau ist Neta, Tochter von Jakob Rogalsky, Tschongraw. Wir heirateten im Oktober 1928 in Tschongraw. Wir hatten für jene Verhältnisse einen guten Anfang. Es war nicht viel. Im Sommer 1929 wohnten wir in der Sommerstube bei meinen Großeltern Tjart in Lustigstal. Wir waren mutig und hofften, es zu “schaffen”. Dann aber kam der Moment der gewaltsamen Kollekti- visierung, die da durchgeführt werden sollte. Es gab böse Dorfsver¬ sammlungen, die von einem der gesandten Kommissare geleitet wurden. Irgendwie erfuhren wir, daß Leute nach Moskau fuhren, um möglicherweise nach Kanada auszuwandern. Einige konnten noch Ausrufe machen und fuhren. Dann wurde es aber verboten. Nun verkaufte ein jeder, so gut wie er konnte “aus der Hand” an die Russen und Tataren, die dieses zu hören bekamen, natürlich alles spottbillig. 251 Auf Anregen meines Schwagers, Gerhard Rogalsky, der von Bachlietscha zu uns kam, wurden wir uns sehr schnell einig auch zu verkaufen und unser Heil zu versuchen. Es war Sonntag, den 4. November, den wir zum losfahren bestimmten. Meine Frau erwartete zu irgend einer Zeit ihr erstes Kind. Wir standen reise¬ fertig in unserer “Sommerstube” mit nur einigem Handgepäck, als Vater und Mutter Penner zu uns ins Zimmer traten, auf dem Wege zur Versammlung. Für sie war es die letzte Versammlung, denn sie wollten Montag alle losfahren. Dieses kam nie zustande, sie blieben alle dort. Mutter, eine fromme Seele, versuchte uns zu warnen, nicht zu fahren, gerade um meiner Frau wegen. Hatte sie doch selbst 13 Kindern das Leben geschenkt. Ich bin der Zweitälteste. Sie führte Matth. 24, 19-20 an. “Wehe den Schwangeren — betet daß eure Flucht nicht geschehe am Sabbat oder im Winter.” Alle drei Argumente waren gegen uns, aber irgendwie fühlten wir uns innerlich gebunden an etwas, das uns trieb, trotz allem zu fahren. Mein Bruder Gerhard brachte uns bis zur Bahnstation Bijuk-Onlar, und fuhr heim. Als ich versuchte Fahrkarten nach Moskau einzulösen, sagte mir der Agent: Er habe keine Erlaubnis mehr, Billette nach Moskau zu verkaufen. Innerlich geführt, bat ich um Fahrkarten nach Simferopol, also Süden in die entgegengesetzte Richtung. Die konnte er mir nicht absagen. In Simferopol angekommen gab ich einem Bahnhofdiener Geld mit der Bitte, mir zwei Fahrkarten nach Moskau zu verschaffen. “Ja, du bist doch nur gerade von dort gekommen”? War seine Frage. Ich sagte nur “Bringe mir die Billette”. Er ging, aber ich wagte mich nicht in den Stationssaal. Schon war der Zug in Hörweite und mein Mann mit den Fahrkarten war nicht zu sehen. Meine Frau fühlte sich schlecht. Da endlich erschien unser Mann und wir eilten. Aber schon ging der Zug los ehe wir ganz drinnen waren. Es ging buchstäblich: Hals über Kopf. Ein eigentümliches Gefühl überkam uns, als wir endlich auf unseren Plätzen saßen und nach Moskau fuhren, wo wir noch nie gewesen und auch gar keine Aussicht hatten, wegzukommen. Als ich mein mir noch gebliebenes Geld zählte, waren es noch etwa achzig Rubel. Wir waren auf dem Wege nach Kanada, mit einer hochschwangeren jungen Frau. Heute, wenn wir zurückschauen: Menschlich besehen war es wahrer Blödsinn. Nicht aber mit Gott! Hier nun zeigte uns der Herr, wie er führt und vorbereitet. In Moskau angekommen, kamen wir endlich bis Kljasma, eine der Stationen, wo schon ein Teil unserer Leute wohnten, aber es war spät am Abend und finster; vielleicht besser so. Nun war es durch Gottes Führung, daß gerade Bruder Nickolai Siemens von Borongar uns begegnete, der schon für seine Frau ein Entbindungsheim ausfindig gemacht hatte. Er war es, der meine Frau noch in derselben Nacht dorthin brachte. Ohne ihn wäre meine Sache doch schlimm geworden. Schon auf dem Zuge hatte meine Frau Schmerzen und nach all den Strapatzen dauerte es ja auch nicht lange, bis der kleine Erdenpilger ankam. So weit ich weiß, war das Gebäude ungeheizt. Wir erlebten die Freude, daß meiner Frau Eltern und Geschwi- 252 ster kamen. Gerhard und Jakob Rogalsky jr. und Schwager Kornelius Voth, der später nach Paraguay ging und auch dort in Friesland gestorben ist. Dann kamen die “Regierungshausbesuche” des nachts. Die Absagen in Moskau und da begann auch schon das “Zurück¬ schicken”. Wohl hat uns das gerettet, daß wir weiter ab von Moskau Quartier hatten. In Lustigstal wurde es sehr schwer. Leute, wie Gerhard Dueck, Aaron Dueck, Reimer, Wiens, Friesen und andere mehr wurden verschickt. Der arme Karl Wiens soll von seiner eigenen Frau verraten worden sein und hat vor dem Sterben schrecklich gelitten. 1941 kam die große “Aussiedlung nach dem Osten”, um die Leute nicht in die Hände der Deutschen fallen zu lassen. In all dem Wirrwarr sind später einzelne Lustigstaler herausgekommen. Damals, an jenem Sonntagabend, waren wir drei Familien, die wohl eine von der anderen nicht wußten, daß sie im Zuge waren. Es waren Abram Kroeker jr. (Harmonki Kroeker), ist jetzt im Sommer in Curitiba, Brasilien gestorben, 82 Jahre alt. Er war ein Sohn von Prediger Kroeker. Dann war Familie Reimer; er war von Karrassan, sie war Aaron Duecks Anna von Lustigstal. Sie lebt heute noch im Chaco, Paraguay. Einige andere verließen Lustigstal in den Jahren 1920-26. Jakob Langemanns und Johann Reimers, jetzt Winnipeg, Johann und Abram Thiessens, Ontario und Calgary und Strethmore, Alberta; Peter Thiessen, Abbotsford, B.C. und Nickolai Klass Enns, Kitchener, Ontario. 1941 kam die große Aussiedlung nach dem Osten nach Kirgisien. Von dort gingen viele in die Trudarmee und Gefängnisse. Darüber aber sollten Menschen schreiben, die dabei und drinnen gewesen sind. Wir selbst kamen mit der 10. Gruppe am 3. Dezember 1929 nach Hammerstem, Deutschland. Im März 1930 landeten wir in Winkler, Manitoba, wo der Bruder meiner Frau, Peter Rogalsky und auch die Lehrer Johann Wiens, Abram Unruh und Gerhard Reimer, Tschongraw wohnten. Heute ist unsere Familie genau 50 Seelen stark. Würde gerne noch viele Einzelheiten unter dem Thema “Gottes Führung in unserem Leben” sagen wollen, aber vielleicht ein andermal. Peter C. Penner 740 Marion Rd. R.R. 2 Abbotsford, B.C. Abdulah Der Tatarenmissionar von Martin Durksen Es war an einem Winterabend. Wir saßen als Familie gemütlich beim Abendbrottisch. Mutter hatte Quarkkuchen (Glomskoaki) gebacken. Nur wer Mutters Quarkkuchen gegessen, weiß, was Quarkkuchen sind. Natürlich gab es noch Brot und Bratkartoffeln, 253 Sülze und Räucherwurst dazu. Der Kachelofen verbreitete eine angenehme Wärme im Zimmer. Die große Stehlampe in der Mitte des Tisches mit ihrem breiten Schirme warf ein anmutiges Licht über den Tisch und auf die, die ihn umringten. Auf dem Ende des Tisches saß Vater. Nachdem er das Tischgebet gesprochen hatte, zu welchem wir alle die Hände auf dem Schoße falteten, nahm er das runde Brot, legte es an seine Brust und schnitt dann mit dem großen Brotmesser derbe Scheiben, diese wieder in die Hälfte, und dann wurde es weiterge¬ reicht. Nachdem ein jeder seinen Teller mit der einfachen aber schmackhaften Bauernspeise belegt hatte, fingen wir an zu essen. Wie das duftete! Wie das schmeckte! Allmählich begann die Unterhaltung. Mutter hatte ein Wort für ein jedes der Kinder. Wir Kinder erzählten aus der Schule, belachten die Schneeballschlacht. Inzwischen wurden die Teller frisch gefüllt. “Ja”, sagte Vater, “nicht alle Menschen werden sich heute sattessen. Auch wir hatten nicht immer Brot in den schweren Revolutionsjahren, wie ihr wohl wißt, Kinder. Wir wissen auch nicht, was morgen sein wird. Wir müssen jeden Tag mit großen Veränderungen und Ereignissen rechnen. Laßt uns dankbar sein für jeden Tag, an dem wir zusammen sein dürfen und für jedes Stückchen Brot.” — Ob wir damals verstanden, was Vater zu sagen meinte, glaube ich schwerlich. Aber wir hörten es, wir sahen Vaters ernstes Gesicht. Und Vater wußte alles. Später im Leben sind uns seine Worte oft eine Hilfe gewesen. “Wo bleibt Jakob so lange?” — fragte Mutter. “Er ging mit Abdulah ins Dorf und sie wollten unbedingt zum Abendbrot zu Hause sein. Ich habe für Abdulah auch gedeckt. Kinder, eßt nur nicht alles weg, wir müssen für die beiden genügend übrig lassen.” Jakob war mein ältester Bruder. Er hatte vor einigen Jahren den Herrn Jesus angenommen, war getauft worden, und sein Herz glühte für die russischen und tatarischen Knechte im Dorfe. Wir lebten nach der Flucht vom Kaukasus, Terek, wo meine Eltern alles verloren hatten, als sogenannte “Flüchtlinge” im Dorfe Menlertschik, in der Krim in Südrußland. Die Menlertschiker waren durchweg wirtschaftlich gut ab; viele waren reich. Die Enteignung war noch nicht bis zur Krim gekommen. Die meisten Bauern hielten sich für den Winter ein oder zwei Stallknechte. Diese besorgten die Pferde und Kühe im Stall. Ein jeder Bauer hatte so ungefähr 18-21 Pferde und 12-14 Kühe. Die Knechte wohnten in der Schlafkammer, einem kleinen Zimmer, das in der Ecke des Stalles eigens für sie abgeschlagen war. Darin befand sich eine Pritsche (d.h. Bett), ein kleiner Ziegelofen und ein Taburet (ein hölzerner Stuhl, ohne Lehne). Für uns Jungen war die Schlafkammer der Stallknechte ein besonders lieber Ort. Dieser Duft nach Pastale (Lederschuhe, die selbst angefertigt und mit Schnürriemen um den Fuß und Knöchel befestigt), Pelzjacke (Burnus) und Schweiß, war das männlich! Hier erfuhren wir viel über die Herkunft der Knechte, ihre Heimat Poltawa und Wolhynien. Wir schrieben für sie Briefe an ihre Eltern und lasen ihnen die Briefe von zu Hause vor, denn die meisten konnten weder schreiben noch lesen. Die in der Heimat mußten sich wieder jemanden suchen, um das Lesen und Schreiben der Briefe zu besorgen. Hier lernten wir auch manche 254 I Ein Teil aus der mittleren Krim wo viele unserer Mennoniten wohnten. (Geographisch jedoch nicht richtig). Diese mennonitischen Ortschaften lagen zwischen den Stationen Kurman, Bijuk und Sarabus. 255 Dinge, wie das Rauchen des Machorka, derbes Fluchen und vieles andere mehr, das mancher zarten Kindesseele zum Verhängnis geworden ist. Für das geistig-geistliche Wohl dieser Knechte und Mägde wurde sehr wenig getan. Jedenfalls nur in Einzelfällen unter¬ richtete man sie in der Kunst des Schreibens und Lesens. Meine älteren Brüder haben dieses oft getan. Jakob hatte versucht auch kleine Gruppen von Knechten, die an den langen Winterabenden in den Schlafkammern zum Rauchen, Trinken von Wodka und zum Kartenspiel zusammen kamen, um das Wort zu sammeln. Aber scheinbar hatte man in jener Zeit noch nicht das Verständnis für solche Art der Ausbreitung des Evangeliums. Es wurde ihm untersagt. Eines Tages kam er mit Abdulah, einem Tataren, in Berührung, der tief gläubig an den Herrn Jesus geworden war und nun als Kolporteur von Ort zu Ort wanderte, seinen eigenen Leuten das Evangelium verkündigend. Diesen Abdulah hatte Jakob eingeladen, die Knechte im Dorfe zu besuchen. Abdulah kam, und Jakob begleitete ihn und brachte ihn mit den Knechten in Verbindung. Dieses konnte ihm niemand verbieten. Das Bellen des Hundes draußen meldete jemanden an. Die Tür öffnete sich und Jakob trat mit Abdulah ein. Nachdem Mäntel und Pelzmütze zur Seite gelegt waren, bat Mutter sie an den Tisch. Als Jüngster saß ich stets an der Seite des Vaters. Nun mußte ich etwas weiterrücken und Platz für Abdulah machen. Von nun an gehörte meine ganze Aufmerksamkeit ihm. Er war klein und hager, das Gesicht typisch tatarisch-mongolisch. Sein Benehmen war ange¬ nehm, sanft und freundlich. Er sprach erst, als Vater die Unterhaltung mit ihm eröffnet hatte. Mir ging kein Wort verloren. Von Zeit zu Zeit schaute er mich freundlich an und gab mir auch ein Wort. Beim Sprechen vernahm ich ein sonderbares “Sch”-Geräusch. Ich merkte bald, daß ihm alle seine Vorderzähne fehlten. Bald bog ich mich ganz vorne über und beobachtete sein komisches, aber sonst doch angenehmes Reden. Meine Neugierde war ihm schon lange aufgefallen. Er schaute mich freundlich an, legte seine gelbe Hand auf die meine und fragte mich, warum ich ihn denn so sehr beobachte. Etwas schüchtern, doch zutraulich, sagte ich: “Ja, Onkel Abdulah, Du hast ja keine Zähne, wo sind die geblieben?’’. Für Jungen in meinem Alter war es ja von größter Wichtigkeit, endlich aus dem Alter des Zähneschichtens draußen zu sein. “Soll ich dir erzählen, wie ich dazu kam, daß ich meine Zähne verlor, so will ich es gerne tun, denn ich habe sie um Jesu Willen verloren.” Ich nickte ganz begeistert. “Bitte, erzählen Sie, Abdulah, wir wollen alle gerne zuhorchen”, sagte Vater. Und Abdulah erzählte. “Ich verlebte meine glücklichen Kinderjahre im Heime meiner Eltern und mit den Geschwistern in den Bergen. Mein Vater betrieb Schaf- und Rinderzucht. Wir Kinder wuchsen sorglos heran. Wie herrlich war es, durch die Täler und Berge zu streifen. Bei Spiel und Arbeit, was meistens im Hüten der Herden bestand, und worin man sich jung üben mußte, wuchsen wir heran. Als Mohammedaner führten wir ein zurückgezogenes Leben, im Kreise unseresgleichen. Allah, der große und einige Gott, und Mohammed, sein Prophet, 256 wurden uns schon in der frühen Kindheit hoch und teuer gemacht. Mekka wurde das Ziel eines jeden heranwachsenden Jünglings, obzwar wir wußten, daß es nur wenigen vergönnt war, bis dort zu kommen. Um als Pilger bis dort zu kommen, muß man reich sein und viele Rinder und Schafe und Kamele haben. Der Raub von Herden Andersgläubiger war deshalb als ein gutes Werk angesehen; es war ein Gottesdienst, denn alle Nichtmohammedaner sind nur verfluchte Hunde. Ich verehrte Allah, ich schwur Mohammed die Treue, denn die Welt für Allah zu gewinnen, sie für ihn zu erobern, war nun mein höchstes Verlangen. Meine Eltern waren stolz auf mich. Ich versprach, ein guter Mohammedaner zu werden. Durch den Umgang mit den Russen und den Deutschen in den Kolonien, wo manche Arbeit fanden, drangen immer mehr Nachrichten über die Lehre der Christen in unsere Dörfer ein. Zu gerne hätte ich mehr von ihnen erfahren, nur um zu wissen, vielleicht, um sie besser bekämpfen zu können. Als ich sechzehn Jahre alt war, gab es einen großen Aufruhr im Dorfe. Ein Christen¬ missionar, ein verfluchter Hund, ein abgefallener Mohammedaner, sei an der Arbeit von Haus zu Haus, wo er Einlaß fand, das falsche Evangelium, das Evangelium Christi zu verbreiten. Es seien schon manche dieser Lehre zugefallen. In meinem Herzen stieg ein großes Verlangen auf, eine richtige Neugierde, diesen Mann persönlich kennenzulernen. Denn, obzwar ich Allah anbetete und Mohammed verehrte, wuchs in mir ein immer tieferes Verlangen nach mehr Licht. Ich hatte keinen Frieden im Herzen. Eines abends gelang es mir, heimlich zur Gruppe zu schleichen, die sich in einem Hause versammelte. Ich lauschte, ich trank jedes Wort ein. Ich betete zu Allah, er möge mir helfen und mir verzeihen, falls ich auf Irrwegen sei. Jedes Wort fiel in mein Herz, das gesprochen wurde. Ehe ich es wußte, hatte ich Christus schon angenommen. Da war kein Wehren, da half kein Zaudern. Diesen Christus, diesen Heiland liebte ich. Ich wurde ein Christ. Anfangs konnte ich den ganzen Vorgang vor meinen Eltern verheimlichen. Es dauerte aber nicht lange, so fiel meinen Eltern mein verändertes Wesen auf. Mutter begehrte zu wissen, wohin ich so oft an den Abenden ging. Ich mußte gestehen, ich tat es mit Zittern und Zagen. Ich sagte die volle Wahrheit. Es folgte eine schwere körperliche Strafe. Die körperlichen Schmerzen waren nichts gegen die Not, die ich in mir fühlte, wenn ich an meiner Eltern Blindheit dachte. Mein Vater verbot mir strengstens, je noch¬ mals die Versammlungen der verfluchten Hundebrut (so nannte er sie) zu besuchen und dieses unter Androhung von Steinigung.” — Hier hielt Abdulah mit der Erzählung ein. Er hatte bewegt und selbst gerührt gesprochen. Alle lauschten. Ich hatte meinen Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Kinn in die Hand. Ich hatte ein jedes Wort verstanden, obzwar er in russischer Sprache erzählte. Meine Augen waren nicht von den seinen gewichen. Der “Sch”-Ton war mir vertraulich geworden. Es gehörte einfach zu dem Manne. Seine Augen waren bei den letzten Worten feucht 257 geworden. Wir alle hatten feuchte Augen. Mutter machte sich am Ofen zu schaffen und ich merkte, wie auch sie die Schürze verstohlen zum Gesicht führte. Abdulah sah mich an, ich sah ihn an. “Ja, aber Onkel Abdulah, als dein Papa dich strafte, dann hat er doch nicht deine Zähne ausgeschlagen, daß kann ein Vater doch nicht tun?” — “Nein, mein Sohn, damals nicht. Aber die Sache ist, ich konnte nicht mehr ohne die Gemeinschaft der Christen sein. Ich hatte eine neue Familie gefunden, die Familie der Gläubigen an Christus. Eines abends ging ich wieder, dem Worte getreu, “du sollst Gott mehr gehorchen, als den Menschen.” Die Gemeinschaft der Christen gab mir neue Kraft und auch den Mut, in Liebe und Ergebenheit, alle Folgen die aus meinem Entschluß, dem Heiland zu folgen, entstehen sollten, in der Kraft Jesu auf mich zu nehmen. Diese Folgen blieben nicht aus. Als ich am selben Abend das elterliche Zelt betrat, fand ich Vater und Mutter auf ihren Schafpelzen sitzend, die Pfeife rauchend und Tee trinkend. Vater hieß mich zu sich treten: “Mein Sohn, mein Stolz und meine Zukunft, sage mir bei Allah und seinem Propheten, bist du wieder dahin gegangen, wo die verfluchten Hunde sich versammeln?” — Ich schwieg eine Weile, es war nicht leicht bei der Wahrheit zu bleiben, ich ahnte die Folgen. “Ja, mein Vater, ich war wieder bei den Christen, denn auch ich bin ein Christ und gehöre zu ihnen.” Meines Vaters Gesicht rötete sich. Er sah mich wie mit Flammenaugen an und sagte dann mit tiefer aber ernster und bebender Stimme: “Schwöre mir bei Allah, dem Höchsten und beim Haupte des Propheten, daß du nie mehr hingehen wirst, wo diese Hundebrut sich versammelt, und daß du dich dieser falschen Religion entsagst!” — “Das kann ich nicht mehr, mein Vater. Ich liebe euch, ihr seid mir alles, aber seit ich Jesus Christus kenne ...” Bei diesen Worten war Vater aufgesprungen und schon flog die Peitsche über meinen Rücken. Mutter verbarg ihr Angesicht im Kleide und weinte, mehr über den verlorenen Sohn als über die Streiche. Meine älteren Brüder kamen hinzu. “Steinigt diesen verfluchten Hund, der mein Sohn war, es aber nie mehr sein wird. Er hat Allah und seinen Propheten verleugnet, er muß sterben.” Ich war auf den Hof geflüchtet und hier trafen mich die Knüppelhiebe und die Steine von meiner eigenen Familie und den Nachbarn geworfen. Ich verlor bald das Bewußtsein. Wie alles geschah und verlief, weiß ich nicht. Für den Vater war ich tot. Es müssen mich freundliche, christlich gesinnte Leute gerettet haben. Als ich am nächsten Tage zu mir kam, lag ich bei fremden Leuten im Zelte. Die Wunden heilten langsam unter der sorgsamen Pflege der Stammesgenossen. Aber meine Zähne, sie kamen nicht wieder.” Er schwieg wieder. Seine Augen feuchteten sich wieder, wir alle hatten es mit uns zu tun, als er weiter fuhr: “Und ich liebte meine Eltern doch so sehr, aber Christus über alles. Seitdem habe ich meine Eltern nie wieder gesehen, d.h. ich hatte auch kein Zuhause. Desto mehr schloß ich mich den Christen an und schloß Christus in mein Herz. Ihn lieb ich und für ihn leb ich. Deshalb bin 258 ich auch dem Rufe deines älteren Bruders Jakob gefolgt, um meinen Leuten das Evangelium von Christus zu verkündigen. Willst du nun auch für mich und mein Volk beten?” — “Ja, ich will.” sagte ich ernst. Auch ich führte meine Hände zum Gesicht und zu der Nase, aus Mangel eines Taschentuches (Bestimmt war es nicht Mutters Schuld). Als ich in den vertrauten Familienkreis sah, hatte es ein jeder mit sich und seinen Augen zu tun. Vater nahm zum Schluß die große Familienbibel und las einen Abschnitt daraus, so wie er es jeden Abend tat. Dann knieten wir nieder und beteten, so wie wir es immer taten, und doch war es so anders. Mein älterer Bruder und Abdulah beteten in russischer Sprache. Ich hatte noch nie russisch beten gehört. Ob es der Liebe Gott verstand? Es war wie immer und doch so anders bei diesem Abendsegen. Ein jeder fühlte die Nähe Gottes in besonderer Weise. Als ich in der Schlafbank mit meinem älteren Bruder Peter lag, haben wir noch manches erzählt. Wir konnten lange nicht einschlafen. Als er schwieg und sich auf die andere Seite legte, faltete ich meine Hände und betete noch einmal: “Lieber Heiland, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm . . . und mach mich auch zu einem Manne wie Abdulah, auch wenn ich meine Zähne verlieren muß, aber lieber halte ich sie, Amen!” In der Krim von 1917 bis 1925 von J.J. Unger Nachdem ich im Jahre 1917 aus dem Sanitätsdienst entlassen wurde, erhielt ich eine Lehrerstelle in einer Privatschule in Kiptschak in der Krim. Ich wohnte bei Johann Janzens. Der Unterricht wurde auch in ihrem Hause abgehalten. Janzens war es darum zu tun, daß auch die russischen Kinder der Familien, die in den Steinbrüchen arbeiteten, unterrichtet werden sollten; so hatten wir russische und deutsche Schüler in der Klasse. Alles ging gut bis Weihnachten 1919. Am 20. Dezember hatten wir noch einen schönen Weihnachtsabend mit unserer Schule. Am nächsten Tage wollte ich nach Hause fahren, um Weihnachten bei meinen Eltern in Waldheim, Molotschna zu sein, aber es war schon sehr unruhige Zeit. Die Züge gingen nicht mehr regelmäßig. Ich wartete in Sarabus von Mittag bis Abend, bis endlich ein Frachtzug kam; ich erhielt die Erlaubnis, in einen Frachtwaggon einzusteigen, in welchem sich schon einige andere Passagiere befanden. Nachdem der Zug 20 Stunden Aufenthalt in Sarabus hatte, kamen wir endlich am 23. Dezember abends in Melitopel an. Alle öffentlichen Gebäude und Hotels waren vom Militär besetzt, das sich auf dem Rückzug in die Krim befand. Wir gingen nun nachts durch den tiefsten Kot, bekamen schließlich noch 259 Fahrgelegenheiten, und so kamen wir endlich am Weihnachtsmor¬ gen zu Hause an. Die Verbindung mit der Krim war jetzt ganz abgeschnitten. Erst im Sommer entschlossen meine liebe Frau und ich uns, wir hatten inzwischen geheiratet, wieder nach Kiptschak zu fahren und zwar mit einem Leiterwagen, auf den wir unser Hab und Gut packten. Montags fuhren wir los und waren am nächsten Sonntag abends in Kiptschak. Im Herbst fing der Unterricht wieder an. Aber nach zwei Jahren mußte die Schule schließen. Es waren wirklich liebe Kinder, die ich in den Jahren unterrichten durfte. Wo sind sie jetzt wohl alle? Möge der Herr sie alle segnen. Unser Weg wurde nun vom Herrn nach Borongar geführt. Die Zeiten wurden immer schwieriger. Wir sahen die Tage schnell herankommen, wo Religion nicht mehr in der Schule unterrichtet werden durfte. Dieses war für uns in all den Jahren so wichtig gewesen. Nach drei schönen Jahren des Dienens und Unterrichtens in diesem Dorfe, entschlossen wir uns, um die Papiere zur Auswanderung nach Kanada einzureichen, die wir auch bald erhielten. Wir luden alle Schüler zum Abschied in unsere Wohnung ein. Nach dem Lied “Nimm Jesu meine Hände” und Gebet, schieden wir voneinander. Um unser Gepäck einladen zu können, mußten wir den Zug in Bijuk-Onlar nehmen, eine Station vorher. Als der Zug dann in Borongar kurz anhielt, waren da eine Anzahl Schüler und auch Erwachsene zum letzten Abschied versammelt. Mein Herz wurde so schwer: “Was wird aus all diesen Kindern werden?”, dachte ich, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Ich betete für sie, während sich meine Augen mit Tränen füllten. Wie gut ist es, daß wir einen Gott haben, der das Lebensschicksal der Menschen lenkt, und dem wir alles an vertrauen dürfen! J.J. Unger 31811 Peardonville Ext. Clearbrook, B.C. Beiträge aus Brasilien Hans Wiens, Curitiba berichtet: Ich komme aus Tschongraw, wo ich am 17. April 1916 geboren wurde. Mein Vater, Johann Wiens, war Prediger und starb im Jahre 1927; er war Sohn von Johann Wiens, Rosenort. Da es in Tschongraw mehrere Johann Wienses gab, nannte man ihn den kleinen Johann Wiens. Meine Mutter war eine Tochter von Gerhard Wiens. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Vater am Sonntagmorgen, bevor wir zur Kirche fuhren, niederkniete und betete. Das hat einen großen Eindruck auf mich hinterlassen. Das Bibelschulleben hat auf meine Kindesseele einen tiefen Eindruch gemacht, so wie die Entstehung der Evangelischen Mennoniten-Brüdergemeinde. 260 Familienbild, 1926 in Tschongraw. Die Eltern, Johann Wiens; hinten Abram Ens mit seiner Braut Agathe Schellenberg. Er war von meinen Eltern angenommen, als er 15 Jahre alt war. Suse Kröker, auch mit 13 Jahren angenommen, links meine Schwester Liese, in der Mitte mein adoptierter Bruder Heinrich. Ihn übernahmen die Eltern von Kornelius Wilms, als er 8 Monate alt war. Eingesandt: Hans Wiens. Johann Wiens und Frau, geb. Klassen vor ihrem Wohnhaus in Curitiba, 1976. Eing. Hans Wiens. 261 Als zehnjähriger Schuljunge war es mein Vorrecht, mit der Schule und Lehrer Johann Schellenberg und Frau einige Tage am Schwarzen Meer, bei Aluschta, zu verleben. Wir fuhren mit drei Wagen. Auf unserem Wagen waren nur Kinder, zehn bis zwölf Jahre alt. Da wurde viel gelacht und gesungen. Die letzte Strecke, etwa 16 Km, ging es stark abwärts zum Meere hinab. Da versagte plötzlich der Hemmschuh, er löste sich vom Rade. Der große Gott hat uns da wunderbar bewahrt. Als die Pferde endlich anhielten, standen sie mit den Vorderfüßen an einem steilen Abhang. Hier blieb der Wagen stehen. Ein herrlicher Anblick bot sich, besonders das dunkle Meer im Hintergründe, wie auch der Tshaterdach; er war einer der größten Berge und trug immer etwas Schnee auf seinem Rücken. Hin fuhren wir eine Strecke am Meer entlang, zurück um die Berge; war das eine Pracht! Weiter beeindruckte mich tief der Tod meines Vaters, dann die Auswanderung als dreizehnjähriger und das Ringen der Eltern in dieser Zeit, alles dieses hat mich stark mitgenommen. Heute dürfen wir in aller Demut den Herrn hier in Curitiba dienen. Wir sind dankbar für die Familie, die Gott uns geschenkt hat. Der Herr gab uns sechs Söhne, davon ist einer schon in der Ewigkeit. Ein Sohn ist Arzt, drei sind Lehrer auf der Hochschule, und einer studiert noch auf der Universität. Dem Herrn sei Lob und Dank und die Ehre für alles. Hans Wiens, 80.000 Curitiba, C.P. 7357, Parana, Brasilien. * * * Auszüge aus einem Briefe von Dr. Peter Dyck, Brasilien, an seinen Schwager Peter Koop, in Winnipeg: (Eingesandt von Peter Koop): Ich, Peter Dyck, wurde am 20. April 1900 geboren. Meine Studien verliefen folgend: Zentralschule zu Karassan, Krim, Handelsschule in Alexanderkron, Molotschna, Gymnasium Sim- feropol, Krim und medizinische Fakultät an der Krimer Universität. Dann kam ich auf die Universität in Kasanj, an der Wolga, wo ich als Arzt aprobierte. Zur Zeit des Bürgerkrieges war ich in zwei Regimentern in der Krim, wo ich Waffenlosen Dienst tun durfte. Es war der geringste Dienst, den ich je im Leben getan habe. Doch tat ich dieses aus überzeugten Gewissensgründen. Als nun die Dämme brachen und die rote Front sich über die Krim ergoß, waren viele Flüchtlinge, Selbstschützler, Gutsbesitzer von der Molotschna und anderen Gegenden in unserem Dorfe Karassan. Die Familie Isaak Neufeld aus Waldheim, Molotschna, wohnte in unserem Haus. Tag und Nacht wurde da für die Besatzungen gekocht. Wer kennt nicht diese Zeit der Schrecken? Tausende Budjonnovze waren auf den Straßen. Da zu der damaligen Zeit die Kommunisten noch nicht 262 Dr. Peter Dyck, Brasilien organisiert waren, fanden sich zwei beherzte jüngere Mennoniten, die aus dem Krieg Erfahrung hatten, welche die Dialoge mit den Kommandanten führten; es waren das die Herren Johann Friesen und Johann Reimer. Nachts wurde gegessen und getrunken und morgens brachen die Reiter auf, ohne den üblichen Blutzoll zu verlangen, den sie nur zu oft zurückgelassen hatten. In diesem Komitee war ich der dritte Sekretär. Meine Arbeit bestand hauptsächlich, Dokumente zu verfassen, die gewesene Soldaten (darunter auch viele mennonitische Jünglinge) brauchten, um die Front zu passieren. Sie gaben sich alle als gewesene Kutscher aus der Armee an. Wir haben nicht erfahren, daß irgend jemandem etwas geworden ist. Die schlaflosen Nächte, die ich hatte, werde ich nie vergessen. Ein Reitpferd stand mir im Notfälle zur Verfügung. Doch konnte uns in dieser Lage nur eine höhere Hand beschützen. Eines abends kamen schwerbewaffnete Soldaten und verhafte¬ ten meinen Vater. Ich mußte sie nachts auf einen Gutshof bringen, wo sie schwer mißhandelt wurden. Meinem Vater wurde aber nichts angetan; aber viele haben schwer gelitten und starben später in der Verbannung. Wenn ich in den Hungerjahren von Simferopol nach Hause kam, hatte mein Vater, der eine gute Ernte hatte, fast Eßlöffel¬ weise seine Ernte an Hungernde verteilt, die in großen Reihen am Fenster vorbeizogen. Wenn ich morgens zum anatomischen Institut ging, war der Bürgersteig angefüllt mit Toten, die zur Beerdigung weggeschafft wurden. Prof. Dr. Stefko, der Anatom, schrieb eine wissenschaftliche Arbeit über den Hungertod. Meine Studienzeit mußte in den Revolutionsjahren oft unterbrochen werden. Die ersten Jahre war 263 ich als Arzt Mitarbeiter von Dr. Tavonius am Muntauer Kranken¬ haus in der Molotschna. Nach seinem Tode übernahm ich die Leitung des Rot-Kreuzkrankenhauses in Luxemburg (früher Gronau), Mariupoler Kreis. Hier hatte ich ein sehr gutes Arbeitsfeld, doch mußte ich die Stelle verlassen, als die G.P.U. mich wegen der christlichen Einstellung absetzte. “Als Christ, können Sie uns Atheisten nicht vertreten!” Das mußte ich zugeben und lehnte dann auch das Angebot als Chirurg im Hafenkranken¬ haus, in Mariupol, zu arbeiten ab. In der nächsten Nacht flüchteten wir beide nach Moskau, wo man am nächsten Tage nach unserer Abfahrt stark nach uns gesucht hatte. Wir beide hatten in Muntau, wie auch in Luxemburg, ein großes, gesegnetes Arbeitsfeld. Daß wir glücklich Rußland verlassen konnten, nachdem ich von der G.P.U. abgesetzt worden war, ist und bleibt ein Wunder. Ihm sei die Ehre. * * * Frau Maria Dyck, geb. Martens berichtet über die Familie Schröder: Peter Heinrich Schröder kaufte im Jahre 1868 durch die Semskaja Bank Chersonskoj Gubernii 12487 Dessjatinen Land und das Gut Novo-Nikoljsk, das dem verschuldeten Gutsbesitzer Lew Nikolajewitsch gehört hatte. Nach seinem Tode, im Jahre 1896, vererbte seine Witwe, Frau Maria Schröder, geb. Klaassen, das Erbe an ihre 8 Kinder. Anbei ein Teil des Testamentes und die Erklärungen der Verteilung des Landes durch die Bessarabsko- Tawritscheskij Semeljnij Bank im Jahre 1901. Hier folgt die Photokopie (Teil) des Testamentes der Frau Maria Schröder an ihre Kinder: HsitniH noKaaaHHua Bb cenx> aKrt HaxoaaTca bi, aaaaxx. IlepeKOncKaro yf.3aa bi. iiyrnni; a,—reHopaabHaro MeateBatiba—1) aep. Bamabiaa noab ainepon B—29 Cb KOJiHiecTBoirb seätjrn 2401 aec. 2231 ea;K.; 2) aep. Mapa —M— 10 c*t KOjmaecTBOM'j, 3CMJIH 1122 jec. 1593 ca*; 3) aep. BcK't-By.aamH B—39 ci. kojihicctbomi. 3eMjm 1373 xecirr. 2378 ca*, (aacri, arofl aaxa Haxoairrca Bb CiuiiJieponojibCKOMb yfeafc) h 4) aep. JacaBÖypio —J— 18 n ko.xhhcctbomt. 3 om.ih 513 aec. 852 caa;.; — Bb nyHicrt 6,— reHepajibHaro Mcatoßania Toro-ase ytoaa aep. Oiapb ex, aepeBHHMH, noab aiirepoio 0— 13, ci, KOJiHiccTBOMb 3 Cmjih 2027 aec. 875 caxKeub;—Bb nym-fc b,— cneniajibHaro MeateBaHis xoro- ;kc yisaa aep. J*ara-BauiH, noab .urrepon j — 59, Cb KOXHiecTBONi 3 c,m.ih 1519 jcc. 2324 cauiena;— bi. nyHKTii r,—cneuiajn.naro ueaieBaniii CnM(|ieponoabCKaro yfaaa aep. HoaoceJibc, noab jiHxepoio H,— 5, ca KonnnecTBOMb 3eMjm 1518 aec. 1018 caatem,; bx> iivhktI. a, c.ne- uiaabnaro MeaceaaHia IlepeKoncicaro yfaaa aep. CyjixaHx.-Ba3apb, noax> anxepoio C — 38 cb ko.xh'icctbomi. 3cm.ih 1013 aee. 3 ca*., n bx, nyHKxi c, — bb aaii reHepa.ii.naro jioaiCBaiiia MeaHTono.xbCKaro yiaaa aep. Mo.ioxhoB cb xyxopaMH, 3Ha>iamiüca 110 a.n}>aiinxy noax. airrepoK) M —1, cb uojH'iocTBOMb 30.MJH 3304 aec. 2243 ca*. JeKaöpa^^g, ana 1901 r. Vmaptum Uomupiijci x M ^ ^ BBIIIUCI) nab KptiiocxHbixb HffSilitTlönaiiä’Karo'HoTapia.ibiiaro Apxiina Kiinrx. :ia 1901 r. 264 kji, ko iiiii co Beton. oTiix'i» ,iok\ MOHToin» oeraiuoiibi i!in Akt/, peil ooHCpmeHHbiii Mc- .inTono.ii.cKiun, llorapiycoMi. BayniKciiii'icsn. ynicpiK.o in. OapiiniMb Horapiycojrb CHMiJicpo- iio/ibCKaro Ohpyiimaro Cy.ia .uiamaTi. lmtparo ,l,CKa»pn ibicH'ia .C'Birn.cnrb ncpaaro roxa, npii - eori. copoK'b 'icTbipc pyö.ui HbuaTb Alapin iilpoH.Mpn a noc.rii.iyioiniii na py 6 .iCBU.Vb 1V|>- öoBbixi. .limaxi. Bbuaib I’cflujmxy, llerpy. luraimy, ‘Bn.ibro.ib.My u Maprapiirl, lllpeflxepi., Ainit. llemiepi., Iliiaiiy ii Kouoia htiiiiv Tiiccoiii. n A.iböcpriiHli MapTCHCi,. Bbiimcb ura C.TOBO in. c.ioiio cxo.uiaa ci, ainuin. BiioecHHUMi. bi. Kpt.iiormyH) Kimry ;ia- iuicaiia in. poooTjn, 1901 nua iio .V A/ll% j, 0 Ka 6 pn ma 1901 ro.ia. Ihit.Hiii otii ot.mIi- ’ioiii.! bi. poorrpaxb Kptiioniiuxi. xk-Tb: no liiM(|iopoiio.ii.('KOMy yiaxy Maerii ^ •V y/h , iio llcpoKuiicKOMy ytaxy will /V, $ iS ft. jV5 jii ii no .Me.imo- liu.ibCKOiiy ytoxy lacru .Ns //&/ u, lud OLi-uX i ,lÄ.ß*jLLU'Vlj01'lOuJa - 3Jl, tMOOu KlJ-iUlCf HCdU{ Iwot) ff tKcvaliokit^ C lllj'lludejVb. Joaxmtj, t/mk/ideftKMdii/ / tZnprteulH/lHiAfiOL U/MftLHi) tliCTBö 0 FO^rniK H :a>3S5sn ik. Tttcma loceMscoTb aoce:.tBAftCPTB cbabmopo ro.^a "'an Mtcnua BTOporo bhh ott> 3aK0HHaro Spaxa xynpa »TOpoE PMkfli« ropoqa Me - nuTonojin TaspimscKoR ryÖepHiv! üeTpa FeHpaxosHHa HpeAepa/ ohs se m IleTps AMApeeBimb ffipeüqepi, , weHHOHMTa rnaseHye-iBSCKaro MeH- HOHHTCKaro uepKOBHaro npiixoAa a h»hn ero, wshhohmt’-ch Hapia AS- paMOBHH lüpeflepb, yposAftHHo” .üiacceHb, poqaJiacB aohb MaprapHTa j ab TaqeHaKfe, 3kohom1h oxojio rupoqa üeqHTonojw/ KOTopa» npa yAOBJiCTBopaTÄ/TBHHXb noaHaHiFXB no 3axoH/ Foaiio OKpBineHa Ayxos- HNMb CTap’tiHHOio rHaA®H^ftjiBACKa.ro MeHHOHHTcxaro pspKOBHaro npaxo- Aa THCHaa abb^tbcotb AiecT-opo roAa Map OAHHHayApaTarö ahh bb ce- Jienia CapoHa. Hto 3Ta atmacB hsb MeTpn Ci KOHmu/m mocü Jltmuwtoii wcmtt, tu .lum. u/wjuy np. t ti dOMtb M 25, UftTpoMb IleTpoaHHeuB iHPEJEPt, sniy- iijHMB -iHTftKHoli AHeMs noAHHCTOKs,npitmicoKs,3a /ohb *e AHflp««BH'iV Ulp«a«pB no panop»iK«Hiio TaBpH««OKo!l Ka- 3«hho!( IlaaaT« otb 12 ®«BpaJM 1891 POfla 3a S 4571, nptmncj>«n- BB U«JTHTOnOJbCKi« 2-ü mabfliH KymjH n coctobjtb bb 3T0UB 3Ba- k Hin ao obosü ouapTK nocjrkaoBaBm«» bb 1896 roayl bb toub To- /•jfifei'-Ap , poflciia« ynpasa noanncbn h npnjio*«Hi«UB n«uaTn yaooTOBip/!«TB \% ■. ‘ ■ v *c- - *£,/ — - popoaoKOM rOflOBß Hhxkb ynpaBM ^taonpoH3BoaHT«ab k 267 Gutshaus Dschaw- Borju, Krim, Besitzer Jakob Martens mit Kindern, 1909. Eingesandt: Maria Dyck. Johann und Katharina (geh. Braun) Dick, Kara-Tchokmak, Krim. Eing. Maria Dyck. Peter Peter Schroeder, geh. 1866, gestorben 1942, letzter Volksvertreter für die Mennoniten in der Krim bis 1917. Bild genommen 1900. Eingesandt: Maria Dyck. 268 Peter Heinrich Schroeder und Frau Maria (geb. Klaassen), 1870. Einge¬ sandt: Maria Dyck. Johann Janzen, Winnipeg, berichtet: Unser Vater Johann Janzen, wurde im Jahre 1877 auf dem Gute Wiesenfeld in der Ukraina geboren. Im Jahre 1912 wohnten die Eltern bei der Station Karlowka. Im nächsten Jahre zogen sie in die Krim. Mein Vater kaufte zusammen mit drei Geschwistern 2500 Dessatin Land bei der Station Biejuk-Onlar. Es entstand ein kleines Dorf mit acht Höfen, vier an jeder Seite, mit der Schule in der Mitte. Im Schulgebäude wurden auch sonntäglich die Andachten abgehalten. Unser Lehrer war Peter Schellenberg von Memrick. Der Lehrer und unser Vater lasen abwechselnd am Sonntag die Predigt. Ab und zu hatten wir auch Besuch aus der Bibelschule von Tchongraw. Die Gebäude wurden alle von Muschelsteinen gebaut, welche auf unserem eigenen Lande in Steingruben gesägt wurden. Man nahm von oben eine Schichte Erde ab. Dann wurden die Steine mit einer langen Säge gesägt. Die Tataren fuhren die Steine dann für einen billigen Preis zur Baustelle. Die Tataren waren gute Arbeiter. Die Religion erlaubte den Tataren nicht, Schweinefleisch zu essen. Für sie mußte immer besonders gekocht werden. Mein Vater holte gewöhnlich seine ständigen Arbeiter aus der Ukraine. Alles ging gut, bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges. Die 269 Abram Janzen, Kiptschak, Krim. Sara Janzen, Kiptschak, Krim. jungen Männer mußten fast alle mit Pferden und Wagen in den Dienst. Es war in der Dreschzeit. Im Jahre 1915 mußte auch unser Vater in den Dienst. Er meldete sich mit dem Auto zu dienen. Er mußte mit Offizieren von Simferopol nach Jalta und Aluschta fahren; es gab dahin damals noch keine Eisenbahn. Seine Dienststellen wurden desöftern gewechselt. Im Jahre 1917 kam Vater aus dem Dienste nach Hause. Er war einer der ersten, die losgelassen wurden, da er schon über vierzig Jahre war. Er fand zu Hause manches stark verändert an. Er mußte neuen Mut fassen, denn die ganze Wirtschaft war verloddert. Bald darauf brach die Revolution aus. Die Krim war einmal von den Roten, dann von den Weißen besetzt. Es ging aus einer Hand in die andere. Ein jeder raubte in dieser Zeit, so viel er konnte. Im Jahre 1920 siegten dann die Roten. Die Lage besserte sich aber nicht. Im Jahre 1924 sollte unser ganzes Dorf umsiedeln. Das Land wurde frisch vermessen und eingeteilt. Mein Vater beschäftigte sich aber schon mit anderen Gedanken. Er reichte ein, um nach Kanada auszuwandern. Im Jahre 1925 bekamen wir unsere Papiere und im Herbst verließen wir die schöne Krim. Der Herr gab Gnade zur Reise. Wir kamen am 28. Oktober selbigen Jahres in Altona, Kanada, an. Auf die Frage an meinen Vater, ob es nicht schwer gewesen war, alles zu verlassen, sagte er nur: “Der Herr hat alles so geführt.” Er nahm alles aus Gottes Hand. Er starb im Jahre 1957 in Winkler, wo er die letzten zwanzig Jahre mit Mutter im Ruhestand verlebt hat. Mutter Sara, geb. Abrams starb im Jahre 1974 in Winnipeg. Sie ruhen beide in Winkler auf dem Friedhof. Sie hatten zwei Söhne und zwei Töchter, die alle in Manitoba mit ihren Familien leben. 270 Jakob Wiens, Kiptschak (Eingesandt von Johann, Janzen) Als im Jahre 1920 die Rote Armee die Krim einnahm, wurde Jakob Wiens auch festgenommen. Man nahm ihn von einem Orte zum anderen mit. Nachdem man ihn sehr geschlagen hatte, führte man ihn aufs Feld, wo er sich ganz entkleiden mußte. Er bat, ob er nicht niederknien dürfte, um noch erst zu beten. Diese Bitte wurde ihm gestattet. Dann hat man ihn dort auf dem Felde erschossen. Der Matrose, der ihn erschoß, hat später berichtet, daß Jakob kräftig gebetet habe. Derselbe Matrose kam später zu einem Prediger in Tchongraw, was der Mann hatte, daß er so beten konnte. Der Matrose hat sich später auch bekehrt und ist dann auch erschossen worden. Jakob Wiens hatte die Tchongrawer Bibelschule besucht. Er war 23 Jahre alt, als er ermordet wurde. Jakob Wiens, Kiptschak, wurde mit 23 Jahren Meine Erinnerungen aus der Krim von K. Warkentin, Winnipeg Am Anfang meines Berichtes von unserem Leben auf der Halb¬ insel Krim, möchte ich in die Worte des Psalmisten einstimmen: “Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich” (Psalm 126, 3). Als vierjähriges Kind machte der Umzug von Steintal auf mich einen großen Eindruck. Einmal war es die Zugfahrt, dann die Ankunft in Tschongraw, wo man mit den Gebäuden fast fertig war. Im nächsten Frühling wurden die Gruben gegraben, in welchen man später die Obstbäume pflanzte. Uns Kindern machte es viel Spaß über die Löcher und Gräben zu hüpfen. Nach einigen Jahren hatten wir einen schönen Obstgarten. Für meine Eltern muß es schwer gewesen sein, den guten Boden zu verlassen und auf steinigen Boden zu ziehen. Ich habe aber nie eine Klage von ihnen gehört. Als Kinder fuhren wir gerne mit aufs Feld, um Steine 271 abzulesen; es gab viele Wagen voll. So war es auch mit der Quecke (Unkraut), die aber guten Brennstoff abgab. Meine Eltern waren im mittleren Alter, als sie zur Krim zogen, der älteste Sohn, Jakob, war verheiratet. Ich bin heute noch dankbar für die gläubigen Eltern. Vater war nur still, aber er hat sein Christsein mit dem Wandel bezeugt. Mutter war immer sehr beschäftigt mit dem Besorgen des Viehes, des Gartens und vieles andere mehr. Aber sie war voller Humor und erzählte uns viele Geschichten. Wir hatten wirklich ein schönes Familienleben. In den Kriegsjahren haben wir manches Schwere erlebt, oft wurden die Tage getrübt, aber der Herr war stets nahe. Zwei meiner Brüder wurden zum Dienst gerufen, kamen aber glücklich und gesund nach Hause. Die Krim ist vor vielen grausamen Dingen bewahrt geblieben. Dem Herrn sei Dank dafür! Mein Vater war mein erster Sonntagsschullehrer, dann mein Cousin Jakob Wiens, und verschiedene andere mehr. Im ersten Schuljahr war meine Lehrerin Margarita Tjart; sie starb an Grippe. Später folgte ein Johannes Dick, Cornelius Wall und endlich Gerhard Wiebe aus Ladekopp. Ich bin Gott dankbar für die gläubigen Lehrer, die uns zum Segen waren. Es war auch ein großes Vorrecht, daß wir die Morgenandachten zusammen mit den Bibelschülem haben durften, denn wir waren in einem Gebäude. Große Freude bereiteten uns immer die Maifeste, das Spielen auf der Wiese, wo so viele Blumen blühten. Manche Blumen haben wir dann auch gepflückt und den Lehrern gebracht. Als Jugendleiter diente uns Hans Wiens, mein Cousin. Die Zeit werde ich nie vergessen. Die Singstunden und dann das Vortragen der Lieder, es waren Höhepunkte im Leben. Unser Dirigent war Jakob M. Janzen. Uebstunden fanden zweimal in der Woche statt, dazu noch Musikstunden. Dann hatten wir regelmäßig die Bibelstunden und Sonnabend-Gebetstunde. Mutter würde hin und wieder andeuten, daß das Strümpfestopfen etwas rückständig sei, aber sie war immer froh, wenn wir zu diesen Veranstaltungen gingen. Die Winterabende waren immer ausgefüllt. Andere Höhepunkte waren Jugendfeste, die mit Liedern, Gedichten und Gesprächen ausgefüllt wurden; Sängerfeste, Tauffeste, Erntedankfeste und Bibelbe¬ sprechungen, die oft drei Tage anhielten. Wir Sänger dienten dann immer mit Liedern. Am letzten Abend durften die Gäste sich Lieder wählen, die wir dann singen mußten; es kam vor, daß wir bis dreißig Lieder an einem Abend singen mußten. Welchen Segen haben wir da genossen! Auch die Hochzeiten waren schön; an solchen Festlichkeiten oder auch auf Begräbnissen sangen wir Sänger gerne. Oft haben wir auch mit den Bibelschülern zusammen gesungen. Als ich erst aus den Schuljahren war, bin ich oft mit dem Chor der Bibelschule mitgefahren, wenn sie in den russischen Dörfern predigten; wie gerne sangen wir da! Mein lieber Franz und ich hatten eine doppelte Hochzeit, zusammen mit meiner Cousine Neta Rogalsky und Peter Penner. 272 Das war am 12. Oktober 1928 in Tchongraw. Wir wohnten bis zum Frühling 1929 bei meinen Eltern und zogen dann nach Lustigstal, wo meines Mannes Eltern ein Haus gekauft hatten. In wirtschaft¬ licher Beziehung war es nur kärglich, doch junge Menschen arbeiten und hoffen. Ich bekam eine Kuh von zu Hause, so wie es üblich war, wir wohnten bei meines Mannes Eltern und wirtschafteten mit ihnen zusammen. Die Zeiten wurden schwerer; die Regierung verlangte immer mehr Getreide. Die wohlhabenden wurden bedrängt und zum Teil nach dem Norden verschickt. So kam es, daß viele nach Moskau fuhren, um dort die Genehmigung zur Ausreise zu erwirken. Unser Sohn Franz wurde am 12. August 1929 geboren. Immer mehr Familien aus Lustigstal und Tschongraw fuhren nach Moskau. Wir, die zurückblieben, wollten erst die Ernte abnehmen, alle Abgaben an die Regierung machen und dann alle zusammen fahren. Nebenbei wurden die Vorkehrungen getroffen. Wir Frauen trockneten Nudeln, rösteten Zwieback und machten alles fertig zur Reise und für den Aufenthalt in Moskau. Nebenbei wurde allmählich alles verkauft, das wir nicht mitzunehmen gedachten. Meiner Schwiegermutter viel es besonders schwer, die Nähmaschine zu verkaufen. Ich sehe im Geist heute noch unser Poltergeschenk draußen auf dem Tisch stehen, welches wir nicht mitnehmen konnten. Alles wurde für sehr billige Preise verkauft. Alles kam aber anders. Wir saßen auf Koffern und Kisten, und mußten dableiben. Meine Eltern und Geschwister waren schon alle in Moskau, auch die kamen zurück. Die Rückkehrer wohnten verschieden bei den Leuten ein, man hoffte immer noch fahren zu dürfen. Als die Hoffnung aber zu dünn wurde, zogen die Leute wieder ein jeder in ihr Dorf. Die Regierung war eigentlich gut zu uns; wir durften uns von den Russen die Pferde und Kühe, wie auch die Sachen zurückkaufen. Jedoch mußten wir hier sehr vorsichtig vorgehen, um nicht Feinde zu machen. Doch die Nähmaschine meiner Schwiegermutter kam nie zurück, wir mußten bei Nachbarn nähen gehen. In dieser Zeit halfen wir uns gegenseitig aus, so gut wie eben möglich. Das Leben regelte sich allmählich, wir kauften wieder, was wir brauchten, aber irgend wie hoffte man noch immer, daß es eine Gelegenheit zur Auswanderung geben würde. Viele, viele kamen von Moskau zurück, aber viele von unseren Verwandten kamen doch nach Paraguay, Brasilien oder Kanada. Doch viele kamen auch nach Sibirien. Bald kam ein neuer Abschnitt in unserem Leben. Es wurden Versammlungen (Sobranjia) abgehalten, um Kollektive zu gründen (Kolchose). Das meinte, daß man alle Pferde, Kühe und landwirt¬ schaftlichen Geräte zusammenbringen mußte. Jede Familie durfte eine Kuh, ein Schwein und einige Hühner für sich behalten, ganz gleich, ob die Familie aus zwei oder aus zehn Personen bestand. Da gab es manche schwere Kämpfe zu bestehen. Ein Bauer hatte z.B. ganz neues Pferdegeschirr (Sielen), die hatte er versteckt. Aber einige Nachbarn wußten darum und verrieten ihn, so mußte er sie 273 abgeben. Es folgten Wahlen: Vorsteher für den Kollektiv, ein Wirtschafter, ein Aufseher für das Warenhaus. Diesen letzten Posten hat mein Mann in der letzten Zeit ausgeführt, bis er verhaftet wurde, Büroarbeiter, ein Aufseher für die Frauenarbeit. Die Frauen wurden in Gruppen geteilt, zu sechs oder sieben, und jede Gruppe hatte dann noch eine Frau als Aufseherin. Die Männer besorgten die Pferde und verrichteten die Arbeit, die mit Pferden getan wurde. Die ledigen Mädchen standen in der Arbeit so zwischen Männern und Frauen. Als man mit der Baumwollkultur anfing, wurden die Frauen besonders herangezogen zum Jäten, Auslüften der Reihen und Köpfen der Spitzen der Baumwoll- pflanzen, damit die Stauden nicht zu hoch wuchsen. Jede Frau bekam eine gewisse Anzahl von Reihen zugeteilt, und das war ihre Arbeit, sowie das Sammeln der Baumwolle im Herbst. Wenn der Frost die Ernte beschädigt hatte, mußten wir die Knollen, die nicht von selber aufgingen, nach Hause nehmen, und sie dort nach¬ trocknen und die Knollen aufbrechen und die Wolle herausziehen, eine Arbeit, die sich oft bis nach Weihnachten verzog. Anfänglich bekam ich vom Doktor eine Bescheinigung, daß ich nicht arbeiten brauchte, da ich einen Herzfehler hatte. Das wurde aber bald schwieriger. Als mein Mann erst verhaftet war, mußte ich alle Arbeit gleich mitmachen. Es wurde nach Maß und Auflage gearbeitet auch demnach bezahlt. Es gab zwei Tafeln, eine rote und eine schwarze. Wer seine norm voll bewältigt hatte, dessen Namen kam auf die rote Tafel, wer seine Norm nicht voll getan hatte, dessen Namen kam auf die schwarze Tafel. Dieses brachte schon immer Befürchtungen hervor. Es gab aber auch Auszeichnungen. Wer z.B. mehr als 40kg Baumwolle den Tag pflückte, bekam einen Bonus an Geld oder einige Meter Kattun. Ich persönlich habe einmal eine Auszeichnung bekommen, wie auch meine Schwester Neta; sie bekam Geld, Kattun und auch eine Schallplatte. Sie brach aber bald darauf mit ihren Kräften zusammen und hat sich nie wieder erholt. Wenn die Baumwollernte an war, pflückten wir von Finster bis Finster, denn es war wichtig, daß die Fasern vor dem Regen geerntet wurden. Aber auch andere Arbeiten mußten wir tun, wie z.B. Getreide¬ jäten, Aehrensammeln, Mistfahren, Sonnenblumen ausklopfen. Zu manchen Arbeiten wurden auch die Schulkinder herangezogen. Oft waren wir in Gruppen, dann haben wir manches Mal froh gesungen und viel gelacht. Besonders beim Hinausfahren aufs Feld. Die russischen Frauen haben dann immer wieder gebeten, daß wir mehr singen sollten. Auf Begräbnisfeiern haben wir auch viel gesungen, aber immer auswendig, wir trauten uns nicht, die Liederbücher mitzunehmen. Man forderte uns auch auf, an den Sonntagen zu arbeiten, freiwillig und das noch froh, und ohne Entschädigung. Die Gottesdienste konnten wir noch eine Weile frei abhalten. Aber es wurde immer schwerer, und Hochzeiten waren besonders schwierig abzuhalten. Oft hat man es in einem Zimmer, hinter dem Ofen, damit niemand durchs Fenster es sehen sollte, oder sonst wie im Geheimen. Die Prediger trauten sich schon nicht mehr, die 274 Trauung in der bekannten christlichen Form abzuhalten. In Tschongraw war nur noch Prediger Carl Wiens übriggeblieben, der aber auch verhaftet wurde. Wir haben nie mehr von ihm gehört. Die Kirchen wurden für andere Zwecke benützt. Auf einigen Stellen hatte man noch Hausversammlungen, aber bald wurden auch deswegen einige Männer verhaftet. Wie hat uns da nach den alten Festlichkeiten verlangt, aber nur Erinnerungen konnten uns trösten. Es war wohl von 1933 bis 1942, wo wir keine Gottesdienste mehr hatten. Ich hatte meine Gitarre und Liederbücher noch, so daß wir viel gesungen haben. Schwiegervater hielt sehr auf Singen. Mein Mann war schon verhaftet. Er war schon vorher zweimal verschickt, da er sich weigerte das Gewehr zu nehmen. Manche Lieder, wie z.B.: “Der Himmel hängt von Wolken schwer”, und andere, wurden uns da zu Lieblingsliedem. Unsere Festlichkeiten waren: der 8. März (wenn ich recht bin), ein Frauentag, da wir das Recht erhalten hatten, als Frauen zu wählen und auch gewählt werden zu dürfen; der 1. Mai; der 7. November (Oktoberrevolution) und dann Neujahr. Aus Neujahr machten wir dann Weihnachten. Nach Möglichkeit wurde etwas extra Gebäck gebacken, kleine Wach¬ holderäste mit selbstgemachtem Schmuck stellten den Weihnachts¬ baum dar; es wurden Lieder gesungen, und so feierten wir dann in der Stille des Herrn Geburtstag, und erinnerten uns an sein Kommen in die Welt. Der erste Mai war dann unser Osterfest. Paska, und gefärbte Eier durften nicht fehlen. Auch das ganze Schulsystem fing an zu verfallen. Wenig oder keine Ordnung in den Schulen. Wenn z.B. neue Waren im Laden angekommen waren, dann liefen die Kinder und stellten sich alle in die Reihe, so von den Eltern belehrt, damit man wenigstens etwas von der Ware bekam. Die Lehrer würden dasselbe tun. Dieses “Schlangenstehen” hatte sich so eingebürgert. Oft wegen einer Spule Zwirn oder einigen Metern Kattun, mußte man lange in “Otschered” stehen, oft bis spät in die Nacht. Wenn es sich um Ware handelte, die die Männer morgens abholen sollten, standen wir Frauen oft fast die ganze Nacht, um die Reihenfolge nicht zu verlieren. In den Jahren 36 bis 38 wurden viele Männer und auch einige Frauen verhaftet, darunter auch mein Mann. Er bekam 10 Jahre und so viel ich erfahren habe, soll er im Jahre 42 gestorben sein. Da unsere Regierung einen “Nichtangriffspakt” mit Deutschland gezeichnet hatte, freuten wir uns, daß es keinen Krieg geben würde. Das Land wurde in Tschongraw abgemessen und an die Kollektiver (für immer) verteilt. Als Grenze für unser Land mußten wir Frauen eine Reihe Bäume pflanzen. Das war eine schwere Arbeit. Nach Bijuck hin war das Land so steinig, da war uns nach Weinen, aber, um nicht zu verzweifeln, lachten wir. An einem Sonntag Nachmittag waren wir bei meiner Schwägerin und feierten Geburtstag, ohne Kaffee und Gebäck. Am Vormittag verrichteten wir unsere versäumte Hausarbeit und am Nachmittag ruhten wir aus. Da kam ein Aufruf zur Dorfsver- 275 Sammlung zu kommen. Die Männer gingen, wir blieben zu Hause. Als sie zurückkamen, schauten sie sehr ernst. Auf unsere Frage, sagte mein Bruder: “Es ist Krieg!” Das kam so kurz und aufgeregt. “Krieg im Lande?”, fragten wir. “Nein, in Polen. Unsere Regierung will den Polen helfen.” Da sank uns der Mut. Die Sache wurde immer schlimmer. Der Feind kam immer näher. Wir mußten Vorkehrungen treffen. Auf dem Hinterhofe mußten wir Schützen¬ gräber graben im Zickzack, um uns vor den Bombenangriffen zu schützen. Die Häuser mußten mit schwarzem Kot bestrichen werden, damit der Feind sie nicht sehen konnte. Des abends durften keine Lichter brennen, eine starke Verdunkelung wurde angeordnet. Die Fensterscheiben wurden mit Papierstreifen kreuzüber beklebt, dann würden sie nicht so leicht platzen vom Bombengetöse. In den Mittagspausen mußten wir uns versammeln, und da gab man uns Unterricht und Anweisung in erster Hilfe: Verbinden, Kranke zu befördern und allgemeine Anleitung, wie man sich im Angriffe verhalten muß. Die Zeit war spannend; die Sache war ernst. Eines Tages waren wir, einige Frauen, auf dem Felde beim Heumachen. Mein Cousin David Janzen kam aufs Feld, er war so ernst, daß ich nicht anders konnte, als zu spaßen. Ganz kurz sagte er “Laß mich in Ruhe. Es ist Nachricht gekommen, daß wir Deutschen alle die Krim verlassen sollen. Geht nach Hause, packt eure Sachen, es soll schnell gehen!” Wir waren alle sehr aufgeregt. Es war dieses am 16. August 1941. In etlichen Stunden sollten wir fertig sein. Es verzog sich dann aber doch bis zum 19. August früh morgens. Da waren wir alle mit unseren notwendigsten Sachen aufgepackt auf Wagen, ohne Möbel. Das waren schauerliche Momente. Ich ging einige Wagen entlang, bis ich zu meinen Geschwistern kam, da brach ich in Tränen aus. Meine Schwester Mariechen, ihr Mann und fünf Kinder, dazu des Schwagers 85jährige Mutter; Schwägerin Liese mit vier Kindern; Schwester Neta und Mann mit vier Kindern, das jüngste 7 Monate alt. So sah man ein trauriges Bild nach dem anderen. Traurig stimmte es uns, unsere Heimat auf diese Weise verlassen zu müssen. Die Kühe brummten, die Hunde bellten als wenn sie wußten, was vor sich ging. Die Russen fuhren uns zum Bahnhof Bijuk-Onlar. Die Güterwagen standen schon fertig. Man teilte unserem Dorf die besseren Wagen zu. Die Männer suchten sich auf dem Bahnhof Bretter und machten Sitz- und Schlafgelegenheiten. So fuhren wir mittags los bis Militopel, wo wir drei Tage standen. Es kamen immer mehr Deutsche aus der Krim hinzu, auch solche, die nur einen deutschen Namen hatten. Es hatten sich etwa 12,000 Personen angesammelt. Von hier aus wurden wir in die verschiedenen Gegenden Rußlands versandt. Ich könnte noch vieles berichten, aber mit unserem Krimerleben war es nun zum Abschluß gekommen. Wir haben durch all die Zeiten immer wieder Gottes wunderbares Walten und seine besonderen Führungen gesehen. Ihm wollen wir Ehre und Dank geben. Frau Katharina Warkentin, geb. Hübert 276 Auszüge eines Briefes . . . In Antwort auf die Anfrage einer jungen Frau in Kanada über das Schicksal ihres Vaters, der verschleppt wurde, als sie in der Wiege lag. Ihr Onkel berichtet: “Herznahe Nichte mit Familie . . . Gerne und doch schweren Herzens will ich Dir einiges berichten . . . Obwohl mein Schicksals¬ glaube nicht all zu groß ist, so möchte ich aber doch sagen, daß die Hand dieses Fatums schonungslos, unbarmherzig in unseren Verwandtenkreis hineingefaßt hat, um unerklärliche, fast sinnlose, unglaubliche Verheerungen anzustiften. Doch “Meine Gedanken sind nicht eure Gedaken usw.” — “Was immer dir begegnet, mitten im Abgrund der Welt, es ist die Hand, die dich segnet, es ist der Arm, der dich hält.” So steht es auf einem Lesezeichen in meiner Bibel. Ja, durch oder richtiger gesagt in diesem Schicksalsgewirr habt ihr auch euren Vater verloren. Du sprichst ja die berechtigte Bitte aus, von ihm etwas zu erfahren. Er wurde, wie alle meine Brüder, ein Opfer der Zeit. Wir waren damals schon in der Verbannung und die armen Brüder schon erschossen, als zu meinen Eltern (deinen Großeltern) ein kurzes Schreiben von der Lagerbehörde, wo dein Vater saß, einlief. Großmütig wurde dem (meinein) Vater erlaubt, warme Kleider für (deinen Vater) H. auf eine bestimmte Adresse zu schicken. Mein Vater konnte es nicht, denn er hatte selbst nur einen Rock, das andere war schon verkauft, um für das Geld etwas Brot zu kaufen. Ein Kg. Brot kostete damals 150 Rubel. Dein Vater ist tot. Irgendwo werden auf den Gefilden Kasachstans oder Sibiriens reihenweise in die Gräber gesteckte Pfosten stehen mit einer Nummer, und unter diesen Millionen von Nummern ist auch die deines Vaters, unter der seine Reste liegen. Solltest du die Reste ausgraben, dann würde auch noch solche Nummer am Knochen eines Fußes zum Vorschein kommen. Ich weiß diese Nummer nicht, aber ich denke, Gott wird sie wissen. Möchtest du doch eine bessere Vorstellung von den letzten Tagen deines Vaters haben, dann lies die Bücher “Doktor Shivago” und “Archipel Gulag”, hier verboten. Diese Bücher sind von Augen¬ zeugen niedergeschrieben . . . Das ist alles Vergangenheit! In schlimmen Träumen der Nacht spiegeln sie sich ab und zu noch wieder, und wenn man dann erwacht, dankt man Gott, daß es nur ein Traum war. Und doch ist die Wiederkehr dieser grausamen Vergangenheit eine reelle Möglichkeit ...” 277 Mehr Photos aus der Krim Waldarbeiter in den Krimer Bergen und ein kleiner Teil ihrer Wohnungen. Unten das Haus des Försters. Eingesandt: D.D. Warkentin. 278 Die Söhne von Jakob Janzen, Bescharan, beim Pflügen. Eing. D.D. Warkentin. Eine glückliche Gesellschaft auf dem Auto von Jakob Janzen Bescharan. Eing. D.D. Warkentin. Bei der Wegarbeit als C.O. im ersten Weltkrieg, 1915/16 an der Südküste am Schwarzen Meer bei Gursuf. Ganz links steht Korn. Peter Penner (Lustigstal). Eing. Peter C. Penner, B.C. 279 Die Schüler von Bescharan, Krim , mit ihrem Lehrer Jakob Goßen (Memrick). Eing. D.D. Warkentin. Schülerinnen eines Nähkursus in Tschon- graw, mit ihrer Lehrerin M. Tjart (links vorne). Eingesandt: D.D. Warkentin, Blumenort, Man. Drei Krimer: Von l.n.r.: J. Janzen, Kiptschak, stehend, Jakob Penner, Schöntal ganz rechts Abe Wall, Minler- tschik. Alle drei kamen im Jahre 1925 nach Canada. Eing. Johann Janzen. 280 Rechts mein Mann Franz Warkentin und sein Bruder Peter Warkentin, noch als Jünglinge. Eingesandt: Frau Katha¬ rina Warkentin, geb. Hübert. Peter C. Penner, 1930 als sie nach Canada kamen. Eing. P.C. Penner. Dieses Bild ist an der väterlichen Scheune in Tschongraw. Stehend von rechts nach links: Mein Bruder Gerhard Hübert, Cousin Hans (Gerhard) Wiens, Bruder Peter Hübert, Cousin Hans Wiens (Missionars Sohn), Bruder Nikolai, auf Stühlen sitzend von rechts Cousin Heinrich Janzen, Cousin Peter Rogalsky und ganz vorne mein Bruder Heinrich Hübert. Eingesandt: Katharina Warkentin, geb. Hübert. 281 Tschongraw, 1926. Meine Eltern, Jakob und Katharina Wiens, sitzend, vorne stehen, meine Schwester Lena und Bruder Abrain. Hinten: Greta Fast. Liese und Abrain Dueck, meine Frau Agatha und ich, Jakob Wiens, und Bruder Peter. Eingesandt: Jakob Wiens, Waterloo. Von links nach rechts sitzend: Frieda Rogalsky, Missionar Johann und Helena Wiens, Frau Lena Janzen und Tochter Leni. Stehend: Gerhard Rogalsky, Käthe und Hans Wiens, David Janzen und (adoptierte) Anna Wiens. Eingesandt: Jakob Wiens, Waterloo. 282 Prediger Johann Wiens, Tschongraw, mit Frau Maria, geb. Isaak, und Kindern Hans und Maria. 1926. Eingesandt: Hans Wiens, Vancouver. Meine Großeltern Gerhard und Maria Wiens, Tschongraw, 1901. Eingesandt: Jakob Wiens, Waterloo. 283 284 Krimertreffen in Coaldale, 1946. Eingesandt: Peter H. Koop, Winnipeg. Johann J. Jantzen und Frau Helena, geb. Klippenstein (Spat-Minlertschik) mi t ihren Kindern: Jakob, Agatha (Frau Dueck), Liese (Frau Martens) und Johann. Eingesandt: Johann Jantzen, B.C. Frau Suse Teichrieb, mit ihren Kindern: Elvira (Loewen), Arnold, Anne Liese und Georg, mit ihren Familien. Ihr Mann. Franz (Spat) ist seit 1936 verschollen. Bild genommen 1974, Winnipeg. 285 Nachfolgenden Bericht gebe ich als Anhang zum Buche. Was die Schreiberin berichtet, ist das Schicksal vieler gewesen. Frau Jakob (Anna, geb. Froese) Janzen ist nach dem Kriege mit dem Treck aus der alten Heimat geflüchtet und kam 1947 nach Kanada (Bemerkung des Verfassers.) Etwas aus unserem Leben, seit wir unsere liebe Heimat 1941 verlassen mußten. Es war der 16. August 1941, ein wunderschöner Herbsttag. Die Sonne schien so freundlich aufunser liebes Dörfchen Tschongraw in der Krim, Südrußland herab. Man konnte meinen, es gäbe kein Leid in der Welt. Die meisten Frauen waren mit dem Ausmachen der Kartoffeln auf dem Felde beschäftigt. Da meine Schwester Olga vor einem Tage aus dem Hospital mit einem kleinen Baby gekommen war, ging ich etwas früher vom Felde, um bei ihr noch Zwiebackteig zu rühren. Annie, meine älteste Tochter, hatte dort den Haushalt besorgt, in Olgas Abwesenheit. Da kam meine Gredel mir entgegen und weinte. Weil wir uns wegen unserer Männer im Kollektiv nicht sicher waren, so wähnte ich, sie hätten meinen Mann genommen. Ich fragte: “Warum weinst Du, haben sie Papa genommen?” “Nein”, sagte sie, “Aber Du mußt nach Hause kommen, wir sollen alle von hier weggeschickt werden. In sechs Stunden sollen wir fertig sein.” Ich sagte: “Kind, wenn wir nur zusammen bleiben können, dann wollen wir nicht weinen.” Ich ging zur Schewester, rührte dort den Teig ein und dann mußte ich auch sie über die ganze Sache in Kenntnis setzen. Wie tat sie mir so leid! Wie hatten wir uns alle auf das Baby gefreut und wie würde es jetzt werden? Bange Fragen stiegen in uns auf. Aber hier half kein Weh. Ich hatte ihr die Sache so schonend wie möglich gesagt. Ihr Mann kam erst abends nach Hause und hier sollte gepackt werden. G. Toews fuhr Getreide zur Bahn im Kollektiv. Ich ging mit meiner Gredel nach Hause und Annie blieb bei der Schwester, um ihr zu helfen, so gut sie vermochten. Als ich nach Hause kam, hieß es, jetzt einpacken. Wie sollte man das anfangen, um so schnell wie möglich damit fertig zu werden? Aber auch soviel wie möglich mitzunehmen. Es tat einem der Betrug doch weh. Immer hatte man betont: "Arbeitet gut und treu. Ihr seid unsere Bürger und es soll euch kein Leid geschehen.” Jetzt hieß es fort, aber wie und wohin? Der Winter kam, es war Krieg und wir wurden obdachlos. Bange Fragen stiegen in uns auf, auch mancher Seufzer und Tränen wurden geweint. Doch jetzt hieß es handeln, denn sechs Stunden sind sehr kurz, um einen ganzen Haushalt, wie er eben ist, einzupacken. Nachdem wir uns etwas beraten hatten, machte ich mich ans Backen und Jakob und meine Söhne packten. Da kam ein Kommissar und sagte uns, wie wir zu packen haben. Alle warmen Kleider mitzunehmen, denn es könnte sehr kalt werden. Eßwaren sollten wir viel mitnehmen, denn es könnte sein, daß wir lange reisen würden. Wir sollten die Sachen so packen, daß, wenn es zur Flucht käme, wir das Nötigste schnell zur Hand hätten, um mitzunehmen. Ich mußte weinen, da sagte der Kommissar: “Weinen Sie doch nicht, wir meinen es ja nur gut mit Euch. Wir fahren Euch weiter von der Front, und nach zwei Monaten kommt Ihr wieder zurück.” Wer konnte diesen Reden glauben? Es wurde gepackt, gebraten, gebacken, so gut ein jeder konnte. Unser Garten stand gerade voll beladen mit roten Pflaumen und Mirabellen. Wie hatten wir uns zu dem schönen Obst gefreut, welches, wenn es trocknet, uns im Winter schöne Dienste leisten sollte. Es war vorbei. Um den Abend waren wir dann fertig. Jetzt warteten wir auf die Wagen, die uns zur Bahn bringen sollten. Da mit einem Mal verbreitete sich die Kunde, es könnte auch sein, wir brauchten schon nicht weg. Es war Sonnabend. Wir verbrachten den Sonntag sehr ruhig und still. Es wurde vom Gepäck noch etwas geändert. Andere backten noch etwas usw. Wir alle gingen mit einem drückenden Gefühl und banger Erwartung umher. Gegen Abend, es dunkelte schon, da sahen wir unsere Deutschen aus Tarnklesch 286 vorbeifahren. Das steigerte wieder unsere Angst. Montag war alles ruhig und so bat ich meinen lieben J acob, wir wollten noch ein Schaf schlachten. Wir hatten sehr wenig Fleisch. Er wollte es auch tun, wurde aber immer noch zu allerlei Arbeit im Kollektiv angehalten. Da wurde ich ungeduldig, bis er endlich zum Schlachten kam. “Ach”, sagte er, “wir werden vielleicht schon nicht Weggehen brauchen und das Schaf wird uns im Winter so schön passen.” Nachmittag mußten alle auf Arbeit. Es hieß, wir brauchten nicht weg. So ging es in manchen Häusern. Wir trauten dem Frieden nicht. Die Frauen gingen auch nicht an die Arbeit. Unter schweren Gedanken und Sorgen schlich auch der Montag dahin. Unser Sohn war nachts bei den Pferden im Stall, so ging er auf seinen Posten. Wir legten uns zur Ruhe, es war halb elf Uhr. Ich war noch nicht eingeschlafen, da klopfte mein Sohn am Fenster. Er rief: “Mama, schläfst Du?” “Nein.” “Ihr müßt Euch zu drei Uhr bereit halten, dann soll es losgehen.” Da hatten wir die Antwort. Nun wurde alles vollends eingepackt, aber mit großen Beschwerden. Nach draußen durfte kein Licht durchdringen,darum wurden die Fenster nach Möglichkeit verdunkelt und man kam auch mit dieser Arbeit fertig. Jede Familie bekam einen großen Getreidewagen, da konnte man dann so viel wie möglich mitnehmen. Wir hatten unsere Sachen schon alle auf dem Wagen. Es ist mir, als wäre es erst kürzlich geschehen, wie ich und mein lieber Jacob noch einmal alle Zimmer durchgingen, um zu sehen, ob auch nicht etwas Wichtiges liegen geblieben, und Abschied zu nehmen von den lieben Räumen, in denen man so viel Freude und Leid geteilt hatte. Es ist so ein Wegziehen ein ganz anderes, als wenn man es aus freiem Willen tut. Meine Tränen flössen unaufhörlich, ja es ging in lautes Schluchzen über. Das liebe Heim verlassen, ins Ungewisse hineingehen, ich konnte mich gar nicht fassen. Da sagte mein lieber Jacob: “Du mußt Dich trösten, Du hast Deine ganze Familie bei Dir, was viele nicht haben.” Die Trennung vom Heim war schwer, doch es sollte noch anders kommen. — Die Kuh an einen Baum angebunden. Unser kleiner, lieber Hund, Bella, saß auf dem Heuschuppen und heulte. Einen vollen Garten ließen wir zurück und gingen zu unseren Wagen. Die Wagen mußten sich alle am Ende des Dorfes sammeln. Bis sie alle beisammen waren, war es halb fünf Uhr geworden. Es gab viel weinen und jammern im ganzen Dorf. Die russischen Frauen hatten immer gedacht, wenn der Deutsche kommen würde, dann sollten wir für sie sprechen, und nun mußten wir alle weg. Die Menschen weinten, Kühe brüllten, Hunde heulten. So ging es dann los, den Weg zum Bahnhof, nach Bijuk. Ein Nichtwollen gab es nicht. Hatte jemand eine deutsche Frau oder Mann, der mußte ohne alle Gnade mit. Nur die liebe Sonne schien uns freundlich auf unserm Wege. So kamen wir um 9 Uhr in Bijuk an. Hier wurde schon fleißig ein Zug zusammengestellt. Es wurde von 40—45 Personen in einen Wagen geladen, mit all ihren Sachen. Um 3 Uhr gab es noch einmal ein Abschiednehmen von den russischen Frauen, denn es hatten uns viele zum Bahnhof gefahren. Ein Ruck und unser Zug ging davon, hinein ins Ungewisse, mit Riesenschritten. Bis Akimowka gekommen, hielt unser Zug an. Hier haben wir einen ganzen Tag gestanden. Den 19. fuhren wir von Bijuk ab. Von Akimowka fuhren wir abends los und kamen dann den 28., 8 Uhr morgens, in Melitopol an. Hier standen wir 2 Tage. Da etliche beim Aufbruch aus der Heimat nicht ihre Wäsche gewaschen hatten und hier gutes Wasser war, wuschen sie hier das Nötigste zum täglichen Gebrauch. Hier holten wir auch unsere Kessel und Grapen hervor und dann wurde gekocht, Borscht, Kaffee, Tee und anderes. Hier in Melitopol standen noch 17—18 Züge voll von Evakuierten. Es spielte keine Rolle, wenn er auch Kommunist war, alles, was irgendwie nach deutsch ähnelte, mußte mit. Als wir von Melitopol wegfahren wollten, sollten wir unseren Zug mit grünen Zweigen behängen. Es wurde aber nicht getan. Man war mit uns deswegen nicht zufrieden. Als wir eine kurze Strecke gefahren waren, hörten wir schon Donnern der Geschütze und uns wurde ordentlich warm ums Herz. Doch der Zug rollte unerbittlich weiter. Wir hatten gehört, weiße Tücher umbinden, weiße Laken und Handtücher vor die Fenster hängen, so viel wie möglich weißes am Zug hängen, das wäre ratsam. Solche Züge liefen nicht so schnell Gefahr beschossen zu werden. Wir machten es so. Wir hatten einen guten Zugführer. Er wollte mit unserm Zug über Lichtenau fahren. Dort wollten einige von unseren Leuten aussteigen, weil sie dort Bekannte hatten. Dann wechselten unsere Zugführer und dieser fuhr einen 287 andern Weg. Um 9 Uhr wurde uns gesagt, alle weiße Tücher abnehmen, so auch alles Weiße von den Fenstern entfernen. Wenn möglich alle dunkle Kleider anziehen. Des Nachts ging es über Siwasch. Was dann mit unserem Zug vorging, das konnten wir uns nicht erklären. Es ging in rasender Eile, ja, es war, als würde der Zug von bösen Geistern getrieben. Ans Schlafen war gar nicht zu denken. Wir haben dann Lieder angestimmt, eines nach dem andern, denn eine große Angst kam über uns und in den Liedern fand man Trost. Ein mancher Seufzer und ein manches Gebet ist dann emporgestiegen. Das dieses nicht eine normale Fahrt war, davon waren wir alle überzeugt. Die Nacht war entsetzlich lang. Endlich fing der Tag an zu grauen. Es regnete leise. Darüber war es Sonntagmorgen geworden, der 24. August. Das Donnern der Kanonen wurde immer deutlicher. Der Zug ging immer weiter und unsere Herzen immer enger. Es war wohl 9 Uhr geworden, als wir in Saporoschje ankamen. O trostloser Anblick. Wir waren einige Kilometer vor der Front. Es krachte und donnerte um uns her, mehrere Gebäude lagen in Trümmern. Wir mußten warten. Der Zugführer erhielt keine Erlaubnis, weiterzufahren, all unser Bitten half nichts. Da kam der Befehl: Ein jeder soll einige Sachen nehmen und aus dem Zug hinausgehen. So standen wir alle wohlbeladen eine geraume Zeit. Es regnete noch immer. Dann hieß es, alle in die Waggone hinein. Die vordere Seite schließen und die andere Seite öffnen. Wir schlossen unsere Vordertür, aber die andere wurde nicht geöffnet. Es standen einige Züge mit Munition, andere mit Militär und auch Radioempfänger. So hatten wir eine geraume Zeit sinnend dagesessen. Einige waren über dem Schreck eingeschalfen. Da mit einem Male ein Krach. Unser Waggon bebte in allen Fasern. Der Boden war durchlöchert. Im anderen Waggon war ein großes Geschrei, da hatte es H. Hübert durch den Fuß geschossen, es war ein Jammer. Alle wollten nur weg von hier. Hier war unseres Bleibens nicht mehr, so meinten wir. Es wurden nun zuerst alle Kinder hinausgereicht und dann gingen die Großen. Jeder wollte so schnell wir möglich weg, denn wir sahen alle den Tod. Im Zuge war das Radio, da von den Menschen nichts mehr zu finden, sie waren verspritzt. So hatten dann die Wenigsten etwas mitgenommen, viele waren barfuß, ohne Tuch, auch nicht ein Stück Gepäck in den Händen. So liefen wir ohne Plan und ohne Ziel, und der Regen hatte immer noch nicht aufgehört. So war auch ein junges Mädchen, wie es uns alle laufen sah, da hat es bitterlich geweint. Wo geht ihr hin, wo soll ich mit meinen armen Eltern hin, sie sind beide krank und hilflos. So mußte es wieder zurück in den Zug. Als wir in Tschongraw eingeladen wurden, da bat das Mädchen, mit den Eltern dortzubleiben, weil sie doch beide krank waren, aber da half kein Bitten. “Wir helfen Dir aufladen und Du mußt mit.” So blieb sie dann im Zuge zurück. Es war ein Schreien und Jammern. Es blieben auch noch andere zurück aus andern Dörfern. Einige gingen nur eine kurze Strecke, hielten sich dort eine Zeitlang auf und kehrten dann wieder zurück. Unsere Leute aus Tschongraw waren sich aber ziemlich einig. Bis einige wenige gingen wir immer weiter. Frau H. und ihr Sohn stützten ihren Mann, und so kamen auch sie langsam vorwärts. Wir waren 4 Kilometer gegangen und kamen in ein russisches Dorf mit Namen Balabino. Hier angekommen, wurden wir von mitleidigen Menschen aufgenommen. Wir waren so bei 160 bis 170 Mann mit Kindern. Es wurden uns zwei Schulen eingeräumt, in welchen wir nächtigen durften. Gute Frauen hatten uns Kartoffeln gegeben, und es fanden sich auch mitleidige Herzen, wo wir sie kochen konnten. Nach all der Angst und den ganzen Tag nichts gegessen, schmeckten die Kartoffeln schon sehr gut. Mehr oder weniger gesättigt, legten wir uns zur Ruhe, mit der leisen Hoffnung, morgen weiter zu fahren, denn der Zugführer hatte zu einigen gesagt: “Geht nur ins Dorf, bis es ruhiger ist. Morgen früh kommt Ihr, und dann fahren wir weiter.” Als wir uns morgens früh auf den Weg machten, kamen uns schon einige Männer entgegen mit der Nachricht, der Zug sei schon um 1 Uhr nachts abgefahren. Was nun? Wie weiter, fragte man sich. Los von Hof und Heimat. Heimatlos — ein schreckliches Gefühl. Da wir alle mehr oder weniger zum Teil ganz ohne Sachen abgelaufen waren, waren wir dadurch in eine sehr traurige Lage versetzt. Wir sagten uns, so geht es nicht, wir müssen sehen, wie wir unsem Zug einholen. Wir fragten die örtliche Polizei. Die sagten, es sei ihnen gleich, was wir machten, nur bei ihnen konnten wir nicht bleiben. Unser Zug ging nur langsam und wir dachten, mit einem andern Zug holen wir ihn vielleicht ein. O, wir arme Menschenkinder! Gesagt, getan. Doch fehlen ist menschlich. Wir gingen zu einer kleinen Haltestelle und 288 warteten auf einen Zug. Als wir hinkamen, ging gerade ein Zug ab, auf welchem schon eine Familie von unsem Leuten mitfuhr. Nach nicht langem Warten kam ein Zug und wir meinten schon, der Himmel sei uns gnädig. Unsere Männer gingen zum Zugführer und fragten ihn, ob er uns nicht mitnehmen wolle. Nachdem wir ihm unsere Lage geschildert, war er willig, uns mitzunehmen. Der Zug hatte die großen Wagen, “pulmamanskije" so wurden sie in Rußland genannt. Sie waren unten voll Munition und oben mit Weizen beladen. Doch nicht alle wagten diesen Schritt. Wohl die Hälfte war zurückgeblieben. Die Sache sah ihnen doch zu gewagt aus. Wir waren mehr oder weniger ganz zufrieden, denn wir dachten nicht anders, als daß wir zu unsem Sachen mußten, denn wir konnten doch so nicht weiterleben. Von außen auf den Treppen stiegen wir hinauf und machten es uns auf dem Weizen bequem, doch mit einem gewissen Bangen. Das Hinaufsteigen war für ältere Personen schon ziemlich schwer, denn die Treppen waren nur sehr schmal und ziemlich hoch. Wir fuhren los, aber o Schrecken, wir hatten vielleicht eine halbe Stunde gefahren, da erschreckte uns ein Donnern, dann das zweite, und auch ein drittes Mal. Der Zug fuhr sehr schnell. Unsere Jungen sahen, was jetzt kam, hatten im Nu die paar Sachen hinunter geworfen, und sie sprangen auch hinunter, dann auch die Mädels. Dann sagte ich zu meinem Mann: “Unsere Kinder sind unten, uns ist nichts weiter geblieben, als daß wir auch sehen müssen, wir wir hinunterkommen.’’ Das ging viel flinker als das Hinaufsteigen. Ich staune heute noch, wie schnell es alles ging. Den Kindern half man. Eines faßte man am Arm und ein anderes am Fuß, so toll ging es, aber wir kamen alle glücklich hinunter, sogar eine Frau, die nicht gehen konnte und auf einem Stuhl saß. Sie schrie herzzerbrechend, kam aber unversehrt vom Zug. Schrappnelle sausten um unsere Köpfe. So kam ich an einen Wagen, der war voll Menschen, die auch schrien. Da sagte ein Mann von ihnen: “Ach macht keine Panik, das ist nicht so schlimm.” Diese Leute waren im Zuge geblieben, und man hat sie später alle weggefahren. Sie waren alle tot und bis zur Unkenntlichkeit zugerichtet. Die Schrappnelle hatten niemand von uns getötet, sie sausten an uns vorbei oder fuhren vor uns in die Erde, wobei sich große Staubwolken erhoben. Nach vielem hin und her fanden wir uns in einem Dorf zusammen. Wir waren alle unversehrt, doch in dem Durcheinander waren etliche von uns in eine andere Richtung gekommen und wir fanden uns erst nach einiger Zeit wieder zusammen. Nach dieser wunderbaren Errettung sagten wir uns, wir gehen nicht wieder auf einen Zug. Es ist das nicht unser Weg. Die Lokomotive war umgestürzt, der Zugführer war tot, mehrere Wagen umgestürzt und unser Häuflein gerettet. Wir hatten viel Ursache zum Danken. Wir entschlossen uns, Feldein zu gehen, denn in dem Dorfe wollte man uns nicht. Wir gingen langsam weiter, denn mit kleinen Kindern und mit alten und kranken Menschen kamen wir nur langsam vorwärts. Die Sonne senkte sich zum Niedergang. Fremd, weit und breit kein Dorf zu sehen. Wir kamen in eine Niederung, da lag noch etwas Stroh: wir beschlossen hier zu übernachten. Es war schon ziemlich dunkel, aber wir fanden noch einige Tomaten auf dem Felde, und sie wurden mit Freuden gegessen. Da wir von unseren Sachen losgekommen waren, so sind wohl auch manche von uns ohne einen Bissen zur Nachtruhe gegangen. Wir benutzten einen Teil von dem Stroh als Unterlage und den andern als Decke. Es ging wirklich und ein mancher meinte, er habe noch gut geschlafen. Dieses war der 25. August. Des Morgens ging es weiter, und wir kamen in ein Dorf Alexandrowo, wo schon Flüchtlinge waren. In diesem Dorf waren zwei große Ställe und dort fanden auch wir Aufnahme. Wenn wir was essen wollten, waren wir aufs Betteln angewiesen. Das war hart, und es ist eine manche Träne geflossen. Ich habe oft an die Bibelstelle gedacht, wo es heißt: “Ich habe nie eines deiner Kinder sehen nach Brot gehen.” Sind wir nicht mehr seine Kinder, daß uns dieses harte Los trifft? Unser Gewissen fühlte sich belastet, denn das Kollektivleben hatten uns stumpf und hart gemacht. Unser Glaubensleben hatte sehr gelitten. In den ersten Tagen hatten einige noch etwas zu essen, aber es war nur wenig und man war aufs Betteln angewiesen. Wenn ältere Männer oder Frauen oder Kinder gingen, dann hatten sie meistens Erfolg. Aber junge Menschen durften es nicht wagen, die schickte man arbeiten. Mein Mann hatte meistens guten Erfolg. Er war ziemlich grau und wurde immer “Deduschka” (Großväterchen) genannt, und dem mußten sie was geben. Was tut man nicht alles, wenn man seine Kinder leiden sieht. In diesem Dorf waren wir 4 Tage. Dann verlangte man unsere Männer. 289 Wir baten, man solle sie uns doch lassen. Wir machten uns wieder auf den Weg. Hier bekamen wir einen Zweiräder und ein krankes Pferd, und so brauchte man die kranke Frau nicht mehr zu tragen, wozu wir alle froh waren, denn es war doch sehr schwer. In diesem Dorf trafen wir uns mit den Leuten aus unserm Dorfe zusammen, die nicht auf dem Zug gewesen waren. So zogen wir von einem Ort zum andern. Mitunter haben wir in schönen, neuen Pferdeställen geschlafen, oder in Scheunen, die am Ende eines Dorfes standen. Man schaute uns immer etwas mißtrauisch an. Wir waren so viele Menschen, und wenn wir mal einen großen Grapen (Topf) geborgt bekamen, dann kochten wir uns einen Borscht, nur von Gemüse, und wie schmeckte das! An einer Stelle fanden wir noch Brotformen auf. Wie haben wir uns dazu gefreut. Wenn wir in ein Dorf kamen, dann wurden Löcher in die Erde gemacht und Prips gekocht, oder Kartoffel oder was immer wir hatten. Es ging immer der Reihe nach, denn nicht alle Familien hatten Gefäße, und es wurde immer bestellt, wer nach wem kochen würde. Als wir alle gegessen hatten, wurden noch oft Lieder gesungen vor dem Schlafengehen. Einmal gab man uns einen Schafstal] zum nächtigen, der bis an die Knöchel voll Mist war. Ich stand und weinte. “Ach Mama”, sagten die Jungen, “weine doch nicht, wir bringen Dir Stroh herein, so viel wie Du willst, und dann wirst Du wieder gut schlafen.” Es gab auch Tage, an denen wir nicht die Möglichkeit hatten etwas zu kaufen, dann gingen wir auch manches Mal mit leerem Magen schlafen. An manchen Tagen haben wir Mais und Tomaten gegessen oder den ganzen Tag Sonnenblumensamen geknackt, den wir geröstet hatten. Je nach dem wir die Felder antrafen, darnach war unsere Beute, lieber Mittag ruhten wir meistens an den Waldwegen, denn es konnten nicht alle den ganzen Tag lang gehen. Es kam auch vor, daß wir Militär trafen. Die wunderten sich sehr darüber, daß wir nicht zu Hause geblieben waren. Wir sollten unser Kochgerät wegwerfen, man müsse uns überall, wo wir hinkamen, zu essen geben. Wenn wir auf den Feldern noch etwas fanden, sollten wir es immer nehmen. Darum haben wir oft, wenn wir an ein Kartoffelfeld kamen, Kartoffeln ausgemacht. Wir gingen von einem Dorf zum andern. Die Russen munterten uns auf, indem sie sagten, der Deutsche komme bald, geht nicht weit. In den meisten Fällen wurden wir nur 2 Nächte geduldet, mitunter auch nur eine, dann mußten wir weiter. Auf unserer Wanderschaft hatten wir schon 2 Wagen zuwege gebracht. In einem Dorf ein Rad, in einem andern ein krüppeliges Pferd, dann ein einjähriges Füllen und eines haben wir uns gegriffen, weil wir es herrenlos glaubten. Es trug viel zum Guten bei, denn unsere kleinen Kinder und alten Leute konnten jetzt fahren. So kamen wir in ein Dorf Seljonej. Da waren viele Obstgärten, wunderschön. Wir durften bei den Leuten kochen und in der Schule hatten wir unser Quartier. Wir bekamen viel Obst und wir kochten Krökelwareniki und Borscht. Ach das war eine schöne Abwechselung und wir waren unserm Gott dankbar. Hier verweilten wir zwei Tage. Dann ging es weiter. Wir kamen auf ein Chutor, wo die Wirte ausgesiedelt waren. Es befanden sich hier viele Milchkühe. Darum nannten wir diesen Ort den Milchchutor. Wir nahmen im leeren Haus Quartier und viele andere mit uns. In diesem Haus war ein großer Grapen (Topf) und ein schöner Herd. Wir bekamen hier so viel Milch, wie wir brauchten und uns gefiel es hier. Andere hatten in den Ställen ihr Quartier. Im schönen Teich konnten wir uns baden und unsere Wäsche waschen. Die Kinder gingen in die umliegenden Dörfer nach Brot und es war alles für uns sehr schön. Vier Tage durften wir uns hier aufhalten. Dann hieß es wieder weiter. Nach so einem schönen Ort, gab es dann, wenn wir wieter gingen, das Gegenteil. Doch es hieß immer weiter und wie war man manchmal so mutlos, wenn es immer weiter ging und man schaute bange in die Zukunft. Wir kamen in ein Dorf mit Namen “Neudorf”. Daselbst durften wir eine ganze Woche verweilen. Dieses Dorf war ganz voll von Militär. Wir durften arbeiten und dafür erhielten wir Essen. Die Männer brachten Mehl, Eier, Fleisch und Brot nach Hause, wie freuten wir uns. Ich und meine Tochter gingen auch arbeiten. Man stellte uns an, Kartoffeln ausgraben, aber wir kamen nur langsam weiter, denn wir hatten keine Kraft. Hier hatte man uns in den Häusern Quartier gegeben. Wir hatten bei sehr lieben alten Leutchen unser Quartier. Sie hielten Morgen und Abendandachten. Nach einer Woche hieß es wieder weiter. Hier hörten wir schon immer das 290 Donnern der Kanonen. Es war viel Waldschutz an den Wegen und wenn wir an solchen ankamen, dann ruhten wir, und unsere Pferdchen konnten grasen. Manches schöne Lied haben wir an solchen Plätzen gesungen. Ein und der andere wird vielleicht sagen, in solch einer Lage und dann noch singen? Ja, denn im Kollektiv hatten wir diese Möglichkeit nicht und wir fühlten uns unserm Gott nähergerückt. Wir durften aus freier Brust singen. Wir hatten schon einen ganzen Monat gewandert und kamen von Saporoschje nach den Molotschnadörfem. Hier nahm man uns gut auf, gab uns zu essen, auch einige mal Arbeit. Aber wie schauten sie alle bang in die Zukunft! Wenn euch so ein Los getroffen hat, werden wir dann verschont bleiben? so fragten sie sich. Aber auch sie sollten bald von Haus und Hof getrennt werden. Wir kamen dann nach Fürstenwerder. Hier gab man uns zu essen und wir wurden in die Häuser verteilt. Im Kollektiv wurde reichlich für uns gekocht und gebacken. Unsere lieben Männer erhielten hier Arbeit im Kollektiv als: Stroh einfahren, Mais abschälen und manches andere. Die meisten Frauen hier waren schon ohne Männer. Die waren schon den 1. September genommen. Wie waren wir den lieben Leuten so dankbar. Doch hier durften wir nur zwei Tage verweilen. Als wir weiterzogen, kamen wir nach Gnadenheim. In Fürstenwerder hat man uns mit Weintrauben beschenkt, was uns richtig erquickte. Auf unserer Weiterreise hatten wir ziemlich kalten Wind und wir waren sehr froh, als wir in Gnadenheim ankamen. Wir wurden in die Häuser verteilt. Wir bekamen ein schönes Abendbrot: Kartoffeln, gebratene Eier, Gurken und Kaffee, mit Butterbrot. Das schmeckte, und unsere Kinder waren sehr froh. Hier war es auch das erste Mal, wo man uns richtige Betten gab und wir herrlich schlafen durften. Wir legten uns auch sehr bald zur Ruhe, denn wir waren sehr müde. Wir waren aber noch nicht eingeschlafen, als es an die Tür klopfte. Die Tür wurde geöffnet und der Vorsitzende vom Kollektiv kam herein. Es wurde Licht gemacht und er verlangte unsere Papiere (Ausweise). Ich fragte unsere Wirte, ob man hier immer die Papiere verlange? Sie sagten ja, aber wir sollten nur ruhig schlafen. Man würde uns die Papiere am nächsten Tage wieder zurückbringen. Mein lieber Jakob aber konnte nicht schlafen. Er sagte: “Jetzt ist unser Los besiegelt”. Ich habe schön geschlafen. Des Morgens war es kalt und stürmisch. Wir wollten noch einen Tag länger bleiben, aber wir erhielten Befehl, gleich ins Nachbardorf zu gehen, namens Friedensdorf. Wir verzogen es bis nachmittag, bis wir hingingen. Hier wurden wir alle einzeln aufgeschrieben. Dann sagte man zu uns: “Geht nach Tschemigowka. Dort werden wir euch in Züge laden und dann kommt ihr dorthin, wohin ihr sollt, nach Kupbotowskij Rajon. In trüber und bedrückter Stimmung, nichts Gutes ahnend, ging’s weiter. Man gab uns einen Wagen mit einem Fuhrmann, damit die Frauen mit den kleinsten Kindern fahren konnten. Zu allem Unglück hatte es angefangen zu regnen. Wir kamen ins nächste Dorf, aber wir sollten weiterziehen. Der Fuhrmann war böse, er wollte uns los werden. Das Wetter war kalt und anzuziehen hatten wir alle wenig. Zudem dunkelte es auch schon stark, so daß wir nicht richtig wußten, wo wir uns befanden. Nach einigem hin und her, wie es gewöhnlich ist, wenn viele etwas zu sagen haben, entschlossen wir uns und blieben über Nacht. Man wies uns in ein großes Haus, wo wir uns dann einrichteten. Es war sehr enge für so viele, wie wir waren. Des morgens erfuhren wir, daß wir uns in Waldheim befanden. O Schrecken! Immer hatten wir uns Mühe gegeben, um nicht in große Dörfer zu kommen und nun waren wir in einem Dorfe, wo alles vertreten war, die ganze sowjetische Instanz (Verwaltung). Daran war nichts zu ändern. Wir gingen unserm Schicksal entgegen. Wir waren sehr traurig. Wir suchten uns draußen einen Herd, den man im Sommer benutzt hatte, um etwas Prips zu kochen. Er war nicht mehr in Ordnung, aber etwas bekam man doch ans kochen. Mein Mann war sehr niedergeschlagen. Hier packten die Leute schon und machten sich fertig zur Reise. Sie hatten schon Bescheid erhalten. Nach dem Essen ging mein Mann ins Dorf, um etwas Kleider zu betteln. Weil die Leute weg müssen, werden sie manche geringere Sachen zurücklassen und von den zurückgelassenen Kleidern könnte uns manches zu Gute kommen. Wir hatten sehr wenig Kleider und es ging in den Winter hinein. Wie er weg ist, kommt Scharow, einer unserer Leute (er war ein Russe und hatte eine deutsche Frau) und sagt: “Alle Männer von 16-65 Jahren sollen sich zu 10 Uhr morgens der Behörde stellen. Mein Mann war nicht da, auch noch einige andere Männer. Da er sich unzufrieden stellte, sagte ich zu ihm: “Gehen sie doch 291 hin mit der Mannschaft, die sie haben und lassen sie meinen Mann zurück.” “Nein”, sagt er, “es müssen alle sein”. Endlich kamen die Männer. Mein Mann war ganz glücklich über die Sachen, die er erhalten hatte. Doch jetzt hieß es, sich fertig machen. Wir teilten schnell das wenige, das wir hatten. Der Mann und die Söhne nahmen ihr Weniges in einen Sack, den mein Mann auf die Schultern nahm. Wir beteten noch zusammen und dann mußten wir Abschied nehmen, was unter vielen Tränen geschah. An ein Zurückkommen war nicht zu denken. Schwager Gerhard sagte: “Verlaßt Olga nicht, bleibt zusammen, wenn eben möglich.” Wir haben es ihm auch versprochen. Nun gings weiter. Einige Frauen und ich begleiteten unsere Männer bis zur Behörde. Sie wurden in einem großen Raum gleich unter Aufsicht gestellt. Mein Mann wurde gewahr, daß er seine leichten Schuhe vergessen hatte. Ich sagte: “Ich hole sie dir”. Ich lief, denn es war ziemlich weit und ich wollte sie ihm doch gerne bringen, denn in den Stiefeln schmerzten ihm immer die Füße. Es war dieses vielleicht der letzte Liebesdienst, den ich ihm erzeigen konnte. Gott sei Dank, ich kam noch fertig, sie waren aber schon aufgestellt zum Marsch. Ich reichte meinem Jakob die Schuhe. Ein Blick, ein Händedruck. Ein Polizist sagte recht spöttisch: "Wollen Sie sich auch in den Konwoj stellen?” “Nein”, sagte ich und ging dann etwas weiter. Auf einer Ecke blieb ich stehen, wo ich meinen lieben teuren Menschen nachschauen konnte, bis sie nach einigen Sekunden meinen Blicken entschwunden waren. Meine lieben Söhne, mein Stolz und Hoffnung, mein lieber Mann, alle drei an einem Tage! Meine Tränen flössen ohne Aufhören. Solcher Schmerz läßt sich nicht mit der Feder beschreiben. Es war viel schwerer, als Hof und Haus zu verlieren. Ich konnte meinen Gott nicht verstehen. Ja, er kam mir sehr hart vor. Heimatlos, ohne Obdach, nackt und blos. Jetzt noch die Stützen: Mann und Söhne weg. O, unsagbarer Schmerz! Ich krümmte mich wie ein Wurm in meinem Elend. Da gab der Herr mir einen Spruch: “Was ich jetzt tue, weißt du nicht, du wirst es hernach erfahren” (Joh. 13, 7). Dieses war mir ein Trost in den schweren Stunden und warf einen kleinen Lichtstrahl auf meinen Schmerz. Ach, wie ist es doch so schön, einen Halt zu haben, wenn man weiß, Gott macht keine Fehler, wenn es auch schmerzt. Dieses geschah am 30. September 1941. Es ist ein unvergeßlicher Tag in unserem Leben. “Euch werden wir dahin bringen, wo ihr hin sollt.” So sagte man zu uns Zurückgebliebenen. Wir blieben noch einige Tage in der Schule und wir waren wieder gezwungen, betteln zu gehen, aber aus dem Dorf durften wir nicht hinausgehen. Wenn wir etwas erhielten, waren wir sehr dankbar. Es war aber schwer, denn die Leute in Waldheim waren nicht so gut zu uns, wie in den andern Dörfern. Mitunter schlug man die Tür vor einem zu. Wir waren aber gezwungen, denn wir wußten, daß in dem Zuge, in dem wir bald weiterfahren sollten, nichts zu betteln war und darum ging man von Tür zu Tür, bis man etwas erobert hatte. Das war sehr bitter. Am 2. Oktober brachte man uns im Wagen zu der Station Stulnewo. Die Kleefelder, wo einige von unsem Leuten waren und die wir hier zu treffen dachten, waren schon weg. Es waren aber noch in vielen andern Dörfern Flüchtlinge und von ihnen kamen täglich noch hinzu. Hier gab man uns altes Seegras von Militärzügen als Unterlage. Wir waren gezwungen, es zu benutzen, weil wir ganz oder nur wenig Bettzeug hatten. Unter freiem Himmel war schon für uns Große schwer, aber wieviel schlechter für die kleinen Babys. Nebelige, kalte, rauhe Nächte. Die Tage waren erträglich. Die Windeln waren nicht zu trockenen, es sei denn im Busen der Mutter. Dann so ein Kind zu stillen, ach, Trauer und Herzeleid. Nach einigen Tagen wurden wir gewahr, daß unser Gras lebte. Es war ganz voll Läuse, oh Schrecken, auch das noch! Es blieb uns keine Wahl. Jetzt waren wir so bei 7000 Mann zusammengefahren. Zwei Mal am Tage kochten wir uns etwas zum Essen. Die Tage schlichen langsam dahin. Was wird unser Schicksal sein? Wenn wir doch nicht weggeschickt würden, so sagten wir uns und beteten. Wir hatten sehr wenig Brot und wir gingen zur Polizei und baten, sie möchten uns doch Brot zur Reise geben; es hieß: “Kommt etwas später”. So oft wir auch kamen, immer dieselbe Antwort. So hatten wir 3 Tage mit Warten zugebracht. Um uns und über uns war alles unruhig. Da konnten wir nicht mehr stille sein, es wurde gesungen und gebetet, es war kein Halten mehr. Sie wollten uns zum Schweigen bringen, aber das war verfehlt. Am Morgen des vierten Tages kommt ein Mann und sagt: “Geht hundert Meter von der Bahn ab, es könnte für euch gefährlich werden. Weil wir nur wenig Gepäck hatten, machte dieses für uns keine Schwierigkeit, und 292 in kurzer Zeit waren wir fertig. Schwerer war es für die, die kürzlich von zu Hause gekommen waren, weil sie viele Sachen hatten. Weil sich dieses 3 bis 4 Mal wiederholte, wurden die Leute ganz verzagt. Denn manche waren noch nur eben fertig, so hieß es wieder weiter. Manche wurden unwillig und sagten: “Die Tschongrawer haben nur wenig Gepäck und darum wollten wir nur immer weiter”. Wir sagten, sie hatten ihren Willen und konnten ruhig da bleiben. Der Mann, der uns dieses sagte, war uns wohlgesinnt. Um kein Aufsehen zu erregen, mußte er es eben so machen. Als wir das letzte Mal weiter mußten, war es schon dunkel. Die Flugzeuge schwirrten den ganzen Tag unheimlich über unseren Köpfen. Die Autos fuhren ohne Aufhören. Da gingen einige Frauen noch einmal nach Brot. Da sagte man ihnen: “Ihr wollt noch Brot, geht nach Hause und backt euch welches.” Es gab keine Waggone mehr und wir dankten im Stillen Gott dafür. Wir waren schon einen Kilometer von der Bahn weg gekommen. Zwischen Hoffen und Zagen verbrachten wir die Nacht. Einmal hatten wir uns gerade etwas hingelegt, da sprengte eine Gruppe Reiter auf uns zu. Wir kamen eben fertig wegzulaufen, aber sie in ihrer Angst sahen uns nicht. Die Komhäuser wurden alle in Brand gesetzt. Ein wunderbares Gefühl bemächtigte sich unser. Es war, als ob wir mitten auf einem Kriegsschauplatz waren, so sah es aus. Die Kerossinbacks wurden leer gepumpt. Es war ein Geknatter und ein Gedonner die ganze Nahet. Endlich fing es an zu tagen. Wir schleppten unsere Sachen zum Weg. Einige gingen ins Dorf, um zu erfahren, ob wir irgendwo Aufnahme finden würden. Wir waren eben fertig mit den Sachen und Kinder übertragen, da kam ein Aeroplan herunter und verbrannte. Wie man nachher feststellte, geschah das gerade an dem Platz, wo wir vor einigen Minuten gestanden hatten. Wir sahen es alle als Gottes Führung an. Jetzt war der Deutsche eingezogen und wir brauchten nicht nach Kasachstan zu fahren, wie viele unserer Lieben es tun mußten. Wir gingen nach Hierschau, wo man uns ein großes Haus zur Verfügung stellte. Einige Tschongrawer zogen weiter. Obwohl der Frost den Tomaten schon den Todesstoß gegeben hatte, fanden wir doch noch einige genießbare unter ihnen. Sie dienten uns als Soße zu den Kartoffeln, die wir ebenfalls vom Felde holten. In Hierschau dankten wir nochmals unserm himmlischen Vater, daß er uns aus Feindeshand errettet hatte. Wenn wir auch viel verloren hatten, so war unser Los doch noch besser als das vieler anderer. Wir gingen nach Stuljnewo und baten beim deutschen Militär um den angebrannten Weizen. Es wurde uns erlaubt, davon zu nehmen. Er war mehr von Rauch durchzogen als verbrannt. Wenn er viel gerührt wurde, so verlor er den Geruch. Wie dem auch war, wir freuten uns königlich zu diesem Fund. In Hierschau war eine Mühle: in derselben wurde der Weizen gemahlen und wir hatten Brot. Es war eine unsagbare Freude, nach einigen Monaten mal wieder selbstgebackenes Brot essen zu dürfen. Es schmeckte vortrefflich. Man sagte, es kommen Tausende von Männer zurück und wir waren voller Hoffnung, daß auch unsere Lieben eines Tages eintreffen mußten. Wir haben Tag um Tag gewartet und Woche um Woche. Unsere Lieben kamen nicht, aber zwei Männer von unseren Tschongrawer kamen wirklich nach 10 oder 12 Tagen zurück. Das war eine große Freude und wir schöpften wieder Hoffnung, aber die erfüllte sich nicht. In Hierschau war unsers Bleibens nicht. Sie sagten, sie hatten für uns nicht Brot auch nicht Heizmaterial. In Hierschau waren wenig deutsche Leute, meistens Mischlinge. Einige von unseren Frauen gingen auf die Suche nach einem Winterquartier. Nach einigen Tagen kamen sie mit der Nachricht zurück, daß Tiege ein großes aber leeres Dorf sei. Es wohnten dort nur einige russische Familien. Ein Mann sei dort mit Vieh zurückgekommen, der wollte uns gerne aufnehmen. Wir entschlossen uns für Tiege. Wir hatten einen Wagen und auf denselben packte ein jeder etwas auf. Wir hatten uns ziemlich Weizen geholt, auch Kraut und Kartoffeln gesammelt. Das Notwendigste hatten wir. Das andere wollten wir nach einer Woche holen. Einige blieben bei den zurückgelassenen Sachen zurück. Nach 2 Tagen waren wir dort. Es war ein unheimliches Gefühl, durch die leeren Dörfer zu gehen. Rosenort, Blumenort und so war es auch in Tiege und Orlof. Wir durften uns die Häuser aussuchen. Wir waren ängstlich und wir drei Schwestern zogen in ein kleines Haus zusammen ein. In den Häusern waren noch Kartoffeln, Samen, Kraut, Gurken und wir hatten Lebensmittel. Dann kam das deutsche Militär und für uns 293 fing ein anderes Leben an. Damit endigte unsere Wanderschaft. Der Herr hat uns nicht verlassen. Unser Leben in Tiege von 1941 bis 1943 In Tiege kamen wir am 28. Oktober 1941 an. Wir durften uns jetzt so einrichten, wie es uns paßte. Das ganze Dorf war leer. Jede Familie von uns durfte ein Haus bewohnen. Doch wir waren noch nicht mutig genug, um einzeln in einem Hause zu wohnen, es war unheimlich. Es zogen einige Familien zusammen in einem Haus. Wir drei Schwestern blieben zusammen. Unser kleines Haus hatte nur ein Zimmer und eine Küche. Es war sehr eng, besonders wenn wir uns zur Ruhe legten. In diesem Hause wohnten wir drei Wochen. Es war lange schön den Herbst, so daß sogar die Fliegen noch lebten. Das war etwas ganz Ungewöhnliches. Nach 3 Wochen suchten wir uns ein größeres Haus, in dem jede von uns 3 Familien ihr eigenes Zimmer hatte. Die deutsche Regierung übernahm die Verwaltung und wir hatten unter ihrer Herrschaft nichts zu klagen. Es befanden sich auch Kühe im Dorf. Die wurden verteilt, so daß jede Familie eine Kuh erhielt. In den ersten Tagen erhielten wir Oel, Salz, Zucker und Mehl. Darüber waren wir sehr froh. Kartoffeln waren noch in den leeeren Häusern und wir durften sie holen. Hühner und Gänse waren auch ziemlich viel vorhanden, aber wir ließen die ruhig gehen, wir fürchteten, Unfrieden zu erregen. Wir waren 9 Familien von Tschongraw am Anfang. Froh waren wir, daß das Wandern ein Ende hatte, warteten aber immer noch auf unsere Männer. Doch vergebens. Auf den Höfen lag auf vielen Stellen gestrichener Mist, welchen wir zusammenholten für den Winter als Heizung. Holz wurde aus den Bunkern geholt. Auf diese Weise versuchten wir alles Nötige für den Winter vorzubereiten. Gerhard und Noldie waren sehr beherzt und brachten manches ins Haus. Wir durften uns auch Möbel zusammenholen und die Zimmer einrichten. Wir holten uns nur das Notwendigste, denn uns wurde gesagt, wenn die Leute zurückkommen würden, dann müßten wir es zurückgeben, womit ganz gerechnet wurde. Die Deutschen gingen stark vor. Wir wollten ja auch gerne die Sachen abgeben, wenn die Leute zurückkommen würden. Unser Leben ging dahin ohne Pläne und ohne Arbeit. Der Winter wurde sehr streng. Es kamen noch einige Familien hinzu und unser Häuflein wurde größer. Wir versammelten uns zu Erbauungsstunden. Lasen Predigten vor, sangen und beteten und waren ganz glücklich, so, konnte man sagen. — Unsere Not an Kleidern, Strümpfen und Schuhen war groß. Wir gingen in die Häuser, auf die Schutthaufen und suchten uns manches hervor. Mit großem Widerwillen nahm man die schmutzigen Sachen an sich. Es schaudert mich heute noch, wenn ich daran denke. Oft ging man an einem Stück eine ganze Woche vorbei, bis man sich überwinden konnte, es zu nehmen. Dann hatte man Strümpfe von drei Arten an, aber wir waren froh, wenigstens welche zu haben. Es ist etwas furchtbares, ohne Zweck, Ziel und Plan in den Tag hineinzuleben. Da die Wohnungen nicht richtig warm wurden, haben wir manchen Tag auf der Ofenbank zusammengekauert gesessen und waren froh, wenn der Abend kam, wenn man wieder schlafen konnte. Der Schlaf wollte nicht kommen und die Nächte waren sehr lang. Die Kinder schliefen. Oft haben wir kein Licht gehabt. Ich konnte lange Zeit nichts lesen, war unfähig es aufzunehmen. Es ging manchen andern ebenfalls so. Uns wurde eine deutsche Lehrerin zugeschickt, und unsere Kinder konnten lernen. Hatten sie bis jetzt nur russisch gelernt, so sollte nun alles in deutsch gelernt werden, es mußte gehen. Es war kurz vor Weihnachten, und es wurden Gedichte und Lieder gelernt. Zum ersten Mal nach vielen Jahren durften wir wieder Weihnachten feiern. Es war 1941 auf 1942. Der Januar und Februar waren sehr kalt und gingen langsam und still dahin. Hier starb der alte Onkel Wiebe. Das genaue Datum kann ich nicht angeben. Mit dem Frühling erwachte auch in uns neues Leben. Wir fingen an, mutiger in die Zukunft zu schauen. Wir erhielten unsere monatliche Verpflegung. Dann hatten wir unsere Kühe, und das Leben war etwas leichter. Ein jeder erhielt ein Stück Land, welches er für seinen Bedarf bepflanzen durfte. Wir fanden in den Häusern Gemüsesamen und auch Kartoffeln, die nicht verfroren waren. Einige Keller standen voll Wasser. Wir waren sehr mitteilsam, was einer nicht hatte, das hatte der andere und wir halfen einander aus mit Bohnen, 294 Linsen usw. Ein jeder konnte sein Stückchen Land bepflanzen. Das ging wirklich gut. In diesem Sommer wurde das Kollektiv nicht aufgelöst, sondern er sollte noch eine Ernte bestehen bleiben. So gingen denn alle wieder ins Kollektiv arbeiten, außer einigen Frauen. Es wurde unter unsem Leuten ein Brigadier gewählt. Dieser erhielt die Aufsicht über die Arbeiter und das Verteilen der Produkte, die wir von der Regierung erhielten. Es war reichlich, und wir wären ganz glücklich gewesen, wenn wir das uns zukommende erhalten hätten. Aber Gelegenheit machte Diebe und so ging es auch hier. Weil für Produkte alles zu bekommen war, gab man uns nicht unsere Norm. Und wir konnten damit gamicht auskommen. Infolge dessen hatten wir einen sehr schweren und knappen Sommer. Doch will ich hier den Schleier nicht lüften. Mit Gottes Hilfe gingen auch diese Monate zu Ende. Unser eigenes Gemüsestück war eine große Hilfe für uns. Im Herbst gab es Zuckerrohr und Zuckerrüben und wir konnten uns Syrup kochen. Es war den 16. August um die Vesperzeit, da kam die Nachricht, Onkel Enns ist gekommen. Ein jeder wollte von ihm etwas über den Verbleib der Angehörigen hören. War er doch einer von denen, die am 30. September 1941 genommen waren. Doch da er schon viele Monate von jenen getrennt war, so konnten wir nur so viel in Erfahrung bringen, daß sie bis Sampegrad gekommen waren. Die Kranken und Alten im Invalidenheim untergebracht, unter welchen auch mein Mann war. Die gesunden seien als Bahnarbeiter angestellt und fristeten leidlich ihr Leben. Die letzte Nachricht hatte Enns, daß dort Typhus ausgebrochen sei und seiner Söhne einer der Genesung entgegen gehe. Der andere sei erkrankt. Wieder kam: Wie?, Warum?, von unsem Lippen und stille heiße Tränen und Zuflucht im Gebet, und wir konnten wieder weiterpilgem, im Glauben, daß Gott keine Fehler macht. Es waren ein Tag wie der andere und niemand kam mehr —. Da die Eigentümer nicht mehr zurückkamen, so holten wir uns noch mehr Sachen und waren auch mehr auseinandergezogen. Zum Herbst wurden die Kollektive aufgehoben. Einige unserer Leute zogen in andere Dörfer und aus andern Dörfern kamen manche zu uns, so daß wir schon eine schöne Zahl von Menschen waren. Wir hatten unsere sonntäglichen Andachten und Sonntagsschulen. Es wurde auch ein Chor gegründet. Da die deutsche Regierung sich immer fester setzte, gab es auch für unsere Kinder Gelegenheiten zum Arbeiten, was uns sehr mithalf. Es wurden ein Altenheim, ein Krankenhaus und ein Kindergarten eingerichtet. Der Lohn war Geld, und auch ein Recht auf gewisse Produkte. Da die Kollektive aufgelöst waren, so mußte jede Familie Land zum Bebauen nehmen. Die Norm war 12 Acker, aufs wenigste 6 Acker, und daß meiste 24 Acker. Auf sechs Acker gab es ein halbes Pferd und auf 12 Acker ein ganzes. Keiner konnte sein Land allein bestellen und wir waren genötigt, wieder mehrere Familien zusammenzugehen. Es schlossen sich meistens 4 bis 5 Familien zusammen. Im Herbst wurde noch alles, wie Winterweizen und Brache kollektivmäßig bearbeitet und im Frühling bekam jeder seinen Streifen Land abgeteilt. Es gab in diesem Jahr sehr viel Aepfel und Birnen, trotzdem die Gärten nicht gepflegt waren. Weil in Rosenort auch einige Bauern zurückgekommen waren, (vom Sowjet waren sie vertrieben) und auf ihre Wirtschaften kamen, so konnten wir auch zu Aepfeln kommen, und jeder sah zu, sich zum Winter einzurichten. Einige Male hat es auch Kleider und Bettzeug von der Regierung gegeben für die, welche es am nötigsten gebrauchten. So kam der Winter und mit ihm Weihnachten, aber unsere Lieben kamen nicht. Ach, wie haben wir oft sehnsüchtig gewartet, einen Tag nach dem andern, aber immer vergebens, niemand kam. In einem großen Hause hatten wir unsem heiligen Abend. Es waren Lieder und Gespräche eingeübt. Es wurden auch Kuchen gebacken, wozu die Russen auch das Ihrige gegeben hatten. Wir durften in Ruhe und Stille das liebe Fest feiern, weil der Heiland für uns arme Sünder in die Welt gekommen ist. Mit großer Dankbarkeit durften wir in das Lied: “Stille Nacht, heilige Nacht” einstimmen. Manch verstohlene Träne rollte über die Wangen. Aus dem Jahr 1942 wurde das Jahr 1943. Auch wir durften ins neue Jahr hineingehen, doch mit bangen Fragen, weil der unselige Krieg noch immer kein Ende nahm. Was wird uns dieses Jahr bringen? Weil der Mensch geneigt ist, immer das bessere zu hoffen, so gaben auch wir uns der Hoffnung hin, einmal muß der Krieg auch zu Ende gehen. Doch Gott sei Dank, daß es uns Menschen nicht möglich ist, 295 den Schleier zu lüften, und wir alles, auch unsere Zukunft, unserm himmlischen Vater anvertrauen dürfen. N. Enns, der nach Hause gekommen war, konnte uns, so wie wir es gehofft hatten nicht gleich als Prediger dienen. Er war ziemlich leidend und mußte eine geraume Zeit im Hospital Zubringern Doch mit Gottes Hilfe genas er. Im neuangetretenen Jahr konnte er uns mit dem Worte Gottes dienen. Es gab auch andere Predigerbesuche und wir hatten oft schöne Stunden unter dem Wort Gottes und wurden getröstet und gestärkt. Es war Mitte Januar, da kam die Kunde, daß hier in Tiege viele Flüchtlinge untergebracht werden sollten. Sogleich wollte sich unser eine Angst bemächtigen, ob es auch bis uns wieder kommen könnte, aber wir wurden von der Regierung so beruhigt, indem sie sagten, daß keine Gefahr vorhanden sei. Es waren wohl 800 bis 900 Mann mit Frauen und Kindern. Es wurden drei Küchen eingerichtet, in welchen wir Frauen mithalfen beim Kochen. Wir wurden bezahlt und durften auch mitessen. Das war eine drocke Zeit. Dann mit einem Male hieß es, das Altersheim mußte weitergebracht werden, es wäre nicht ein passender Platz hier für die Alten. Das Altersheim wurde abtransportiert. Die andern Lager wurden auch langsam aufgelöst und Anfangs April fuhren die letzten weg. Das heißt, bis auf einige Kranken, die nicht fahren konnten. So war es in unserm Dörfchen wieder still und ruhig. Onkel F. Warkentin, der schon längere Zeit leidend war, wurde nach Halbstadt ins Krankenhaus gebracht, von wo er als Leiche nach Hause gebracht wurde. Er schaut jetzt, was er geglaubt hat. Er war ein geduldiger Kranker. Sein Begräbnis war im Februar. Wir hatten jetzt zwei unserer Lieben zu Grabe getragen. Der Frühling hielt Einzug und wir waren alle fleißig im Garten, um alles wieder einzusäen. Doch wie ich schon erwähnte, daß oft aus einem Hause ins andere übergezogen wurde, so machten auch wir drei Schwestern einen Umzug. Es war ein schönes, großes Haus, in das wir einzogen. Wir hatten jeder 2 Zimmer und eine Küche zur Verfügung, einen großen Keller und einen großen Obstgarten. Der Obstgarten war ganz verwildert und wir brauchten Wochen, um ihm das Aussehen eines Gartens beizubringen. Unsere Arbeit lohnte uns der liebe Gott. Wir haben reichlich Kirschen gepflückt, nach Herzenslust gegessen und viel getrocknet. Aepfel und Birnen waren weniger, dochwohl, weil sie im vorigen Jahr sehr getragen hatten. Während des Umzuges erkrankten Schwester Olga ihre beiden Mädels. Am Anfang dachten wir, sie seien erkältet, weil sie beide an einem Nachmittag erkrankten. Doch sehr bald sahen wir, daß es eine ernste Krankheit sein mußte. Im Dorf befanden sich immer deutsche Krankenschwestern. Wir baten eine zu uns und sie sagte, es sei Lungenentzündung. Es folgten bange und schwere Wochen. Die Schwester gab Anordnungen und wir befolgten sie, und beteten für die 2 zarten Leben. Das Fieber stieg sehr hoch und wir haben manche Stunde des Nachts gewacht mit Bangen und Sorgen. Der himmlische Vater war gnädig und die Kinder konnten genesen. Ostern durften sie schon etwas im Zimmer umhergehen. Die kleinste hatte das Gehen verloren und sie mußte es von neuem lernen. Wir dankten Gott, daß wir in ihm Zuflucht und Erhörung fanden. Ja, Gott ist gut. Da es immer mehr Einwohner gab, bei uns und auch in den Nachbardörfern, sahen wir ein, daß wir ein Gotteshaus brauchten. Die Zusammenkünfte in den Privathäusem wollte man nicht leiden. Man stellte uns vorläufig einen gewesenen Laden zur Verfügung. Dann kamen wir bei der Regierung um Erlaubnis ein, uns ein Haus zur Verfügung zu geben, welches wir zu einem Gotteshaus einrichten durften. Wir erhielten solches, doch nicht ohne Kampf. Weil unter uns verschiedene Religionsrichtungen waren. Wo ein Gotteshaus von einer Regierung bestätigt werden soll, da muß eine Gemeinde sein, die das Haus für sich bestätigt haben will. Als wir unsere zeitweiligen Ausweise von der Regierung in Tiege holen sollten, da stieg die Frage auf, wie wir uns nennen wollten. Einige meinten, wir sollten uns Mennoniten nennen, andere sagten, der Name ist den regierenden Personen unbekannt. Wir beschlossen uns evangelische zu nennen. In Lindenau wohnte ein Bruder Ballau, der ein ordinierter Prediger war. Außer ihm war noch ein alter Onkel Peters, der auch ordiniert war. Wir hatten das Verlangen, das heilige Abendmahl zu genießen. Doch nach unserm verflossenen Leben in den Kollektiven waren wir nicht rein. Wir durften so nicht an den Tisch des Herrn treten. Davon waren wir alle mehr oder weniger überzeugt. Es wurde ein Abend bestimmt und Gelegenheit gegeben, sich über sein vergangenes Leben vor Gott und Menschen auszusprechen. Wir taten das und dankten unserm Gott, daß 296 wir in dieser Weise vor ihn treten durften und er uns in Gnaden wieder annahm. O, sein Erbarmen ist so groß mit uns Menschenkindern. So wurden die, welche sich aussprachen und selbiges anerkannt wurde, Glieder der neuen Brüdergemeinde. Es kamen immer mehr Aussprachen und unser Gott und Heiland fand auch Sünder, die sich dem Heiland übergaben. Wir haben manche Segensstunde, auch manche Kämpfe durchlebt. Der Frühling wich dem Sommer und die Ernte stand vor der Tür. Wie freuten wir uns, den Weizen, ja alles was wir einbrachten, unser eigen zu nennen. Unser Herz floß über, voll Lob und Dank. Wir hatten Ursache zu danken, nachdem wir gedarbt hatten. Unser Gotteshaus war fertig. Im Sommer durften wir zwei Mal Tauffest feiern; das erste Mal am 20. Juli und das zweite Mal am 20. August. Aus unserm Tiege waren das erste Mal 3 Seelen und das andere 11 Seelen. Darunter waren auch meine Töchter, Anny und Gredel. Es hatten sich viele frisch aufgemacht und manche Seele hatte Frieden gefunden. Wir dankten unserm Gott und wir hatten ein ganz schönes Häuflein, welches wir unsere Gemeinde nennen durften. Unser Gotteshaus weihten wir ein. Wir hatten einen Chor und aus den andern Dörfern kam noch ein Chor zu unserm Einweihungsfest. Der Gastchor diente mit Musik, bestehend aus geistlichen Liedern. Es waren auch auswärtige Prediger gekommen und wir hatten einen schönen, gesegneten Sonntag. Die Gäste wurden in den Häusern bewirtet. Vormittag, auch Nachmittag wurde gefeiert. Wir gingen alle erquickt auseinander. Die meisten waren zu Fuß gekommen, denn Pferde waren wenig vorhanden. Die Pferde mußten Sonntags ruhen, weil sie an den Wochentagen schwer arbeiten mußten. Immer bei all der Freude stieg die bange Frage auf: “Werden wir bleiben und im kommenden Winter unsere schöne Ernte genießen dürfen?" Die Böden wurden gesäubert und gefegt, und wir hatten ein jeder sein Häuflein Korn, Gerste, Weizen und Hafer liegen. Jeder hatte eine Kuh und ein Kalb, ein Ferkel oder ein Schwein. Die Ferkel bekamen wir noch vom Kollektiv für einen billigen Preis. Wer im vorigen Herbst eines erhalten hatte, das war schon gro߬ gewachsen. Wer im Sommer eines erhalten hatte, das war noch nicht fertig zum Schlachten. Ein jeder freute sich zu dem, was er erhielt. Es gab aber auch manchen Mißton. Die Kartoffeln, die wir zu Hause im Gemüsegarten gepflanzt hatten, waren schon ausgegraben. Die auf den Feldern waren noch nicht. Jetzt gings ans Sonnenblumen schneiden. Jede Gruppe arbeitete zusammen und schnitt die Sonnenblumen gleich in den Wagen hinein. Jeder Familie wurde zu Hause das ihrige in Haufen geschüttet. Jede Familie hatte ihre bestimmte Reihe. Wir hatten sehr günstiges Wetter und freuten uns, alles bei gutem Wetter einbringen zu können. Jetzt würden wir mal unser eigenes Oel haben. Wir haben früh und spät gearbeitet. Den letzten Tag. es war noch ein bischen zu schneiden, da kamen schon verschiedene Nachrichten, aber wir wollten es nicht glauben. Diejenigen, welche die Sonnenblumen fuhren, kamen ins Dorf und immer wenn sie von dort kamen, gab es war zu hören, aber nichts Bestimmtes. Wir wollten an dem Tage das Schneiden fertig machen, was wir auch taten. Es ging aber zuletzt mit großem Bangen. Was wird es geben? Als sie den letzten Wagen holen kamen, sagten sie: Die Deutschen können sich nicht länger halten. In zwei Tagen sollen wir fertig zur Reise sein. Es war spät geworden, bis wir nach Hause kamen. Jeder hatte sich auf sein Häufchen Samen gefreut. Noch morgens fuhren wir froh aus und abends standen wir an unserm Häufchen mit starrem Herzen. Wieder sollen wir liegen lassen, was wir uns mit Schweiß erworben, und in den Winter hinein: wie bangte unser Herz. So müde wir auch waren, aber wir konnten lange keinen Schlaf finden. Dieses war am 9. September 1943. Am andern Tag gab es andere Sorgen. Des Morgens früh war eine beratende Versammlung, zu der jede Familie einen Mann schickte. Dort wurde gesagt, daß jede Familie einen Wagen mit einem oder mit 2 Pferden erhalten würde. Man solle das Nötigste mitnehmen; doch nicht zu schwer laden, denn es gebe schwere Wege. Wir wuschen und backten, aber hatten noch nicht viel Mehl gemahlen, aber erhielten von der Wirtschaft. Als wir das erste Mal packten, hatten wir noch unsere Männer bei uns, aber jetzt mußten wir Frauen allein unser Recht behaupten. Es war sehr schwer für uns. Wir mußten uns die Wagen und Pferde auskämpfen, aber es wurde alles; wie, das kann ich hier nicht alles zu Papier bringen. Aber viel, sehr viel haben wir Frauen mitansehen müssen, wo die Frauen ganz allein waren. Doch Gott ist ein Vater der Witwen und Waisen und er half auch 297 uns. Ich lief von einem Haus ins andere und bat, ob nicht jemand so gut war und kam, unsere Schweinchen stechen. Sie waren von 100 bis 150 Pfund schwer. Nur stechen, aber überall Absage. Da nahm meine älteste Tochter sich ein Herz und stach sie und nahm sie auch aus. Es ging. Es wurde eingepackt und wieder ausgepackt. Man wollte das Nötigste mitnehmen und so viel wie möglich. Am 12. September, 2 Uhr morgens sollten wir alle zur Stelle sein. Die Wagen sollten sich alle einfinden und in geraden Reihen, den Nummern nach sollten wir abfahren. Es wurde aber anstatt 2 Uhr morgens erst 12 Uhr mittags. Beim Krankenhaus mußten wir noch lange warten und dort fanden die Jungen noch Sielen und ich erhielt noch ein Pferd, denn wir hatten ein krankes Pferd. Jetzt bekamen wir zu dem kranken Pferd noch ein lahmes. Wir spannten es nicht ein, sondern banden es nur an, in der Hoffnung, daß es gesund werden könnte. Unsere Kühe nahmen wir alle mit. Vom ersten Tag an mußten wir für die Pferde und für die Kühe Futter besorgen. Damit endete unser Leben in Tiege. Unsere Flucht von Tiege bis zum Warthegau Unsere Flucht aus Tiege war doch eine ganz andere als die Flucht aus unserer Heimat. Sie gestaltete sich ganz anders, als jene. Fuhren wir dort mit dem Zuge, hier fuhren wir mit Pferden. Die Reisegesellschaft war ebenfalls eine ganz andere. Dort waren wir nur unser Dorf, jetzt waren viele Menschen dabei und von den Unserigen waren wohl nur 10 bis 12 Familien dabei. Die andern waren im Zug mit uns bekannt geworden. Unsere Wagen mußten sich alle beim Krankenhaus in Orlof sammeln. Unser Bürgermeister und ein deutscher Kommandant waren unsere Führer. An sie sollten wir uns wenden, wenn uns etwas fehlte, oder etwas nicht in Ordnung war. Ich muß sagen, Tiege haben wir wohl keine Tränen nachgeweint, weil Tiege uns in dieser Zeit nicht zur richtigen Heimat geworden war. Es tat uns leid, daß wir es auf solche Art verlassen mußten, denn wir waren sehr besorgt, was uns die Zukunft bringen würde. Allein das Wort Flucht bewirkt keine angenehmen Gedanken. Am 12. September 1943, um 12 Uhr mittags, verließen wir Tiege. Es regnete schon etwas, als wir noch standen und es wurde stärker, was zur trüben Stimmung beitrug. Der Weg wurde sehr schwer und wir kamen nicht weit. In einem russischen Dorf machten wir Halt. Hier wurden wir in die Häuser verteilt. Morgens wurden alle Wagen aufgerufen und es wurde nicht weiter gefahren, bis alle beisammen waren. Am andern Tage hatten wir günstiges Wetter und wir konnten die Reise leichter fortsetzen. In den ersten Tagen ging alles ganz erträglich. Wir erhielten Futter für unser Vieh und hatten auch zu essen. Eine große Erleichterung waren für uns die Kühe. Wir hatten immer unsere eigene Milch, was besonders für die Kinder vorteilhaft war. Sie brauchten dadurch nicht verschiedenes Wasser trinken, um so mehr, da einige Durchfall hatten. Wohl eine Woche lang ging die Reise ziemlich gleichmäßig voran, nur daß bei einigen die Lebensmittel ausgehen wollten. Die Aufnahme in den russischen Dörfern war nicht immer sehr freundlich, aber wir fanden auch Mitleidige. Nach einer Woche erreichten wir unsere Küche. Sie war voraufgefahren. Hier erhielt jede Familie nach ihrer Personenzahl Brot, Wurst, Butter und Käse zugeteilt. Unser Transport hatte sich in dieser Woche sehr vergrößert, weil immer mehr aufbrechen mußten. Da in den meisten russischen Dörfern noch die Kollektive bestanden, waren in denselben große Küchen eingerichtet. Wenn wir in solchen Dörfern über Nacht standen, dann erhielten wir immer eine Milchsuppe, Borscht oder auch andere Suppen. Die Mehrheit mußte draußen nächtigen, nur für die Frauen mit kleinen Kindern wurde Raum in den Häusern gemacht. Ich muß sagen, auf dieser Flucht haben wir nicht so gehungert wie auf der ersten. Wenn es auch manchmal schwer war, so hat man sich doch viel Mühe mit uns gemacht. Das muß man unsem Führern lassen. Aber mit unserm Vieh, das war ein wunder Punkt. Wenn wir an Maisfeldem vorbeifuhren, dann ging ein jeder hin und pflückte, so viel er konnte in einen Sack. Wenn der Sack voll war, wurde er ausgeschüttet und dann wurde wieder gepflückt. Wir sind niemals schnell gefahren, weil wir die Kühe bei uns hatten. Kamen wir an einen Strohhaufen oder Heuhaufen, dann gings mit Stricken dahin. Ein jeder schleppte große Bunde für sein Vieh zusammen. Die Kühe gaben ganz schön Milch. Hier werdet ihr jetzt wohnen, sagten unsere Führer zu 298 uns, aber das hat wohl niemand geglaubt. An den Sonntagen versammelten wir uns im Freien, wenn das Wetter es erlaubte. Bruder Ballau und Br. Enns predigten uns das Wort Gottes. Auch hier hatten wir schöne Stunden der Gemeinschaft. Einmal hatten wir sogar eine Gelegenheit, das Heilige Abendmahl zu unterhalten. Wie waren wir so dankbar, daß der Herr Jesus sich nicht an Ort und Zeit bindet, sondern daß er auch auf der Flucht uns sein Wort gab und wir aus demselben Trost, Mut, Glauben, ja alles, was wir im Kampfesleben brauchten, nehmen durften. Ja er sagt: “Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.” Mit dem Wasser war es hier sehr schlecht. Es war nur ein Teich vorhanden. Aus dem mußten wir unser Wasser schöpfen. In demselben badeten Menschen und Vieh und die Wäsche wurde auch darin gewaschen. Es sah manchmal sumpfig aus. Unser Vater im Himmel bewahrte uns, so daß niemand wegen dem Wasser erkrankte. Hier machten uns Gerhard und Arnold Buden auf unsere Wagen. Viele andere taten dasselbe. Erst waren wir dazu nicht fertig geworden. Wenn es wieder weiter ging, dann brauchten wir sie unbedingt, damit nicht alles verregnete. Ungefähr 3 Wocheh verbrachten wir hier. Am 16. oder 17. Oktober waren wir wieder reisefertig. Wir standen eine ganze Nacht und warteten, bis man "Los” kommandierte. Der Zug setzte sich morgens früh in Bewegung. Doch viele Männer waren nicht bereit zur Fahrt. Es stellte sich heraus, daß sie noch den Kooperativ geplündert hatten. Unter dem Geraubten war unter andern Sachen viel Wein. Unsere Jungens brachten uns etwas Wein und jedem 5 bis 6 Köpfe Käse. Wir freuten uns über den Käse, er war uns viel wert. War die Reise bis Safonowa ganz erträglich gewesen, so war die Reise von hier weiter bis zur nächsten Haltestelle sehr schwer. Mit dem Futter wurde es immer schwieriger, so daß man mitunter dachte: Jetzt geht es nicht mehr. Wir hatten viel Regen und die Wege wurden beinahe unfahrbar. Wir mußten solche Berge und Täler passieren, daß es uns heute noch schaudert, wenn ich daran denke. Jetzt kamen von vielen Seiten Trucks, weil es Stellen gab, an denen nur ein passierbarer Weg war und es gab Versäumungen an solchen Stellen. Wer zuerst bei solcher Stelle war, der fuhr mit seinem Transport zuerst und die Trucks mußten warten. Wir haben mitunter ganze Tage gewartet und kamen nur wenig vorwärts. Mitunter brachen die Räder. Gut, wenn man solches Unglück in der Nähe eines Dorfes hatte. Aber wenn es auf der Steppe oder im Wald passierte, dann blieb man zurück und der Treck fuhr weiter. Das Schlimmste dabei war, daß man den Treck verlieren konnte, was auch vorgekommen ist. Wir hatten 2mal mit unserm Wagen Unglück. Es war aber auch immer ein Glück dabei. Einmal brach ein Rad, als wir durch ein Dorf fuhren. In dem Dorf war ein großer Wirtschaftshof und auch eine Schmiede. Man sagte uns, geht, sucht die Wagen durch, und wenn ihr ein passendes Rad findet, dann nehmt es. Sie waren alle zu groß, und wir gingen zur Schmiede. Daselbst waren deutsche Soldaten. Sie sagten: “Den Frauen müssen wir helfen.” Sie suchten ein Rad, brachten alles in Ordnung und sagten dann: “Jetzt könnt ihr wieder fahren”, und nahmen keine Zahlung dafür. Wie dankten wir unserm Herrn für seine Durchhilfe. Nach einigen Stunden hatten wir unsem Treck wieder eingeholt. Wir blieben in solchen Fällen niemals allein zurück. Gerhard oder Arnold blieben bei uns. Das andere Mal war eine Achse ausgebrannt. Dann mußten wir in einer großen Schmiede bis 6 Stunden warten. Sie hatten viel Arbeit, so sagten sie in der Schmiede. Als Annie aber sagte: “Wir bezahlen”, dann war auch unser Rad bald fertig. Viele Seufzer stiegen bei solchen Gelegenheiten empor. Doch unser Herr half immer. Mitunter fuhren wir morgens so früh los, daß wir die Hand vor dem Gesicht nicht sehen konnten. Dann blieben wir in einer Reihe. Viele gingen an der Seite der Wagen, damit alle glücklich fuhren. Wir sind auf sehr schlechten Wegen gefahren, und zudem ein Wagen dicht hinter dem andern. Von Safonowa bis zur nächsten Haltestelle passierten wir eine sehr gebirgige Gegend. Wenn wir einen Berg hinunterfuhren, mußten die Wagen in Abständen voneinander hinunterfahren. Unsere Pferde waren so gut, daß sie uns immer den Berg hinaufzogen und sie haben uns immer hinaufgebracht, wie schwer es auch war. Ein mancher hat uns deswegen beneidet. Wenn es bergab ging, dann fürchteten wir uns jedesmal. Dann hoben die Pferde die Köpfe und wollten nicht weiter gehen. Was hat man dabei nicht alles erlebt! Oft ist uns vor Angst heiß und kalt geworden bei solcher Fahrt. Manche aus unserem Treck haben wir verloren. 299 Die Zeit blieb nicht stehen. Die Nächte wurden immer kälter und das Draußenschlafen war fast nicht möglich. Wenn es am Tage geregnet hatte, dann waren die Pferde gegen Abend müde, daß man sie nur mühsam weiter bekam. Unsere Strümpfe und Schuhe waren durchnäßt und selbst war man bis ans Kinn naß. Wenn es dann für die Nacht ein warmes Plätzchen gab, was nicht immer geschah, dann freuten wir uns sehr. Eines Abends kamen wir in ein Dorf, nachdem wir einen sehr schweren Weg hinter uns hatten. Pferde und Menschen waren sehr müde. Wenn jemandes Pferd nicht vor Ermüdung weiter konnte, dann half sein Nachbar ihm. Wir haben uns treulich beigestanden. Wir hatten an dem Tage das Glück, in einem Hause zu nächtigen. Die Wirtin des Hauses war mit ihrer Tochter zu Hause. Im Zimmer war es schön warm, wozu wir uns sehr freuten. Die Frau hatte am Tage Schnaps gekocht. Ihr Gerät dazu stand noch drinnen. Wir durften unsere Schuhe und Strümpfe auswaschen und trocknen. Die Frau fragte, ob wir Hunger hatten, dann wollte sie uns etwas zu essen geben. Wir sagten, wenn wir eine Tasse warmen Prips bekamen, wollten wir sehr dankbar sein. Sie brachte uns eine Schüssel voll Kartoffelbrei, saure Gurken und für jeden ein Glas Schnaps von Zuckerrüben gekocht. Die Kinder wollten nicht trinken. “Mama, wir dürfen doch nicht Schnaps trinken’’, sagten sie. Ich sagte: “Heute dürft ihr, ihr werdet dann schneller warm werden”, und wirklich, er hat uns allen nur gut getan. Beschwerlich war es mit den Pferden wegen dem Futter. Annie hatte sich unterwegs so müde gemacht mit den Pferden, darum sagte ich zu ihr: “Schlafe, ich werde die Pferde besorgen. Die Wirtin gab uns eine Garbe Maisstroh, Heu hatten wir noch. Das alles legten wir in den Futtertrog, den wir hinten am Wagen befestigt hatten. Die Pforten am Hof hatten wir geschlossen. Nun können wir schlafen, dachte ich. Da ruft die Frau: “Tante ein Pferd fehlt bei ihrem Wagen.” Ich ging hinaus, es war finstere Nacht. Wo soll ich das Pferd suchen? Hinten am Hof war auch eine Pforte, sie war offen, Gott hilf mir, damit ich es finde. Dann ging ich Nachts im fremden Dorf mein Pferd suchen. Was gingen einem dann nicht alles für Gedanken durch den Kopf. Ich fand es bald bei einem Heuhaufen. Ich rupfte mir so viel Heu heraus, wie mein Arm tragen konnte. Dann nahm ich das Pferd beim Zügel, führte es zum Trog und band es an. Das mitgebrachte Heu legte ich in den Trog und ging ins Haus um zu schlafen. Aber, o weh, ich war noch nicht eingeschlafen, da rief die Frau schon wieder. Ich ging jetzt schon sicher den Weg, den ich vorher gegangen war. Hatte mir diesesmal einen Sack mitgenommen. Inzwischen war der Mond aufgegangen und es war nicht mehr so finster. Mein Pferd stand jetzt bei einem Haufen Zuckerrüben. Ich steckte davon, so viel ich tragen konnte, in den Sack, ging auch noch zum Heu und nahm da auch etwas. Dann ging ich mit meinem Pferdchen wieder zurück. Dieses mal hatte ich genug gestohlen und ich konnte auch noch etwas schlafen. Solche und ähnliche Geschichten gab es viele. Jede Familie konnte nach einer Nacht irgendeine Begebenheit erzählen. Die Ukraine ist nach Polen zu sehr gebirgig und wir mit unsern Wagen mußten diesen Weg fahren. Wir mußten oftmals unseren Reiseplan ändern, weil sich der Weg immer mehr zutat, und darum kamen wir auf solche unfahrbaren Wege und doch waren wir im Vergleich mit den Städtern, die auf den Zügen fuhren in mancher Hinsicht im Vorteil. Kamen wir auf einem Wege nicht weiter, dann nahmen wir einen andern, wenn es auch manchesmal ein Umweg von 40 bis 50 Meilen war. Am 17. November kamen wir in einem russischen Dorf, Teremkoze an. Die Lage dieses Dorfes war unserm gefahrenen Wege sehr ähnlich. Eine Hütte stand hoch oben, die andere tief unten. Wir waren froh, daß unsere Fahrt jetzt für einige Zeit ein Ende hatte. Der Bürgermeister sagte zu uns: Ein jeder soll ins Dorf gehen und sich ein Quartier suchen. Die Einwohner des Dorfes hatten schon Tage vorher Befehl erhalten, eine bestimmte Zahl Häuser leer zu machen. Ich habe die Zahl vergessen, aber es waren viele. Es war ein sehr großes Dorf. Wir fanden alle Quartier. Wir bekamen ein ganz schönes Haus. Bewohnten ein großes Zimmer, in dem sich ein großer russischer Backofen (Pietsch), ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, eine Bank und ein Webstuhl befanden. Die Wirtsleute von dem Haus, welches wir bewohnten, baten den Komandanten, ob sie nicht dürften ins hintere Zimmer ihres Hauses zurückziehen. Sie brauchten ja dann nur durch den Flur der Einwohner gehen, wenn sie in ihr 300 Zimmer gehen wollten. Er versprach auch, uns beim Holzholen behilflich zu sein. Daraufhin erhielt er die Erlaubnis zurückzuziehen. Es waren ganz gute Leute. Sie hatten große Angst davor, wenn die Deutschen sollten zurückgehen. Doch es waren auch andere Elemente unter ihnen, und wir mußten immer Nachtwache haben. Weil wir ein ziemlich großes Zimmer hatten, waren die Andachten immer bei uns, am Sonntag, auch in der Woche die Bibelstunden. Doch erst mußten wir uns alle ohne Ausnahme einer gründlichen Reinigung unterziehen. Weil wir uns zur Nacht einen ganzen Monat lang nicht ausgezogen hatten, hatten wir viele Parasiten bei uns. Hier war Wasser und ein Plätteisen. Es wurde gebadet, gewaschen und geplättet und so wurde dem Uebel abgeholfen. Ein jeder mußte Zusehen, wie er das Holz aus dem Walde zu seiner Wohnung hingeschafft bekam. Schwer war es da, wo Frauen waren. Die Bäume mußten gefällt werden. Unser Wirt fuhr mit Annie, Toewsen Gerhard oder Arnold Teichrieb mit. Ich war immer froh, wenn der Wagen beladen auf den Hof kam und alle munter waren. Es galt viel zu beten und es war ein anderes Beten, als wenn alles gut eingerichtet ist und wie am Schnürchen abläuft. Dann denkt man gamicht daran, daß es auch mal anders sein könnte. Wie oft haben wir uns das gesagt. Wir Tschongrawer sind hier in Termkowze und das können wir einfach nicht verstehen. Nun, wir nicht, aber Gott in seiner großen Liebe wußte schon dann, was er mit uns vorhatte. Die Zeit blieb auch hier nicht stehen und es verging ein Tag nach dem andern und das Weihnachtsfest kam heran. Unsere Kinder hatten schon unterwegs, trotzdem sie nicht wußten, wo und wie wir Weihnachten feiern würden, wenn einige von ihnen zusammen waren, Weihnachtslieder gelernt. Wir erhielten hier die Verpflegung nach Personenzahl, mußten sie von der Komandantur holen. Es gab etwa 200 Gramm Marmelade auf drei Personen, 200 Gramm Fett, 450 Gramm Wurst oder Fleisch, 300 Gramm Zucker, Brot, bis 3 große Brote per Woche. Kartoffeln erhielten die meisten von den Bauern, auch saure Gurken und Sauerkraut. Ach, das schmeckte dann. Eine große Auswahl gab es nicht, aber wir hatten immer was zu essen. Es gab auch Grütze, Erbsen und Bohnen, auch etwas Mehl. Es wurde von dem Wenigen das wir hatten, für Weihnachten gespart, um Weihnachten doch etwas festlich zu gestalten. Wir hatten auch Zuckerrüben erhalten, und die meisten hatten sich etwas Syrup davon gekocht. Wir wir es alles machten, will ich hier nicht erwähnen, weil es sehr primitiv zuging. Wir freuten uns königlich zu dem bischen Süßen, das in unsere Küche kam, denn Schmalhans war ja doch Küchenmeister. Im Dorfe war elektrisches Licht. Die Maschinen wurden mit einer Turbine betrieben. Wir hatten sehr schlechtes Licht. Wenn viel Wasser war, dann war das Licht gut, wenn aber wenig, dann saßen wir im Dunkeln. Wer weit ab von der Turbine wohnte, bei dem war der Strom zu schwach. Wir hatten dann Oel oder Talg brennen. Oel erhielten wir manchmal anstatt Butter. Den Talg tauschten wir uns für trockenes Obst ein. Manchmal erhielten wir auch etwas von guten Leuten. Wenn wir auch alle auf der Flucht waren, so waren wir doch nicht alle gleich arm. Wir hatten in unserer Mitte eine Lehrerin. Sie sammelte Schüler und erteilte ihnen Unterricht. Es wurden Gedichte und Lieder zu Weihnachten gelernt. Die ältere Jugend versammelte sich auch und übte Lieder. Weil mein Zimmer für solches Fest zu klein war, baten die Leute bei der Kommandatur um einen größeren Raum. Es wurde uns ein Raum zur Verfügung gestellt. Aus dem nahen Walde wurde eine schöne Tanne geholt. Aus buntem Papier wurden kleine Sachen gemacht, um den Baum damit zu schmücken. Wir hatten auch Prediger in unserer Mitte. Jede Mutter versuchte, auf irgend eine Art, mit einer Kleinigkeit ihren Kindern eine Freude zu machen, mit einigen Kuchen oder mit selbstgekochten Bonbons. So kam das heilige Weihnachtsfest heran. Alles eilte nun zu unserm geschmückten Raum tun 24. Dezember 1943. Zum Sitzen hatten wir Bretter gelegt. Wer konnte, brachte Stühle oder Bänke mit, von denen ein jeder in seinem Zimmer hatte. Wir verlebten einen schönen, segensreichen Abend. Ja, der Herr segnete auch hier. Die schönen, lieblichen Weihnachtslieder erfreuten und berührten unsere Herzen so eigentümlich. Ein jeder von uns hatte Lieben, von denen man nicht wußte, ob und wo sie lebten, darum war alles auch mit Schmerz verbunden. Wir hatten auch Andachten in den Feiertagen. Wir hielten auch Gebetsstunden zu Anfang des Jahres ab, in denen wir unserm Vater all unser 301 Leid, unsere Lieben und unsere Zukunft anvertrauten. Wir wurden gestärkt und aufgemuntert, fester im Glauben zu stehen und unserm Herrn alles zu überlassen. Nach den Feiertagen wurde es in unserm Lager unruhig und es wurde viel gesprochen, ob es nicht bald wieder ans Reisen gehen würde. Wir wollten unserm Herrn auch darin vertrauen. Hatte er uns im verflossenen Jahr geführt, so würde er uns auch anno 1944 nicht verlassen. Mit dem Futter für die Pferde und der Kuh wurde es ziemlich schwer, sowie auch mit dem Tränken. Es war kalt und glatt. Zum Tränken mußten wir das Vieh zum Fluß treiben oder an die Brunnen. Zum Fluß war schwer hinzukommen, weil der Weg dahin hügelig und glatt war. Die Brunnen waren sehr tief und hatten so große Eimer, daß es für eine Frau sehr schwer war, damit umzugehen. Unser Pferd war ja von Anfang an lahm, hatte sich aber auf der Reise gut bewährt, doch bei diesen Verhältnissen wollte es nicht mehr gehen. Es fiel eines Tages hin und wir konnten es nicht aufheben. Es fiel immer wieder hin, weil die ganze Straße Eis war. Wir baten dem Bürgermeister und er machte auch Versuche, aber es wurde nichts daraus. Dann nahm er eine Flinte und erschoß unser Pferd. Die Kinder schleppten es weg und lederten es ab. Dieses Leder verkaufte ich auf einem Basar (Markt) für 2,200 Rubel. Der Basar war an einem Sonntag. Jetzt hatten wir noch ein Pferd und eine Kuh. Wir wußten nicht, ob unsere weitere Reise mit Wagen oder mit dem Zuge getan werden würde. Es wurde darüber verschieden gesprochen. Deshalb fingen wir daran zu denken, was weiter mit dem Vieh getan werden sollte. Wir wußten, wenn unsere Kuh gehen sollte, dann konnten wir sie nicht mitnehmen. Ich entschloß mich, selbige zu vertauschen. Sie sollte in kurzer Zeit kalben. Ich bot sie aus und es kam eine Frau und bot mir ein 5 Pud schweres Schwein für meine Kuh. Wir wurden uns handelseinig. Wir wollten ihr die Kuh hinbringen und dann das Schwein mitnehmen, wenn alles gut abging. Es waren 4 bis 5 Kilometer bis zu dem Dorf, wo die Frau herkam. Sie war auf einem Schlitten und nahm mich mit. Gerhard Toews und Arnold Teichrieb wollten die Kuh hinbringen. Ich habe auch hier gebetet, aber nicht immer geht es so, wie wir es gerne möchten. Wir warteten und warteten und immer kamen die Kinder nicht. Ich wurde schon unruhig. Da kommt einer von den Jungens und sagt: “Tante, die Kuh ist hingefallen und wir bekommen sie nicht auf”. Ich erschrak. Es war schon im Dorf, vielleicht 100 bis 150 Meter von der Wohnung der Frau. Im Geist hatte ich das Schwein schon zerteilt, usw. Wir kamen zur Kuh, aber aller Bitten und jeder Versuch, sie zum Aufstehen zu bringen war vergebens. Da kamen Männer aus dem Dorf und versuchten ebenfalls vergebens, die Kuh auf die Beine zu bringen. Dann redeten sie auf die Frau ein, und sagten zu ihr: “Was willst du mit einer lahmen Kuh. Dein schönes Schwein bringt dir mehr ein.” So ging es hin und her. Ach, dachte ich, hätt ich doch meinen lieben Jakob, dann brauchte ich dieses alles nicht durchmachen. Aber hier half kein Denken. Die Frau bot mir ihren Schlitten an, und die Männer legten die Kuh hinauf, und wir fuhren mit unserer Kuh nach Hause. Ich war den Menschen wirklich dankbar, daß sie mir halfen. Was hätten wir allein mit der Kuh angefangen? Wie werden wir aber die Kuh vom Schlitten herunter bekommen, so dachte ich: Zu Hause angekommen, sagte ich zu den Kindern: Laßt die Kuh sein, ich komme gleich. Ich holte einen Teller voll Hafer, halte ihr denselben unter die Nase und meine Kuh steht auf und folgt mir in den Stall, als ob sie immer gegangen sei. Ich habe sie später für ein Pfund Speck vertauscht. Solche Erlebnisse gab es auch. Unser letztes Pferd vertauschten wir für 7 Kilo Zucker. Nun dieses so nebenbei. Jetzt geht es wieder weiter. So wurde gesprochen und gedacht, einige Wochen lang. Dann hieß es am 25. Morgens: In zwei Tagen zur Weiterreise per Eisenbahn fertig sein. Das Packen hatten wir schon ziemlich ausgelemt. Am 25. Morgens waren unsere Sachen wieder gepackt und aufgeladen. Wir sagten auch diesem Ort, Termenkowze, “Lebe wohl”! Die Bauern vom Dorf mußten uns zur Bahn stellen, ungefähr 18 Kilometer. Es war ein frostiger, klarer Morgen. Viele nahmen ihre Kühe und Pferde auch mit. Die wurden auch in die Waggonne geladen. Eine bestimmte Anzahl Männer mußten in den Waggonnen bei dem Vieh sein, um sie zu besorgen. Wie waren wir, ich und Annie, froh, das wir mit dem Vieh auseinander waren. Aber unsem Wagen nahmen wir auch mit. Wir waren 40 bis 50 Personen in einem Waggon. Nicht alle Waggonne hatten Oefen und in denselben war es sehr kalt. So fuhren wir einen Tag, aber man versprach uns Oefen. Sie gingen zu den Vorgesetzten mit der Bitte um einen Ofen, den sie erhielten. 302 Dann hatten wir es warm und wir konnten uns Tee, Prips, eine Suppe oder Kartoffeln kochen. Natürlich, der Reihe nach, so daß jede Familie jeden Tag etwas warmes hatte. Den Brand für die Oefen suchten wir uns auf den Bahnhöfen zusammen. Anfänglich wollte man zuerst die älteren Leute und die Kinder vorauffahren und die jungen Menschen sollten dann später nachkommen. Einen Transport haben sie auch so abgeschickt. Es gab dabei soviel Tränen daß der Kommandant sagte: “Er hat es einmal getan, aber nicht mehr.” Er schickte lieber die ganzen Famüien zusammen. Sie erhielten eine beschränkte Zahl Züge, um uns weiterzubefördern. Nach 5 Tagen kamen wir in Litzmannstadt an. Das war schon an der andern Seite der Grenze Rußlands. In Litzmannstadt machten wir halt. Wir wurden alle auf Lastautos geladen und in die Stadt gebracht zur Entlausung. Große und Kleine mußten sich derselben unterziehen. Das wurde auf solche gemeine Art getan, daß man sich heute noch schämt, beim blossen Gedanken daran. Wir hatten hier ein großes Unglück. Einem Auto gingen beim durch einen Graben fahren die Seiten auseinander. Es gab einen großen Ruck. Die Stadt war finster. Die Menschen schleuderten aus dem Auto. Annie, die auch auf dem Auto war, war nichts passiert, nur einen Schuh hatte sie verloren. Einer Frau war ein Arm gebrochen und eine Rippe eingedrückt. Ein Mann war tödlich verwundet und ein junger Mann ziemlich beschädigt. Die Verunglückten wurden gleich ins Hospital gebracht. Die weniger beschädigten wurden verbunden und sie kamen wieder zurück. Dieses geschah des Nachts, von 7 Uhr abends bis 3 Uhr morgens. Dann fuhren wir wieder weiter. Um 10 Uhr morgens kamen wir in Eichenbrück an. Hier waren schon viele Städter erschienen, um uns zu beschauen. Man hatte sich wunderbare Geschichten über uns erzählt. Wir wurden hier abgeladen und sie waren sehr behilflich dabei. Wir durften nur die nötigsten Sachen zu uns nehmen. Die andern wurden alle zur Aufbewahrung in die Keller gebracht. Sie sollten desinfiziert werden. Uns führten sie in eine große Schule, in einen großen Saal. Zu beiden Seiten lag Stroh zum Schlafen. In der Mitte standen von einem Ende des Saales bis zu dem andern Ende Stühle und Tische zum Essen. Es war alles geregelt und es ging alles sehr ordentlich zu. Wir waren aber schon in verschiedene Häuser verteilt und waren nicht mehr alle zusammen. Wir waren hier einige Tage, wurden wieder entlaust und unsere Sachen, die wir bei uns hatten, wurden durch einen heißen Strom gelassen. Von hier kamen wir auf eine Nacht in ein Lager. Man gab uns ein schönes Abendbrot, auch wieder schönes, reines Stroh zum schlafen. Man sprach uns Mut zu und sie meinten, wir würden in Deutschland bald heimisch werden. Unser russisches Geld wurde hier in deutsches umgetauscht. Dies war im ersten Lager. Es waren alles nur Durchgangslager. Aus diesem zweiten Lager kamen wir ins dritte Lager. Es war ein Kloster. Hier waren wir eine Woche. Dann kamen wir ins vierte Lager. Wir wurden immer mehr voneinander getrennt, und wie weh war es uns ums Herz. Wir waren nicht mehr in Rußland, unserer lieben alten Heimat mit all unsem Lieben. Im ersten Lager erhielten wir unsere ersten Ausweise, wo man uns mit dem Namen: “Schwarzmeerdeutsche” getauft hatte. Das vierte Lager war in Zigerweide. Hier waren wir nur noch 6 oder 7 Familien. Von hier wurden wir schon zu den bestimmten Plätzen verteilt. Die Bauern kamen und beschauten sich die Ware. Endlich mußten wir denn doch zu jemand. Die Zahl war auf die Bewohner verteilt. Wir drei Schwestern kamen nach Ritscherheim. Frau Kopp nach Dombrun, zwei Kilometer von uns ab. Jakob Warkentin nach Elsenau, andere noch weiter. So waren wir im Verlauf von einigen Wochen alle verteilt und auseinandergekommen. Wir wurden von Herrn Jäger und Herrn Pahl geholt. Ritscherheim sollte jetzt unsere Heimat sein. Wir kamen auf einen Hof, ganz allein. Bekamen ein Haus zu bewohnen. Man hatte uns auch etwas Möbel hineingestellt. Frau Jäger hatte uns Prips gekocht und in der Küche stand ein Tisch, voll beladen mit verschiedenen Produkten. In Zigerweide wurde mit uns noch ein Abschiedsfest gefeiert, indem man uns schöne Zuckerkuchen und Kaffee spendierte. All die Eßwaren, die wir nicht gegessen hatten, wurden unter uns verteilt. Das Dorf mußte das Alles liefern. So kamen wir nach Ritscherheim. Als wir erst dort waren, ging Frau Jäger weg. Wir konnten jetzt weiterschaffen. Das war unser Einzug in Ritscherheim. Jetzt 303 endlich sollte unsere Reise, die wir am 12. September 1943 antraten ein Ende haben. Wir schrieben den 17. Februar 1944. Wir waren alle dem Herrn dankbar und von Herzen froh, endlich ein Heim zu haben und nicht mehr an Reisen denken zu brauchen. Aber wie sich unser Leben weiter gestalten würde, das lag uns manchesmal schwer auf dem Herzen. Doch wir hatten ja auch hier unserm himmlischen Vater. Er war bis hierher mit uns gegangen, und er würde auch ferner für uns sorgen, das war unser Trost. Ein Beweis dafür war der Tisch voller Unser Leben im Warthegau Es gab wieder einen neuen Abschnitt in unserm Leben. Hatten wir auch schon eine Aenderung in der Regierung erfahren, so waren wir bis dahin immer noch in unserer alten Heimat gewesen, nun aber waren wir von ihr getrennt und wir befanden uns jetzt auf deutschem Territorium. Das bewirkte ein ganz anderes Gefühl in uns. Die Menschen, die Lebensweise, die Sprache, alles war anders. Es hieß jetzt, sich ganz umstimmen und in die neuen Verhältnisse hineinpassen, was nicht immer leicht war. Wie ich schon vorher erwähnte, waren wir drei Schwestern nach Ritscherheim gekommen. Frau Kopp nach Fombrunn, eine halbe Meile von uns entfernt. Wir hatten ein Haus mit drei Zimmern, unten zwei und oben eins. Da wir aber sehr knapp mit Kohlen bestellt waren, entschlossen wir uns, in zwei Zimmern zu wohnen, was auch gut ging. In den ersten zwei Monaten haben wir nichts gearbeitet, nur gegessen und geschlafen. Wenn wir nach Arbeit fragten, dann sagte man uns: “Ihr sollt euch gut ausruhen und Kräfte sammeln. Nachher kommt die Arbeit.” Wir erhielten unsere Lebensmittelkarten und durften dann Einkäufe machen. Die meisten von uns hatten noch etwas Geld mitgebracht, welches man uns im ersten Lager umwechselte. Die Karten im Warthegau waren, außer Brot, reich. Wir waren überglücklich über das, was wir alles erhielten. Aber wir mußten es lernen einzuteilen. Wenn zu schnell verbraucht wurde, mußte man warten, bis wir neue Karten erhielten. Diese wechselten jeden Monat. Ich muß sagen, uns hat das nicht schwer gefallen. Wir hatten es bald gelernt. Es gab jeden Monat, aber in 4 Wochen eingeteilt, so daß man es uns wirklich leicht machte. Wir freuten uns immer und sagten, den nächsten Monat gibt es wieder. Das war eine schöne Einrichtung. Das muß wirklich gelobt werden. Die Leute vom Ort kamen uns beschauen und zu hören, was wir von Rußland erzählten. Manche saßen stundenlang und horchten zu. Nur wenige kamen mit leeren Händen. Ach, wie haben wir unserm himmlischen Vater für seine Fürsorge gedankt! Weil wir den Namen Schwarzmeerdeutsche hatten, dachten die Leute, weil wir vom schwarzen Meer kamen, seien wir alle schwarz. Einer unserer Bekannten, einer älteren Person, erging es wie folgt: Als sie an ihrem Ort angekommen war, kamen die Leute, sie zu beschauen. Nach einigem Betrachten, sagt eine Frau: “Ihr habt ja keine Hörner und Ihr seid ja auch gamicht schwarz! Sie sind ja so weiß wie wir, dann will ich Sie auch mit einem Kuß begrüßen und willkommen heißen!” Solche Vorstellungen hatte man sich von uns gemacht. “Ihr könnt ja gut deutsch sprechen, wo habt ihr das gelernt?” fragten sie. In der Schule, sagten wir. “Lernt man dort noch Deutsch?" Nicht alle. Ob es denn unsere Muttersprache ist? Nein, unsere Muttersprache ist das Plattdeutsch. Das konnten sie aber nicht verstehen. Nach einiger Zeit kamen Warkentins und Löwens in unsere Nähe. So waren wir schon wieder einige bekannte Familien zusammen. Es dauerte nicht lange, dann wußten wir, wo alle unsere Bekannten sich aufhielten. Manche von ihnen waren ziemlich weit ab. Als es Sonntag wurde, fragten wir, ob wir zur Kirche gehen durften, und wo eine war? “Ja eine Kirche haben wir. Wollt ihr denn noch zur Kirche? Wir besuchen die Kirche nur einige Male im Jahr”, war die Antwort. Wir sind in der ersten Zeit in die Kirche gegangen. Sie war groß und schön, aber es war alles Form, nichts herzliches. Wir suchten Gemeinschaft und wir fanden liebe Kinder Gottes. Die nannten sich “Freie Evangelische”. Sie beteten, sprachen 304 von Wiedergeburt, hatten die Kleinkindertaufe. Wir fühlten uns wohl unter ihnen. Es war geistliches Leben da. Nach einigen Monaten fanden wir aus, daß in Hohensalza eine Baptistengemeinde sei. Wir fuhren hin und fanden dort liebe Aufnahme unter der Leitung von Br. Eichhorst. Er hat uns das Wort treu und lauter gesagt. Er hat es auch gelebt. Er machte keinen Unterschied mit uns Flüchtlingen. Er ging mit uns zusammen in die Stadt Bromberg, trotz unserer mangelhaften Kleidung, worüber wir uns wunderten. Wir fühlten, daß er von der Liebe Gottes durchdrungen war. Er nahm die Zeit sehr ernst. Er sagte unter anderem: “Geschwister, kommt und betet an, nehmt die Zeit wahr, denn wir wissen nicht, wie lange uns dies noch vergönnt sein wird. O, möchte der Herr uns treu erfinden!” Wir haben mehrere Male die Versammlungen dort besucht. Es fanden sich dort viele Flüchtlinge zusammen, aus vielen Ortschaften. Hier durften wir auch ein Tauffest erleben, wo sich viele von unseren Flüchtlingen taufen ließen. Dieses Tauffest war ein segensreicher Sonntag und wir werden ihn wohl alle in unserm Gedächtnis behalten. Es wurden ernste Ansprachen, auch von andern Brüdern gehalten, die ich dem Namen nach nicht kenne. Br. Eichhorst taufte. Vor der Taufe sprach er noch sehr ernstlich, besonders zu den Täuflingen. Er sagte: “Liebe Täuflinge, ich kenne Euch nicht, aber Gott und unser Heiland kennt Euch. Ist jemand unter euch, der nicht alles mit seinem lieben Gott in Ordnung gebracht hat, oder vielleicht mit Menschen nicht alles geordnet hat, dann bitte ich abzutreten, auf daß ihr nicht noch größere Schuld auf Euch ladet. Seid ihr aber bereit, so will ich Euch von Herzen gern taufen.” Wir wurden nur als Gäste aufgenommen, weil wir Glieder der MB-Gemeinde waren. Wir durften auch das Heilige Abendmahl mit diesen Geschwistern halten. Die, welche von weiter ab zu dieser Feier gekommen waren, erhielten heißen Kaffee; die Stullen hatten sie sich mitgebracht. Wir hatten selige Stunden und wir fuhren gestärkt von dannen. Da wir auf der Heimreise eine größere Gruppe im Zuge waren, dann stimmten wir geistliche Lieder an und die Mitreisenden hörten gern zu. Da wir keine Möbel hatten, erhielten wir von der Regierung pro Familie einen Kleiderschrank. In einer Hälfte desselben waren Bretter für die Wäsche angebracht. Weiter erhielten wir einen Tisch, zwei Stühle und zwei Betten, je wie viel Personen in der Familie waren. Es gab auch Kochgeschirr, wie: Tassen, Teller, Gläser, Decken, und Wäsche, Kleider, Schuhe und Strümpfe. Wir mußten dasselbe alles von Eichenbrück holen. Das war auch nicht ohne Beschwerden. Der Kreis Eichenbrück war groß und hatte viele Flüchtlinge, und wenn man zu spät kam, geriet man in eine große Reihenfolge. Es nahm immer einige Zeit, bis man die nötigen Papiere bestätigt bekam und dann geschah mitunter, daß man im Warenraum zu spät kam und man mußte unverrichteter Sache nach Hause fahren. Die Möbel für uns holte Herr Pahl (so hieß einer unserer Wirte) von Elsenau mit seinem Wagen. Er sagte, wir seien nur Frauen, darum werde er uns helfen denn wir waren zu schüchtern, und würden ohne alles bleiben. So wäre es wohl auch geworden; er mußte sein Stück behaupten. Er war eine angesehene Person, und das war unser Glück. Unser andere Wirt war Herr Jäger. Elvira und Annie sollten bei Herrn Jäger arbeiten. Arnold und Gerhard bei Herrn Phal. Anneliese, Walter, Gredel und Bertha mußten zur Schule gehen. Bis 14 Jahre waren alle Kinder schulpflichtig. Wie in Deutschland ganz andere Regeln für die Kinder sind, so gab es auch mit unserm Plan eine Aenderung, darum mußten Elviera und Annie, weil sie schon älter waren die Haushaltungsschule besuchen. Sonst muß ein Mädchen, wenn es mit 14 Jahren die Schule beendet hat, ein Landjahr machen. Dann kamen zwei Landdienstjahre und nach ihnen kam die Haushaltungsschule. Wir wollten alle vier beim Herrn Jäger arbeiten, so blieben wir nur zwei Frauen, was ihm nicht sehr stimmte. Wir hatten ja auch nicht die Kraft, wie die jungen Mädchen. Schwester Olga hatte ja die kleine Annchen und weil die größeren Kinder bis 2 Uhr nachmittags in der Schule waren, konnte sie nur nachmittag auf Arbeit gehen. Sie arbeitete bei Herrn Phal. Anneliese und Walter besuchten die Schule nur bis Ostern, weil sie schon zu den älteren Kindern gezählt wurden. Gredel lernte weiter. Es war für unsere Schwarzmeerdeutsche Kinder nicht immer leicht in den Schulen, denn weil sie aus Rußland kamen, wurden sie oft scheel angeschaut. Doch viele von unsem Kindern gewannen die Herzen der Lehrer, als sie nach längerer Zeit den Lerneifer der Kinder erkannten. 305 Anfangs Mai fuhren Elvira und Annie nach Eichenbrück, um dort die Haushaltungsschule zu besuchen. Die Hackzeit kam heran und wir gingen fleißig an die Arbeit, von morgens 7.30 bis 7.30 oder 8 Uhr abends. Eine halbe oder eine ganze Stunde war Mittagspause. Ausgenommen die Tage, an denen wir etwas aus Eichenbrück zu holen hatten. Wir durften immer fahren, wenn es notwendig war. An den Sonntagen besuchten wir uns gegenseitig, gingen zur Kirche oder fuhren nach Hohensalza, wie ich schon erwähnt habe. Unsere Wirte waren gut, besonders Frau Phal. Sie brachte uns in den ersten Monaten jeden Sonntag einen großen Zuckerkuchen. Es waren freundliche Nachbarn im Dorf. Wir durften uns etwas Gemüse säen. Kartoffeln wollten die Bauern uns im Herbst lassen. Wir hatten einige Obstbäume auf unserm Hof und das Obst von ihnen durften wir benutzen. Ich muß sagen, wir hatten keine Lust zum säen. Wir befürchteten, wir würden es nicht ernten. Wenn wir dann mal unsere Meinung äußerten, wurde sie belächelt. Zum Sommer zog ich nach oben in das Dachstübchen. Es war ein freundliches Zimmer. Da der Boden vorne ziemlich geräumig war, richteten wir den Vorplatz zu einer Küche ein. Herr Phal hatte uns ein schönes Herdchen für 75 Mark gekauft, welches wir nicht bezahlen brauchten. So ging der Sommer ziemlich ruhig dahin. Wir hegten immer noch die Hoffnung, jemanden von unsem Lieben zu finden. Im August wurde es ziemlich unruhig. Von Litzmannstadt wurden Frauen mit Kindern nach Eichenbrück evakuiert, ebenfalls auch aus der Umgebung von Litzmannstadt. Man sagte, wenn der Kusse käme, dann seien wenigstens die Frauen und die Kinder in Sicherheit. In der Kartoffelernte wurde es immer unruhiger. Die Jungen mußten auf einige Wochen zum Schützengraben graben gehen. Arnold und Walter Toews, Gerhard wohl noch jung, aber groß und stark, wurden einberufen. Der arme Junge hielt sich sehr tapfer, um es seiner Mutter nicht schwer zu machen. Gesagt wurde, sie sollten nur lernen und dann kämen sie auf Urlaub für einige Zeit. Aber er ist nicht mehr gekommen. So ist ein mancher Sohn, der noch die Stütze der Mutter war, von ihr genommen worden. Ja, Gottes Wege sind wunderbar und unerforschlich, wie er regiert. Arnold Teichrieb und Walter Toews kamen zu Weihnachten nach Hause. Die Mädchen; Annie und Elvira durften jeden andern Montag nach Hause kommen. Ende Oktober wurden sie geprüft und bestanden sehr gut. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß die Kartoffelernte für uns sehr schwer war. Bei dem Tragen der schweren Körbe mit Kartoffeln wollte uns manchmal die Kraft versagen, besonders wenn es von den Launen der jungen Bauernsöhne abhing. Es war immer ein Tag anders, wie der andere und so kamen wir mit des Herrn Hilfe mit unserer Kraft fertig. Nach der Kartoffelernte kamen die Zucker¬ rüben, Kolrabie und Wracken an die Reihe. Diese Arbeit war aber bedeutend leichter als die mit den Kartoffeln und unsere Mädel waren dann schon zu Hause und halfen fleißig mit. Diese Arbeit zog sich ganz bis in den Winter hinein. Als es erst regnete und schneite, waren wir mit der Arbeit bei unsem Wirten fertig, dann gingen wir Frauen nicht mehr auf Arbeit, nur unsere Kinder gingen bei andern Bauern aushelfen. Es war ganz guter Verdienst. Dann fing es an zu frieren und zr schneien und nicht alle Bauern hatten ihre Rüben herausgebracht. Zu Weihnachten gab es Sonderzuteilung. Mehr Brot, Zucker, für Kinder bis 14 Jahren gab es Bonbons und Kakao. Es gab auch Gänse, Enten und Hühner. Auf drei Mann eine Ente, auf 5 Mann eine Gans usw. Natürlich mußte man Schlange stehen, aber das tat man gern. Wir wollten Weihnachten feiern wie wir es gewohnt waren. Das Auswärtsfahren hatten wir so mehr eingestellt, weil es kalt war und wir schlecht mit Mänteln bestellt waren. Die Kinder lernten Gedichte und Lieder. Es war sehr mangelhaft. Wir von Ritscherheim gingen nach Dombrann zu Frau Kopp und Frau Loewen. Sie hatten ein großes Zimmer und bei ihnen feierten wir den heiligen Abend. Wir lasen uns die Weihnachtsgeschichte, sangen gemeinsam einige Lieder und beteten. Die Feiertage vergingen ziemlich ruhig. Es schien so als sei alles ruhig. Mehrere Frauen von Litzmannstadt waren wieder zurückgefahren. In aller Stille feierten wir Silvesterabend und dann kam das Neue Jahr. Wir schreiben jetzt 1945, und immer ist noch Krieg. Wir schauten mit Bangen ins Neue Jahr hinein und baten unsem himmlischen Vater auch in diesem Jahr mit uns zu sein. Wir wußten nicht, was unser wartete, aber Gott sei Dank, daß uns die Zukunft verhüllt ist. Am 7. Januar mußte Arnold Teichrieb auf sechs Wochen nach Kämpen in den 306 Arbeitsdienst fahren. Es fiel ihm sehr schwer. “Mama” sagte er, “ich will mich beherrschen, aber es ist mir so sehr schwer.” Er ist nicht wiedergekommen. Walter mußte noch einmal am 10. Januar auf eine Woche weg. Am 17. Januar kam er zurück. Da Annie nicht sehr gesund war und sie die schwere Arbeit nicht machen konnte, suchten wir nach einer Arbeit, die für sie leichter war. Wir haben die Sache mit Herrn Jäger besprochen. Wir nahmen die Sache auch ins Gebet. Da bot sich ihr eine Stelle als Gehilfin im Landdienstjahr für Jungen. Es war nur 19 Meilen von uns entfernt, es war aber im Dietfurter Kreis in dem Dorfe Sonnbruck, 5 Kilometer von Dietfurt ab. Sie schrieb hin und wurde angenommen. Montag früh morgens ging sie zusammen mit Gredel zum Bahnhof und fuhr ab. Es war am 15. Januar. Ich habe so geweint. Da sagt sie: “Mama, ich weiß nicht warum es dir so schwer fallt. Mir ist gamicht bange. Wenn irgend etwas passiert, dann telephoniert ihr und ich bin gleich zur Stelle.” Den 18. Januar erhielt ich einen Brief von ihr, indem sie ihre Ankunft und ihre Arbeit beschrieb und mich tröstete und sagte, daß sie ganz zufrieden sei. Sonntagmorgens kam Walter nach Hause. Man erzählt uns, in Elsenau werden Frauen mit Kindern weitergeschickt. Schwester Olga war vor einigen Tagen in Eichenbrück und hatte für uns alle Strohsäcke geholt. Wir sagten, wenn in Elsenau so etwas vorgeht, wie wird es denn mit uns geschehen, aber wir beruhigten uns wieder. Sonnabend, den 20. Januar waren wir mit aufräumen und backen beschäftigt. Um 11 Uhr fährt ein Pole auf einem Rad auf der Straße und schreit: “Einpacken und fahren, einpacken und fahren.” Wir waren so erschrocken, daß wir am ganzen Körper zitterten, wie ein Kind im ersten Moment. Ich lief zu Herrn Phal und fragte: “Müssen wir weg?” Aber da wurde schon fleißig gepackt. Ich frage: “Herr Phal, darf ich phonen?” Ja, liebe Frau, schon seit 3 Stunden sind alle Drähte durchge¬ schnitten und es ist nichts zu machen. Schon oft hatten wir gesagt: “Wenn wir unsere Lieben aus Rußland hier hätten, dann wollten wir ganz zufrieden sein und sehr dankbar sein.” Ja wir hatten es wirklich schon ganz gut. Unser Herr Phal hatte für uns in einem Dorfe schon 3 Wirtschaften ausgesucht, die er uns geben wollte. Er war Bezirksleiter. Es wurden dann die Polen, denen die Wirtschaften gehörten, jetzt aber den Deutschen gegeben wurden, ausgesiedelt und sie mußten mit einer geringen Habe davonziehen. So haben es die Deutschen oft gemacht. Wir aber sagten: “Solche Wirtschaften wollen wir nicht haben, denn auf ihnen könne kein Segen ruhen.” Doch jetzt zur Sache. Was sollen wir tun? Ich konnte mich gamicht zum Fahren entschließen. Wie, wenn Annie zurückkäme und wir waren weg? Solche und ähnliche Gedanken quälten mich. Wir haben geweint und gebetet. Alle drei Schwestern mußten jetzt noch wieder ein Kind zurücklassen. War es nicht zu viel von uns verlangt? Doch sagten wir uns, wir sind nicht besser wie die andern. Wir mußten uns ins Unvermeidliche schicken. Wir hatten nur wenig Zeit, und es galt zu handeln. Herr Phal mußte uns drei Familien mitnehmen. Um 3 Uhr sollten wir fertig sein. Er sagte: “Nehmt nur das Nötigste mit.” Er bespannte 3 Wagen, 2 Leiterwagen und einen Getreidewagen. Wir packten ein und ich hoffte, daß vielleicht Annie mit dem Zuge um 3 Uhr, der von Dietfurt kommen sollte, kommen würde. Da Herr Phal auch 2 Kinder erwartete, so wußte ich, daß er diesen Zug unbedingt abwarten würde. Wir packten mit schwerem Herzen. Alles, was wir an Esswaren hatten, wurde eingepackt. Um 3 Uhr waren wir fertig. Elvira bekam ein Rad geborgt. Sie mußte nach Dombrunn zum Zug. Wir bestellten, wenn dort jemand von unsem Kindern sein sollte, dann sollten sie bis Elsenau mit dem Zug fahren und wir würden uns dann dort treffen, denn unser Transport fuhr durch Elsenau. Um 3 Uhr fuhren wir von Ritscherheim ab. Es war am 20. Januar 1945. Unser Leben in Ritscherheim hatte ein jähes Ende. Wie schön war es doch, daß wir einen Vater droben hatten dem wir alles sagen konnten. O, wie ist es so herrlich, solchen Heiland zu haben. Das schätzt man besonders, wenn man in schwere Stunden kommt. Am 20. Januar, 9 Uhr, verließen wir unser uns liebgewonnenes Ritscherheim. Wir fuhren durch Elsenau in der Hoffnung, unsere Kinder dort zu finden. Es war vergebens. Weder Annie noch Herrn Phal seine Kinder waren dort. Unser Treck mußte in Elsenau warten, wo sich uns andere Familien anschlossen. In Elsenau 307 hatten wir Bekannte, von denen schon einige mit dem Zuge weggefahren waren. Einige suchten Wagen. So war auch Frau Greta Hildebrandt, die gerade mit der Geburt zu tun hatte. Ihr Mann war nicht da. Ach, jetzt gab es viel Elend. In den letzten Tagen hatte man noch ältere Männer und Jungen in den Volkssturm mobilisiert, und so war fast keine Familie, die nicht jemanden zurücklassen mußte. Wir fuhren durch Eisenbrück und Herr Phal versuchte noch ein Mal, seinen Sohn zu finden, der in einer Fleischerei lernte, aber es war vergebens. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch. Am Tage hatten wir gelinden Frost, aber des Nachts wurde er stärker und morgens war es sehr kalt. Um 9 Uhr kamen wir in ein Dorf, welches die Bewohner schon verlassen hatten. Die polnischen Arbeiter blieben meistens zurück. So war es auch in diesem Dorfe und wir konnten eine Tasse Kaffee bekommen. Die Pferde wurden gefüttert und dann ging es wieder weiter. Hierher kamen in der Zeit, während wir standen, Herrn Phal seine Tochter und Sohn. Ach, wie haben sie sich gefreut. Die Kinder hatten von unserer Flucht gehört. Bei Bekannten hatten sie sich Räder ausgebettelt, sind die ganze Nacht gefahren und uns eingeholt. Hüberts, Enses, David J. und P. Bergen wohnten in Schwarzwasser, schon hinter Eichenbrück. Als wir dort vormittag durchfuhren, sagte man uns, daß diese Leute schon alle weg waren. Da kommt mit einem Mal Lene, eine von Janzens Töchtern auf einem Rad und fragt nach den Ihrigen. Wir konnten ihr nur sagen daß diese schon alle weg waren. Sie fuhr weiter in der Hoffnung, ihre Lieben zu finden. Ach, wie viele haben sich auf solchem Wege verloren! Wir fuhren weiter und haben nur gerastet, um die Pferde zu füttern und wenn möglich, selbst etwas Warmes zu essen. Es ging immer weiter. Es hatte große Eile. Wir kamen immer wieder in Dörfer, die von den Bewohnern schon geräumt waren. Es war große Kälte. Wir fuhren 2 Tage und 2 Nächte. Jetzt wollten wir diese dritte Nacht ruhen, denn alle waren müde. Wir kochten uns Kaffee und aßen. Dann suchte sich jeder ein Lager, unterm Tisch, in Ställen und Scheunen, denn das Dorf war überfüllt. Wir waren noch nicht eingeschlafen, da rief man uns zu, alle schnell aufpacken, denn in einer halben Stunde ist der Russe hier. Das gab ein Durcheinander, aber in einigen Minuten waren wir alle auf dem angespannten Wagen und fort ging es in die Nacht hinein. Das eine Wort, “Russe”, konnte hunderte von Menschen in einem Nu elektrisieren. Wir konnten aber nicht immer schnell vorwärts kommen, so viele Trecks waren auf den Wegen. An manchen Tagen machten wir nur 5 bis 8 Klm. 50 Meilen lang zog sich der Treck. Des Nachts kamen wir besser vorwärts, weil nicht alle des Nachts fahren wollten. Es war schlimm, denn die Wege waren glatt und meistens hohe Wege und viel Nebel. Wenn man nicht gut sehen konnte, war die Gefahr da, in einen Abgrund zu stürtzen, was recht oft vorgekommen ist. Ach, wie hilflos waren wir, aber da war kein Aufhalten. Es war ein Rasen ins Ungewisse. Einmal sagte Frau Phal: “Beten Sie nur sehr, Euch wird der liebe Gott erhören.” “Ja, wir beten,” sagen wir, “aber Sie müssen auch beten.” Man sagte zu uns, bis Schamikan müsse man sehen hinzukommen. Dann sei man sicher vor den Russen. So ging.es den folgenden Tag und die Nacht. Früh morgens kamen wir in Scharnikan an, sehr froh, das Ende erreicht zu haben. Als wir zu den Bewohnern sprachen, sagten diese, daß sie packen sollen. Das war ein Schlag für unsern Herrn Phal, denn er hoffte, in einigen Wochen wieder zurück zu fahren. Daß wir nicht so dachten, wollte ihm gamicht stimmen. Bald sahen wir Fußgänger, zuerst nur einige, aber dann immer mehr. Kinder waren auch dabei. Wir fragten, warum sie gehen, sie sagen: “Wir haben keine Pferde, die Züge gehen nicht, aber der Russe kommt.” Darum gehen wir mit einem kleinen Bündel in der Hand los. Wir dankten Gott dafür, daß wir fahren durften. Es sah so traurig aus, und es war sehr schlimm. Sehr vielen sind die Füße angefroren, tote Kinder lagen, in Lumpen gewickelt, an den Wegen. Ein hübscher Koffer steht am Wege, man öffnet ihn und findet eine kleine Leiche drin. Wir mußten es uns immer wieder sagen, daß wir nicht am Schlimmsten dran waren. Es sind viele Fälle vorgekommen, die traurig waren, die man aber nicht alle erwähnen kann. Wir fuhren rastlos weiter. Fuhrmann und Pferde, alles war übermüdet, trotzdem man sich ablöste, so war es doch sehr ermüdend. An einem frühen Morgen kamen wir in einen sehr dichten Nebel. Einmal glitt unser Wagen und es fehlte ein Kleines, daß wir nicht abstürtzten. Bald darauf sahen wir einen abgestürzten Wagen. Wir fuhren noch kurze Zeit, dann machten wir Halt. Der Wirt sagte, ihm schmerzen die Augen sehr, so daß er nicht sicher ist im Fahren. Wir warteten, bis es heller Tag war, dann 308 fuhren wir weiter. Ich hatte bemerkt, daß auf unserm Nachbarwagen zwei Frauen, ein Kind und ein Mann hinzugekommen waren. Ich konnte mir das Benehmen des Mannes nicht erklären, ich hatte ihn schon einige Zeit beobachtet. Wenn die Frau ihre Pferde fütterte, tränkte, oder etwas an den Sielen zurecht machte, nahm der Mann keine Notiz davon. Still, wie eine Statute, saß er da. Ich dachte, was kann es mit ihm sein? Ich wußte es nicht, doch immer wieder mußte ich ihn beobachten. Er wollte mir gamicht aus dem Sinn. Wenn uns Trecks überholten, fragten wir immer, von wo und aus welchem Kreis sie seien. Ich wollte doch so gerne erfahren, ob mein Kind auch weggekommen war. O, was habe ich in diesen Tagen gerungen und geseuftzt. Morgens fuhren wir über die Netze und nach nicht langer Fahrt kamen wir in ein Städtchen, Namens, Vodamm. Es schien hier ruhig zu sein und wir wollten rasten und uns etwas zu Mittag kochen. Wir fanden in einer großen Schule Aufnahme. Die Pferde wurden in einem Stall über die Straße untergebracht. Herr Phal sagte: “Ihr Frauen werdet auf die Wagen aufpassen,” was wir dann auch taten. Wir gingen ins Haus und machten es uns gemütlich. Die Schulwärterin stellte uns ihre Küche und das Wohnzimmer zur Verfügung. Wir waren viele Menschen. Unser Nachbars wagen hielt auch mit uns. Wir kochten einen großen Topf voll Bohnensuppe. Frau Phal gab das Fleisch und wir die Bohnen. Zu Mittag luden wir auch den sonderbaren Mann mit den Frauen und dem Kind ein. Wir hatten angefangen zu essen, da sagt der Mann: “Ich kann nicht essen.” Man sah, daß der Mensch große Qual litt. Wir fragten ihn nach der Ursache seines Benehmens. Dann erzählte er: “Wir waren mit einem Wagen von unserer Heimat losgefahren, als ein Paar alte, hilflose Menschen, das Fräulein, seine Frau und Kind und ich. Wir kamen durch den Wald. Es war ein großer Treck. Da wurden wir von den Partisanen überfallen. Ich sehe, wie ein junges Mädchen sich hinter einem Grabe versteckt, und niedergeschossen wird. Dann sehe ich, wie sie Kindern von 6 bis 8 Jahren den Kopf abhauen. Ich fange an zu laufen und laufe ohne mich umzuschauen. Meine Frau und das Fräulein mir nach. Wie ich erst in Sicherheit bin, es war schon nicht mehr weit im Wald, mach ich Halt. Ich konnte nicht mehr laufen. Jetzt stehen mir immer diese armen Kinder vor Augen und was wird mit den alten Leuten geschehen sein? O, dieses Elend und der Jammer. Jetzt ist es mir klar, warum der Mann so teilnahmslos war. Ich denke, es wurde ihm leichter, all dieses von seinem Herzen herunterzureden. Sie wollten dann mit dem Zuge weiterfahren und gingen zur Station und wir haben sie nicht mehr gesehen. Herr Phal sagte: “Um 2 Uhr wollen wir fahren”. Wir machten alles fertig. Der Kutscher hatte noch einen Polen mit, er ging und besorgte die Pferde. Im Zimmer war es schön warm und so waren Herr und K. eingeschlafen. Da sagte Herr Phal: “Wollen mal eine Nacht hierbleiben. Wir konnten ja nichts dazu sagen, fuhren wir doch aus Gnaden mit. Wir wären gern weitergefahren. Auf der Straße zog der Treck ohne aufzuhören immer vorwärts. Um halb vier geht der K. in den Stall zum nachzusehen, und o, Schrecken, das beste Paar Pferde sind gestohlen. Es gab ein Weinen und Schelten. Ja unser Herr Phal wollte sogar zum äussersten greifen. Meine Lieblinge, von klein auf habe ich euch aufgezogen, usw. Da ermahnte ihn seine Frau und sagte: “Du hast deine ganze Wirtschaft stehen gelassen und jetzt wirst um ein Paar Pferde den Kopf verlieren?” Aber es war auch sch limm . Wir suchten und meldeten es an, aber unsere Pferde waren und blieben weg. Wir sagten uns, was wird jetzt mit uns werden? So kam es. Herr Phal sagte: “Ich habe euch mitgenommen und habe für euch gesorgt, aber jetzt kann ich euch nicht weiter mitnehmen. Das seht ihr doch selbst ein. Ich werde doch nicht meine Sachen stehen lassen und euch mitnehmen. Das werdet und könnt ihr nicht verlangen.” Nein, das konnten wir nicht. Dann sagte Herr Phal: “Wir wollen mal in die Komandantur gehen, wenn ihr Pferde bekommt, was nur richtig wäre, dann geb ich euch meinen Wagen und Futter. Ich ging mit ihm. Es war schon dunkel geworden. Aber wie wir dahinkamen, sah ich bald, was vor sich ging. Man sagte zu uns: “Der Ortsbauerführer sei gamicht zu sprechen. Er sei ganz überanstrengt von all den Flüchtlingen. Wir sollten morgen kommen. Es könnte vielleicht sein, daß wir Pferde bekämen. Das war nur ein Abtrösten. Unverrichteter Sache kamen wir wieder zurück. Es waren noch mehr Leute eingetroffen und von diesen erfuhr ich soviel, daß die Jungens vom Landdienstjahr von einem G., Wagen und Pferde erhalten hatten und sie seien unterwegs. Mit ihnen waren auch zwei oder drei Mädchen. Das war ein kleiner Hoffnungsstrahl und ich dankte und betete, Gott 309 möge auch weiter helfen. Was sollten wir jetzt tun? Wir standen ratlos da. Wir luden alle unsere Sachen vom Wagen ab. Herr Phal richtete sich auf zwei Wagen ein. Der dritte blieb stehen. Uns blieb der Trost, wenn wir von Menschen verlassen wurden, daß Gott uns dennoch nicht verlassen würde. Wie er uns helfen würde, konnten wir jetzt nocht nicht wissen. Wir wollten zur Bahn gehen, aber weil wir uns nicht sicher waren wohin, wollten wir so gehen, daß wir zu einer großen Haltestelle kamen, denn solche waren hier, wo es etwas ruhiger war, schon eingerichtet. Wir packten unsere Sachen in kleine Bündel. Es waren auch Hitlerjugend mit einem Mädel da. Als sie von unserm Leid hörten, erboten sie sich, unsere zwei kleinen Kinder, Annchen und Bertha auf ihrem Wagen bis zur nächsten Haltestelle mitzunehmen. Wir nahmen dieses an als von Gott. Wir gingen schon nicht mehr nach Pferden zu fragen. Morgens früh nahmen wir von Herrn und Frau Phal Abschied und fuhren ab. Wir blieben zurück. Es gab viele Tränen. Wir mußten von unsem Sachen, die wir gerettet hatten, liegen lassen. Dir Frau bot uns ein unbewohntes Zimmer an. Dahinein stellten wir unsere Sachen, die wir zurücklassen mußten. Am schwersten war es, die Lebensmittel zurückzu¬ lassen, doch wir konnten nicht anders. Um 7 Uhr morgens verließen auch wir den Hof zu Fuß. Aber wir hatten uns noch zu schwer beladen. Da es kalt war, hatten wir soviel wie möglich angezogen. Zu der Kälte stellte sich noch vormittags ein Stümwetter ein. Die guten Hitlerjungen erlaubten uns, noch einige Sachen auf ihren Wagen zu legen und so konnten wir das Wenige mitnehmen. Es war ein weiter schwerer Weg. Gegen Abend kamen wir in Friedeberg an, einige früher, andere später, doch alle Reisenden fanden sich ein. Hatte mich bis dahin die Kraft und der Mut nicht verlassen, so waren sie hier scheinbar zu Ende. Wo man nicht hinschaute, überall Flüchtlinge mit Wagen. Es sah so trostlos aus, daß ich mich nicht halten konnte. Ich stand an einem Baum und weinte und weinte bitterlich. Da kommt Anneliese und sagt: “Ach Tante Anne, weine doch nicht. Wir haben Bekannte gefunden. Alle vom Schwarzwasser sind hier.’’ Wie wunderbar, wenn wir am Ende sind, dann hilft Gott. Diese lieben Geschwister nahmen sich unser herzlich an. Wir wollten mit der Bahn weiter, doch sie meinten, es wäre nicht ratsam. Enns und andere gingen und fragten, ob sie uns mitnehmen durften. Sie hatten auf einem Wagen meistens Sachen ihres Herrn, die wurden gebeten zu erlauben, einige von ihren Sachen abzuladen damit wir mitfahren konnten. Die Polizei sagte: “Die Menschen gehen vor!” Darnach wurde gehandelt und so war auf wunderbarer Weise uns wiederum geholfen. Wir verteilten uns. Ich und Gredel fuhren bei Hüberts mit. Frau Teichrieb mit Kindern mit Frau Klassen, und Frau Toews mit Kindern bei Ennses, weil diese den größten Wagen hatten. So haben sie uns mitgenommen, bis wir am Ziel unserer Reise waren. O, wie waren wir Gott und ihnen so dankbar, daß sie uns nicht zurückgelassen hatten. Es waren noch mehrere Familien, Schwaben dabei, so daß wir im ganzen 7 Wagen waren, die wir im Treck immer zusammenhielten. Wurde jemand etwas an seinem Wagen, so warteten die andern, bis er wieder in Ordnung war. Wir wurden mitunter in Häusern verteilt; weil es jetzt schon nicht mehr so zur Eile trieb, bemühten wir uns nicht voneinander und ohne den andern abzufahren. So kamen wir durch Kreuz, den andern Tag bis Granow. Hier kamen wir erst beim Bürgermeister alle zusammen, wo man uns schöne Stullen mit Wurst, Butter und Kaffe servierte. Nach dem Essen wurden wir für die Nacht in die Häuser verteilt. Hier hatten wir eine liebe Frau, die war wirklich gut. Sie gab uns ihre schönen Betten zum Schlafen. Da fühlte man sich mal wieder als Mensch. Morgens gab es ein Frühstück. Sie packte uns auch Stullen für den Weg ein. Mir gab sie ein neues Handtuch. Ich dankte ihr und sie wünschte uns alles Beste zu unserer Weiterfahrt. Dann zogen wir weiter. Ich kann nicht jede Haltestelle beschreiben, es würde zu lang werden, aber besondere Erlebnisse möchte ich doch berichten. Meistens wurden wir in den Schulen aufgenommen, welche warm waren und wo dann auch für den Magen gesorgt wurde. Ktimen wir über Mittag in größere Städte, so waren dort Vorrichtungen getroffen, daß wir einen Teller heiße Suppe erhielten. Hier erhielten wir auch unsere Verpflegung und zwar Brot, Butter, Wurst, Käse. Ja, man muß sagen, sie haben sich der Flüchtlinge angenommen. Hatten wir es in den ersten Wochen sehr kalt, so war in den letzten Wochen viel Regen. Wir und alles, was auf dem Wagen war, wurde naß. 310 Es war sehr ungemütlich, denn edles wurde schmutzig. Einmal waren wir sehr hungrig. Die Mädchen gingen zu einer Bauersfrau und baten sie für so und so viel Mann Kartoffeln zu geben, aber sie wollte nicht geben. “Na”, sagten die Mädchen, “wir bitten anständig, aber der Russe wird nicht fragen.” Sie erhielten welche. Der Russe war wirklich nach einigen Tagen da. Weil unsere Pferde schwach und müde waren, so war es nicht immer möglich, zu den Haltestellen zu kommen, dann waren wir genötigt, auf einem Gut, deren es viele in Deutschland gab, oder in einem Dorf zu nächtigen. Wenn wir die vordersten im Treck waren, dann war es gut, waren wir aber von den letzten, dann bekamen wir unsere Schlaftstätten im Stall oder in einer Scheune bei den Pferden auf einem Strohlager. Die Ratten und Mäuse liefen uns über den Kopf und die Füße, denn sie wußten ja nicht, was los war. Vom Schlafen wurde dann nicht viel. Wir kamen nahe an Stettin, wo Enns die Sachen seines Herrn abgab. Hier waren wir eine Nacht. Es blieben jetzt nur 5 Wagen. Wir fuhren zwei Mal durch Prenzlau. Einmal hielten wir dort Rast. Das andere Mal fuhren wir nur durch. Hier kam eine Frau und gab mir eine schöne, warme Jacke. Wir nahmen gerade Verpflegrung. Ich dankte ihr. Unser altes Mütterchen Tante Enns, machte alle die Strapatzen mit. 0, wie war sie manchesmal so müde, aber es geht immer noch sagte sie. Wir haben des Herrn Hand oft wunderbar erfahren; wenn der Weg auch schwer war, so waren wir nicht ohne Trost. Wenn es manchesmal auch dunkel wurde, so machte er es wieder licht. Eines Abends kamen wir in eine Stadt, ich denke, es war Neurupin. Hier wurden wir auf zwei Stellen verteilt. Es schneite sehr und auch morgens. Einige Frauen gingen auf unsere Marken einkaufen. Dieses verzog sich und einige unserer Weggenossen wurden ungeduldig und wollten losfahren. Aber wir warteten. Da kamen einige Frauen zurück und sagten, wir sollten fahren, die andern Frauen kämen gleich. Ein jeder fuhr von seinem Hof den Weg, den er vor sich hatte. Wir sagten, wir müssen alle auf ein und denselben Weg fahren, sonst finden wir uns nicht. Es gab Meinungsverschiedenheiten und wir fuhren. Wir fuhren langsam aus der Stadt, aber niemand fand sich ein. Es schneite so sehr, daß wir nur ein kurzes Endchen vor uns sehen konnten. Wir fuhren immer weiter und es vergingen Stunden und unser Warten auf die andern war vergebens. Wir hielten an und wenn jemand uns überholte, fragten wir sie: “Habt ihr nicht 3 Frauen gesehen?” Aber immer war es eine verneinende Antwort. Da Frau Teichrieb vom Wagen abgestiegen war, um zu gehen, keim sie im Schnee schlecht weiter und war weit zurückgeblieben. Wir entschlossen uns zu warten. Es war unterdessen spät Mittag geworden. Es war in einer Niederung. Wir sahen auf dem Berge 3 Personen. Sie kamen näher und Gott sei Dank, es sind einige von den unsem, aber nicht alle. Von den anderen Wagen weiß man nicht, welchen Weg sie eingeschlagen haben. Was tun? Das Kind von 2 Jahren war hier, wo aber ist die Mutter? So viele haben sich verloren. Sollten auch wir noch jemand verlieren? Wir baten den Herrn, er möchte uns doch wieder zusammenbringen. Der Herr war gnädig. Nach zwei Tagereisen fanden wir uns auf einem Schloß zusammen. Gott sei Dank! Wir freuten uns alle, daß der Herr erhört hatte. Es war aber für uns alle zugleich eine Lehre, und wir fuhren weiterhin immer alle zugleich los. Wir kamen immer weiter, aber in mancher Nacht gab es kein Schlafen, so unruhig und unheimlich war es. Die Kanonen und Geschütze donnerten, Die Flieger brummten. Ach, es war schrecklich des Nachts. Ein mancher, der schon lange nicht gebetet hatte fing wohl an, nach Gott zu fragen und ihn anzurufen. Wir verloren noch einmal ein Mädchen, aber wir fanden es wieder nach einem Tag. Wie gut ist doch Gott. Wir durften keinen ganz verlieren. So ging es einen Tag nach dem andern, und jeder Tag hatte sein Besonderes. Je weiter wir ins Reich kamen, desto ruhiger wurde es. Wir erhielten jetzt, wenn wir in größere Städte kamen, unsere Verpflegung, und war es über Mittag, dann gab es Suppe oder Kartoffeln. Wir müssen sagen, man hat treu für die Flüchtlinge gesorgt. Wenn ich daran denke, in welcher Lage Deutschland war, so muß ich heute noch staunen, wie sie es fertiggebracht haben. So sorgte Gott unsichtbar für uns. In den letzten Tagen hat der Regen nachgelassen. Wir sehnten uns schon alle nach dem Ende. Doch fürchteten wir uns auch davor, wir wir es antreffen würden. Einen Monat weniger einiger Tage, hatten wir uns zur Nacht nicht ausgezogen. Kot, Regen, schlechte Kleidung, wir sahen 311 wirklich nicht beneidenswert aus. So kamen wir nach Dohlenberg. Hier wollte man uns teilen, doch wir baten den Bürgermeister, und wir kamen alle in ein Dorf. Auch hierin hat der Herr uns erhört. Nach einem Tage sagte man zu uns: “Ihr seid am Ziel.” Ich hatte aber nicht aufgehört, nach dem Dietfurter Kreis zu forschen, so auch Ennses nach Posenkreis. Man sagte uns, wohin jeder Kreis hinkam und so wollten wir dann, wenn wir erst an Ort und Stelle waren, nach unsem Kindern suchen. Wir kamen am 17. Februar 1945 in Hohenbostel, unserer zukünftigen Stelle, um halb fünf Uhr an. Man beschaute uns und ließ uns auf der Straße warten. Endlich hatte der Bürgermeister Bauern gefunden, die uns aufnahmen. Bei ihnen auf den Höfen angekommen, mußten wir wieder warten, bis man uns endlich ins Haus ließ. Unsere Aufnahme in Hohenbostel war nur sehr primitiv. Ich schreibe jetzt von unserm Wagen. Hier war Frau Hübert mit Töchtern und Enkelchen. Frau Warkentin mit ihrem Sohn, Gredel und ich. Uns hatten sie bis hier mitgenommen. So wie wir auf den Wagen waren, so wurden wir auch auf den Höfen verteilt und haben auch so gewohnt, bis wir Hohenbostel verließen, ausgenommen mit kleinen Veränderungen. Endlich kam unser Scheff, so wurde er in Deutschland genannt. Er sagte: "Kommen sie mal mit.” O, wie freuten wir uns, in ein warmes Zimmer zu kommen. Wir kamen an einer Scheune vorbei. Er sagt: “Nehmt ein jeder eine Garbe mit.” Ich denke, was soll denn das, jetzt sind wir doch am Ziel, was will der Mann? Gehorsam nehmen wir ein jeder eine Garbe, und dann geht es weiter in den Hühnerstall. O Schreck, kalt, die Wände voller Löcher. Der Schef sagt: “Hier werden Sie schlafen, ist das nicht schön? Wir waren alle keines Wortes fähig. Dann wurden unsere Sachen alle abgeladen. Nachdem gab es Kaffe mit Stullen, genug und viel, darüber war nichts zu sagen. Wir baten unter Tränen, man sollte uns doch in der Küche schlafen lassen. Dort war es warm, aber das ging nicht. So viel erreichten wir doch, daß Mutter und Tochter mit dem Kind im Haus bleiben durften. Die andern wurden alle in den Zimmern bei den Bauern aufgenommen. So war unser Ankommen und Aufnahme in Hohenbostel. Wir dankten unserm Vater, daß unsere Reise ein Ende hatte und empfahlen ihm auch weiter für uns zu sorgen. Unser Leben in Hohenbostel vom 17. Februar 1945 bis zum 4. Juni 1947 Wie ich schon erwähnte, daß wir im Hühnerstall unsere Lagerstätte bekamen, so wohnten wir auch dort. Doch der Schef richtete uns eine Küche mit einem schönen Herd ein. Dann stellte er einen Ofen hinein. Den bekamen wir nach einer Woche. Das andere wurde erst im Frühling eingerichtet, das heißt das zweite Zimmer. Die Küche bekamen wir gleich. So richteten wir uns ein und es ging. Als die Zimmer erst richtige Fenster hatten und wir sie schön rein gemacht hatten, sahen sie ganz freundlich aus. In der ersten Woche haben wir immer bei unsem Bauern gegessen. Dann gaben sie uns so viel Kartoffeln, wie wir brauchen konnten. O, wie freuten wir uns darüber. Wir durften auch Holz zu unserer Beheizung brennen, so viel wir brauchten. Wir erhielten unsere Lebensmittelkarten. Doch die waren hier schon viel ärmer als im Warthegau. Jetzt fehlten uns sehr unsere Lebensmittel, die wir in Vordam lassen mußten. Nach einigen Tagen erhielten wir auch Bezugsscheine und so durften wir von Lüneburg, unserer Kreisstadt, einige Kleidungsstücke holen. Da es hier auch schon sehr knapp mit der Ware war, so brauchten wir viel Zeit, bis wir was fanden. Eines war in dieser Stadt und das andere in einer andern Stadt zu haben. Wir fanden nicht alles, was wir brauchten, aber die Sachen waren ganz gut. Wir freuten uns über jedes Stück, das wir bekamen. Ein jeder hatte etwas Geld bei sich, so daß wir es kaufen konnten. So vergingen einige Wochen, und von unsem Kindern war keine Spur. Ich sage zu Frau Hübert: “Sage mir mal, wenn ich noch einen Monat warte, werde ich dann schon wissen, wo Annie sich aufhält?” — “Vielleicht”, sagt sie. Unsere Kinder fuhren nach Lüneburg, um Einkäufe zu machen. Da trifft Elvira eine Schülerin aus Eichenbrück, mit der sie zusammen die Kochschule besucht hatte. “Elvira, denk nur, denk nur, wen ich heute getroffen habe?” sagt sie “Annie Janzen”! “Nicht möglich?” Sie sagte ihr dann, wo Annie wohnte. Elvira und Gredel fuhren dann gleich hin. Die andern Kinder kamen nach Hause. Ich frag, wo ist 312 Gredel? Ach, sagen sie, die war noch nicht fertig, sie kommt mit den andern Zug. Es wurden noch immer Angriffe auf unsere Städte gemacht, und darum war man immer froh, wenn die Kinder wieder zu Hause waren. So war ich auch jetzt in Sorge. Ich machte etwas reichlich Abendbrot, denn die Kinder kommen immer hungrig nach Hause. Sie wußten schon, daß Annie kommen würde. Frau Hiebert sagt, “du machst ja so viel Abendbrot!” Sie wußte schon, daß Annie kommen würde. Ich aber ahnte nichts. Frau Hiebert wäscht den Fußboden. Ich frage “Warum tust du das?” “Ach”, sagt sie, “es gibt vielleicht noch Besuch.” “Es wird heute schon niemand mehr kommen”, sage ich. Es wurde dunkel. Ich sitze auf meinem Bett. Wir hatten ein kleines Lämpchen brennen. O, dieser Augenblick, ich werde ihn nie vergessen. Gredel kommt ins Zimmer, “Bist du endlich da”, und schaue sie freundlich an. Da kommt auch schon Annie und sagt: “Guten Abend Mama”. “Annie, Annie mein Kind”, und da lag sie schon an meiner Brust. Bist du es wirklich. Ist es kein Traum? — “Nein, Mama, ich bin wirklich da.” O, Gott sei Dank! Es war mir zu Mute, als könnte ich mein Kind nicht mehr loslassen, als müßte ich sie immer festhalten, damit niemand sie mir nehme. Wir weinten und lachten. Solch ein Wiedersehen ist gamicht zu beschreiben. Wir dankten Gott und hatten einen schönen Abend. Das Erzählen wollte kein Ende nehmen. Wie wunderbar Gott sie mit ihren Reisegefährten geführt hat und wie sie auf manchen gefahrvollen Stellen immer Gottes Schutz und Beistand erfahren hatten. So schnell hatte Gott erhört. Ich wollte noch einen Monat warten, und mein Wunsch war jetzt schon erfüllt. "Und soll geschehen, ehe sie rufen, will ich antworten, wenn sie noch reden, will ich hören” (Jesaja 65, 24). Was haben wir doch für ein Vorrecht, einen Vater und Heiland zu haben, besonders in solchen schweren Stunden, wie wir sie hinter uns hatten. Ich habe oft die Leute bedauert, die keine Zuflucht zum Gnadenthron haben, als nur sich selbst. Wie ist man dann so arm. Wir lebten noch immer in großer Gefahr, denn der Krieg war unerbittlich. Oft, wenn die großen Angriffe über Hamburg oder Ulzen stattfanden, was immer oder meistens des Nachts geschah, dann war unser Haus immer ganz hell von dem Feuer dort, und es gab keine Ruhe. Wir gingen auch nicht immer zur Kirche, denn wir hatten nach unserm Städtchen Bienenbüttel zwei Kilometer zu gehen. So erfreute ich mich meiner Kinder. Das andere machte mir wenig Sorge, wenn wir nur nicht hungern und nicht frieren brauchten. O, wie lernte man dankbar und zufrieden zu sein! Alle Aeußerlichkeiten verlieren ihren Wert, wenn es erst ans Leben und an die Kinder geht. Es war wohl noch nicht alles. Es waren wohl 2 Wochen vergangen, seit Annie zu Hause war, da kommt unser Bürgermeister und sagt: “Wir brauchen 6 Mädchen, die nach Kuckshafen zum Schippen sollen, und so müssen sie zur Bahn nach Lüneburg und von dort geht es mit dem Transport weiter. Ich war so erschreckt, daß ich nichts sagen konnte. Ich war wie betäubt. Mein Kind, das mir der liebe Gott eben gegeben hatte, sollte ich wieder abgeben. Kann es wirklich sein? Ja, es ist Krieg und ein Krieg fragt nicht danach, wie eine Mutter fühlt, der ist unerbittlich. So ging ich doch am andern Tag zum Bürgermeister, als er nachsehen kam, ob die Mädchen fertig waren, und bat ihn er möchte es änderen, aber er hatte nur wenig Gehör auf meine Klagen. “Da sei nichts zu ändern”, sagte er. Wir nahmen unsere Zuflucht zu unserm lieben himmlischen Vater. Unsere Lieben halfen uns beten. Der Tag der Abreise kam. Alle 6 Mädchen waren von unsern Flüchtlingen, die jetzt gekommen waren. Das war auffallend. Wir begleiteten sie zur Bahn. Unter Tränen wurde Abschied genommen. Man hatte keine Worte als “Gott mit Euch”. Ja, Gott war mit ihnen allen. Als sie in Lüneburg mit ihren Papieren zum Komandanten kommen, fragte er, was sie wollen. “Wir sind vom Bürgermeister zum Schippen geschickt worden. “Was ihr? Ihr Mädchen? So was ist noch nicht dagewesen, fort nach Hause.” Die Mädchen stehen, sie können es nicht glauben. Hat doch der Bürgermeister gesagt, “Es muß sein”. Dann wiederholt der Kommandant noch einmal: “Fahrt nach Hause und grüßt euren Bürgermeister.” Dann kam Leben in alle unsere Mädchen. Sie gingen gleich zum Telephon und berichteten, daß sie zurückkommen. Es war solche Freude, daß sie es nicht abwarten konnten, bis sie selbst nach Hause kamen, um es zu berichten. Unserem Bürgermeister haben wir nichts gesagt. Er mußte dann Männer stellen. Es war das Angehen der Bauern, aber der 313 liebe Gott machte es zunichte. Wir haben ihm von Herzen gedankt. Da wir alle ohne Arbeit waren, sagte unser Schef: “Es würde gut sein, wenn die Mädchen in Stellung gingen. Dann ist keine Gefahr für sie mehr, noch einmal genommen zu werden.’’ Von der Arbeit wollen wir uns auch nicht absagen, es war nur schwer, welche zu finden. Er fand eine Stelle für Annie in Bienenbüttel in einem Gasthaus. Wir waren so froh, daß wir unsere Kinder alle wieder hatten. Als der Frühling kam, fanden sie alle Arbeit. Unsere Jungen Walter und Franz hatten auch eine Probe zu bestehen. Franz war an Lungenentzündung krank und Walter war zu klein, so half der liebe Gott auch hier. Viel Angst haben wir durch gemacht. Einmal mußten wir von Hohenbostel flüchten, aber es war, Gott sei Dank, nur auf einige Tage. Dann durften wir wieder zurück. Am 15. April war bei uns die Kapitulation. Es war noch nicht gleich ganz ruhig, aber die großen, scharfen Angriffe hatten ein Ende. Jetzt wurde die Verpflegung auf einige Monate voraus gegeben. Waschpulver, Seife usw. Wir machten uns einen guten Vorrat. Wir dachten, wer weiß, wie es weiter sein wird. Die Lebensmittelkarten blieben, aber weil alles lahmgelegt war, erhielten wir so wenig, daß wir davon nicht leben konnten. Die wir bei den Bauern waren, hatten wenigstens genug Kartoffeln. Hin und wieder gab es auch ein paar Tassen reine Milch, auch mal ein Stückchen Speck. O wie wußte man das zu schätzen! Schleudermilch gab es öfter. Doch die armen Städter, die haben gelitten, daß man oft die Leute vor Leid nicht anschauen konnte. Gredel und Trudchen gingen auch an die Arbeit, wo sie auch die Kost erhielten, so hatten wir es in dieser Beziehung leichter. Wir haben dann versucht, Frau Hiebert und ich, etwas mit Nähen zu verdienen, meistens Produkte. Später auch mit Spinnen, wo ich aber nicht lange mitmachte, denn das verstand ich nicht. So ging die Zeit immer weiter. Wir beteten ohne Aufhören für unsere Lieben, besonders aber für die, von welchen wir meinten, daß sie noch zurückkommen konnten. Es waren ja viele in den letzten Tagen im Warthegau in den Volkssturm genommen worden und einige schon etwas früher, in die Wehrmacht. Frau Hübert saß eines Nachmittags draußen auf der Bank, da kommt ihr Schwiegersohn. War das eine Freude. Wir dankten dem lieben Gott und sagten: “Der Herr fängt schon an, unsere Gebete zu erhören. Wollen nur weiter beten. Nach einer Woche kam auch ihr Sohn. Die liebe Mutter war gerade nicht zu Hause. Sie war mit ihren Kindern mit zu den Eltern ihres Schwiegersohnes gefahren, um sich mit ihnen gemeinsam zu freuen, denn auch dort war der andere Schwiegersohn gekommen. Trudchen und ich nahmen ihn so gut wir konnten auf. Er war zu Hause, das war für ihn die Hauptsache. Da hatte seine Mutter noch die Freude des Wiedersehens vor sich. Jetzt fehlte noch ihr lieber Mann. Manchesmal wollte der lieben Schwester Hübert der Mut sinken, aber wir munterten sie immer wieder auf, nicht mutlos zu werden. Nun, daß es ruhiger geworden war, suchten wir wieder nach Gemeinschaft der Kinder Gottes. Wir fanden solche in Lüneburg. Es waren liebe Geschwister. Das erste Mal besuchte uns Br. Esswein mit seinem Chor. Er hielt uns auch eine Predigt. Wir haben gern Gemeinschaft haben wollen, so kam von Lüneburg jeden zweiten Sonntag ein Prediger und teilte uns das Wort. Wir versammelten uns meistens bei Schwester Klassen, weil ihr Zimmer das größte war. Das war für sie auch nicht immer leicht, weil sie 3 Familien drinnen waren, aber sie brachten das Opfer für uns. Es besuchten uns verschiedene Prediger, aber meistens Bruder Pätsch, den wir alle sehr liebgewannen. War eine gewisse Ruhe eingetreten, so gab es doch noch manche Sorge für uns in Gestalt des Russen. Er wirtschaftete ganz gut. Alle, die von Rußland gekommen waren, mußten zurück nach Rußland, so wurde gesagt. Dieses war für uns nicht wenig schwer. Er war ja auch nur 30 ■ 40 Kilometer von uns ab. In der Umgegend wirtschaftete er ganz gut, und viele, die nicht freiwillig gingen, nahm er mit Gewalt. Wir zitterten vor Angst vor ihm. Unsere Bauern sagten immer, “wir geben euch nicht dem Russen; wenn er kommt, verstecken wir euch.” Der gefürchtete Tag kam. Der Bürgermeister sagte: “Ich werde mein Möglichstes tun, aber ihr müßt alle erscheinen.” Wir versprachen es. Die meisten von uns gingen. Zwei junge Kommissare waren gekommen. Anfänglich waren sie sehr nett. Sie luden uns ein, in unsere liebe Heimat zurückzukommen. Als wir ihnen erst sagten, daß wir nicht wollten, alle Grunde hervorhoben, wie und 314 zu unterhalten. Wo wir Flüchtlinge doch meistens scheel angeschaut wurden. Wie oft hörte man: “Ach, die Flüchtlinge”, oder "Es ist nur ein Flüchtling.” Man wollte auch schon nicht nach solchen Ausdrücken horchen, weil es jedesmal ein wehes Gefühl gab. Hier war es mal anders, warme Worte der Liebe im Blick auf Jesus. Das war ein unvergeßlicher Tag für uns. Nur zu schnell verließ uns der liebe Onkel Klassen. Wir hatten ja noch vieles gefragt, aber seine Zeit war sehr bemessen. Unter unseren Dank und uns Gottes Segen wünschend, verließ er uns. Schon auf der letzten Flucht sagte jemand: “Wir flüchten immer weiter und kommen doch von dort nach Amerika.” Dieses war bei mir ausgeschlossen. Ich sagte: “Wenn ich erst in Deutschland bin, fahr ich nirgends mehr hin.” So sagten auch noch andere. Jetzt wird uns hier eine Tür aufgemacht und gibt uns die Möglichkeit, wieder weiter zu fahren. Ich hab wirklich deswegen manche schlechte Nacht gehabt, ehe ich mich wirklich entschließen konnte. Nicht, daß ich nicht nach Amerika wollte, aber meine lieben waren in Rußland und durfte man, sie in Rußland wissend, sie verlassen und nach Amerika gehen? Wäre das nicht ein Unrecht? Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten mich. Nach vielem Beten und Beraten kamen wir zu dem Entschluß, daß es zwecklos war, wenn wir zurückblieben, weil wir nicht wußten, wo unsere Lieben waren und auch keine Möglichkeit war, sie zu suchen. Im November war es sehr unruhig, denn man fürchtete den Russen. Darum machten sich viele fertig und flüchteten nach Holland. Uns wurde diese Nachricht überbracht. Wir packten und machten zur Reise fertig. In Hamburg hatten wir eine Autogesellschaft gefunden, die uns nach Hamburg mitnehmen wollte. Das Packen hatten wir schon wirklich ausgelemt. Wir waren in wenigen Stunden fertig, denn dem Russen in die Hände fallen, das war zu schrecklich. Wir saßen und warteten auf die Autos. Es war verabredet, daß sie früh morgens kommen würden, aber unser Warten war vergebens. Als man dann hinfuhr und die Sache untersuchte, sagte man, abends war Nachricht gekommen, daß eine Sperre eingeführt worden sei: Niemand durfte nach Holland einreisen. Auf wie lange die Sperre verhängt worden sei, wisse man nicht. Wir ließen unsere Sachen noch kurze Zeit gepackt stehen. Aber es gab keine Möglichkeit zur Einreise. Anfänglich waren wir unglücklich über die Verhinderung unseres Vomehmens. Nachher sagten wir uns, es war nicht des Herrn Wille gewesen. Der Winter kam und mit ihm sehr bald auch Weihnachten. Wir gingen nach Linenbüttel zur Kirche. Wir durften in aller Stille das liebe Weihnachtsfest feiern. Wie haben wir es geschätzt, das Fest richtig zu feiern! Durften wir es doch schon lange in unserm Vaterland nicht tun. Es war uns wieder groß. Neujahr kam, und wir schrieben 1946. Zu diesem Jahr waren wir in großen Hoffnungen, die uns das Neue Jahr erfüllen könnte. Es brachte uns viel, doch nicht alles, das wir gewünscht hatten. Der Winter verlief sehr ruhig. Die Lüneburger Geschwister besuchten uns rege und wir hatten gute Gemeinschaft mit ihnen. Sie teilten uns auch das Abendmahl aus. Wir fanden auch andere Bekannte von drüben. Im Mai hatten unsere lieben Geschwister N. Enns ihre Silberhochzeit. Ja, ich muß erwähnen, daß Schwester Enns gleich nach Weihnachten sehr krank wurde. Die Aerzte sagten zu den Angehörigen, “rechnen sie damit, daß ihre Schwester schon nur noch 3 Wochen zu leben hat.” Wir waren alle sehr traurig und alle baten den himmlischen Vater, ob er es nicht ändern könne. Es war sehr schwer. Weil alle im Zimmer kochen mußten, so hatte die Kranke keine Ruhe. Sie wurde vom Roten Kreuz ins Krankenhaus gebracht, wo sie unter ärztlicher Aufsicht war. Die Familie wurde von Schwester Olga und den andern Schwestern besorgt. Der Herr erhörte unser Flehen und nach sechs schweren Wochen durfte die liebe Schwester Enns wieder nach Hause. Der Arzt sagte: “Hier ist ein Wunder geschehen.” Ja, es gibt heut zu Tage noch Wunder, wenn wir nur immer alles richtig nehmen. Die Kinder arbeiteten, und so ging alles wieder seinen Gang. Hin und wieder gab es auch mal etwas über unsere Auswanderung zu hören, aber nur sehr wenig. Unsere Bauern sagten: “So etwas gebe es gamicht”. Der Mai kam, und da Schwester Enns genesen war, so war es von ganz besonderer Wichtigkeit, ihre Silberhochzeit als ein Dankfest zu feiern. Wir wurden uns alle einig zu sparen. Wir brachten das Gesparte zusammen und es gab ein kleines Fest. Es war wirklich sehr schön, Schwester Enns ihre Schwestern hatten 315 warum, da verschwand alle Freundlichkeit und sie fuhren mit einer Drohung weg. Da war es uns doch etwas ungemütlich, daß wir so frei gesprochen hatten. Aber pi nma l hatten wir uns alles vom Herzen gesprochen, was uns immer beschwert hatte, aber wir nahmen uns vor, nicht wieder so frei zu sprechen. Um der Sicherheit willen riefen wir gleich die englische Polizei an und fragten sie, ob wir unbedingt mit müßten. Die sagten uns es sei kein Muß, sondern nur freiwillig. Sollte man uns aber zwingen wollen, dann sollten wir uns auf den englischen Kommandanten berufen. Seinen Namen habe ich vergessen. Um einen Monat waren die Häscher wieder da. Jetzt ging Frau Hübert ganz allein zu ihnen und sagte ihnen, daß niemand mitfahren würde. Sie waren sehr böse und sagten: “Jetzt wollt ihr nicht, und im Frühling werdet ihr müssen.” Gott sei Dank, es kam nicht soweit. Ende September erhielt Frau Hübert eine Karte von einem Freund ihres Mannes. Der berichtete, das Frau Hübert ihr Mann lebe und in Kürze bei ihnen sein werde. Eines Sonnabends, es war Anfangs Oktober, sitzt Frau Hübert und spinnt. Ich kam von unserm Gemüse und sage zu ihr: “Siehst du nicht, wer da kommt?” Er kam mit seinem Schwager, welchen er zuerst gefunden hatte. Mit einem Schrei sank sie an seine Brust. Auch diese Gebete waren erhört. Ich habe mich herzlich mit ihnen mitgefreut. Ich sagte: “Einer der leidet, ist weniger geworden.” Doch mein Weh wurde nicht kleiner. Ich ging in den Wald, um neue Kraft zu schöpfen und wieder mutiger zu sein, und der Herr gab mir Kraft dazu. Unsere Bauern gaben jeder Familie ein Stückchen Land, darauf konnten wir etwas Gemüse säen, was für uns eine große Hilfe war. Hatten sie uns anfänglich sehr kalt aufgenommen, so muß ich sagen, im Laufe der Zeit haben wir uns wirklich lieb gewonnen, obgleich es nicht ganz ohne Sturm abging. Mit dem Essen war es sehr knapp und oft beschaute man sein Stückchen Brot, ohne abzuschneiden, und legte es weg. Ein Erwachsener versteht und schickt sich in seine Lage. Aber die Mütter mit kleinen Kindern hatten es sehr schwer mit ihnen. Doch hörten wir die Städter an, dann hatten wir immer genug. Da jetzt bei Hüberts das Quartier zu eng wurde, bekam ich ein Zimmer im Haus. Es war das Eßzimmer für die Polen gewesen. Es hatte kein Fenster nach außen. Ein Fenster ging in die Speisekammer und ein anderes in den Stall, worunter Kälber oder Pferde standen. Wir hatten wohl elektrisches Licht, aber jetzt, da wir unter den Engländern waren, so hatten wir immer Stromsperre. Mitunter gab es nur eine Stunde während des Tages Licht, von halb zehn oder von halb elf abends, aber dann wollte man schlafen. Ohne Licht war es zu dunkel zum arbeiten. Dieses war mir anfänglich sehr schwer, aber endlich dachte ich: "Wenn der Herr auch dieses von mir verlangt, dann will ich es auch tragen.” Ich ging auch aus, aber überall waren die Zimmer so besetzt, daß man nicht immer froh zum Besuch war. So waren beim Bauern Werner, 3 Familien in 2 Zimmern plaziert, bestehend aus 12 Personen. Beim Bauern Siegel, 3 Zimmer mit 3 Familien, bestehend aus 13 Personen, aber nur ein Zimmer war warm, darum waren sie gezwungen, am Tage alle in demselben Zimmer zu sein. Zum Schlafen verteilten sie sich in die andern Zimmer. Eines Sonntags, wohl am 15. Oktober auf Mittag, kommt meine Schwester Olga zu mir gelaufen und sagt: “Anna komm schnell zu uns, es ist ein Onkel Klassen aus Amerika gekommen, er kennt unsere Eltern und will uns einiges erzählen, hat aber nur wenig Zeit. So blieb denn das Mittag stehen. Diese Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch Hohenbostel und in kurzer Zeit war das Zimmer ganz voll von Flüchtlingen. Onkel Klassen gab dann einen Bericht über den Zweck seines Kommens. Wie sie mit Gottes Hilfe versuchen wollten, diejenigen, welche nach Amerika wollten, zu helfen. Er erklärte auch von ihrer Organisation welche sich “Das Mennonitische Zentralkomitee zur Immigration” nannte und wie sie alles im Namen Jesu Christi machten. Er sagte auch gleich, es würde das nicht so schnell zu machen sein, und könnte Jahre nehmen, bis alles in Gang käme. Er sagte, wir müßten uns hindurchbeten, wie der Gichtbrüchige es getan hatte, aber der Herr würde unbedingt erhören. Ich mußte ihn betrachten, wie er so im festen Glauben sprechen konnte. Beinahe für jeden der Anwesenden hatte er ein freundliches Wort oder auch, was uns sehr wichtig war, einen Gruß von Lieben drüben. Wir konnten auch etwas über das Befinden unserer Eltern und Geschwister erfahren. Er nahm auch kleine Briefchen mit. Es war zum Staunen, so ein vornehmer Herr, und wir Flüchtlinge waren ihm nicht zu gering, um sich mit uns 316 Gedichte und Lieder mit der Jugend eingeübt. Br. Pätsch und Br. Esswein hielten die Predigten. Der Bauer, bei dem sie wohnten, stellte uns ein leeres Zimmer zur Verfügung, welches festlich geschmückt war. Die Bäuerin gab die Kartoffeln und anderes mehr und wir hatten eine stille, gesegnete Silberhochzeit. Es war richtig schön und wir gingen alle gesegnet auseinander. Hier wurden wir auch mit Geschwister Lena und Greta Grünewald bekannt, die auch in Rußland gewohnt hatten, dann anno 1929 als deutsche Bürger Rußland verlassen mußten. Sie hatten dort ein schönes Heim und haben auch viel Schweres durchgemacht. Wir haben uns gegenseitig besucht, uns im Wort gestärkt und aufgemuntert, im Glauben fest zu stehen. Jetzt gab es auch endlich Briefe aus Kanada. Der erste Brief war von unsem lieben Eltern. War das eine Freude! Alle Hohenbostler mußten doch den Brief lesen! Ein jeder interessierte sich zu hören, ob wir nicht bald kommen konnten. Doch es galt, geduldig zu sein. Mitunter war man mit seinen Gebeten zu Ende und man wußte gar nicht mehr, was man dem lieben Gott noch sagen sollte. Wir vergaßen, daß wir durch stille sein und ihm alles zu überlassen, viel glücklicher waren. Wir Menschen wollen unserm Vater immer Vorschriften machen, und wie scheiterten diese; das mußten auch wir erfahren. Dieser Sommer war sehr schwer in Bezug auf die Verpflegung. Unsere Lebensmittelkarten wurden immer mehr beschnitten. Die lieben Kinder waren gar nicht mehr satt zu kriegen. Dann wurde unser Annchen sehr krank an der roten Ruhr. Es ging mit Riesenschritten mit ihrer Kraft hinunter. Doch auch hier hat uns unser Heiland nicht verlassen. Er machte einen mir bekannten Arzt willig, zu uns zu kommen und das Kind zu untersuchen, und dann Anordnungen zu machen. Als er unsere Armut im Zimmer sah, wollte er kein Geld für seine Mühe nehmen. Wir aber bestanden darauf und er nahm es. Wir gaben ihm täglich per Telephone das Befinden der Kranken an und er gab seine Anordnungen in der Pflege der Kranken. Der Herr gab zu allem Bemühen seinen Segen, und nach einer schweren Woche fing es an zu bessern und unser Kind wurde wieder ganz gesund. Unsere alte Tante Enns wurde im Sommer soviel besser, daß sie wieder gehen konnte und sich zu Zeiten ganz gut fühlte, dann aber auch wieder schlechter. Wenn sie zum Arzt ging, sagte der: “Hier geht nicht mehr zu helfen, es ist alles ausgearbeitet.” Sie wollte schon gerne Sterben, aber sie sagte, sie müsse warten, bis der Herr sie holen würde. “Ich möchte einschlafen und nicht mehr aufwachen”, sagte sie. Es ging weiter mit unserm Leben. Die Tante war nicht recht wohl, aß aber beinahe pünktlich ihre Mahlzeiten. Eines Tages hat sie manches mit ihrer Schwiegertochter durchgesprochen. Wir alle dachten nicht, daß es mit ihr so plötzlich kommen würde. Am andern Tage liegt sie so still, da sagt die Nachbarsfrau aus dem andern Zimmer: “Frau Enns, mir sieht ihre Mutter so anders aus.” Sie ließ mich sogleich rufen und als ich hinkam, sah ich, daß sie entschlafen war. Ihr Wunsch war erfüllt. Der Vater hatte sie heimgeholt. Wenn für die Angehörigen das Scheiden auch schwer war, so wünschten sie ihr die Ruhe von ganzem Herzen. Sie hat ausgekämpft und ist selig beim Herrn. Dieses geschah am 25. Juli 1946. Die Totenfrau kam und bereitete alles zum Begräbnis vor. Am nächsten Tage wurde sie begraben. Der lutherische Pastor hielt die Feier in aller Stille und die liebe Mutter und Tante wurde zu Grabe getragen. Unsere Sachen mit der Auswanderung gingen weiter. Es wurden Vertrauens¬ männer und Gruppenleiter gewählt, welche die Sachen, die von Amerika kommen sollten zu verteilen hatten. Es wurden auch Briefe geschrieben, die rundgeschickt wurden, in welchen uns verschiedene Erklärungen und anderes mehr gegeben wurden. In dieser Zeit erfuhr Frau Hübert daß Frau David Janzen im russischen Lager sei und Frau P. Berg auch. Sie sagte, sie müssen sehen, daß sie herauskommen, denn sie standen in der Gefahr, nach Rußland zurückgeschickt zu werden. Es wurde geplant, und dank Frau Hübert ihrer Energie, erlaubte der Bürgermeister, daß sie kommen durfte. Nach einigen Wochen war sie in Hohenbostel. Sie wohnte dann bei Hüberts und zur Nacht ging sie zu Ennses. Der Bürgermeister hatte es mit der Bedingung erlaubt, daß man kein Quartier beanspruchen würde. Im Sommer hatten wir ein Tauffest in Lüneburg und eines in Göddingen. Das waren sehr gesegnete Tage. Wir hatten zwei Chöre, einen in Göddingen und den andern in Hohenbostel. Es wurde schlicht und einfach gesungen, aber wir wurden durch den Inhalt der Lieder gesegnet. Im Oktober kamen die ersten Pakete aus 317 Amerika. War das eine Freude! Tränen des Dankes liefen über unsere Wangen. Könnt ihr das verstehen, was für eine Bedeutung solch ein Paket für uns hatte? Nein, und abermals nein, das wißt ihr nicht! Nachdem wir die Pakete geholt, was nicht ohne Schwierigkeiten abging, wir sie geöffnet hatten und der Jubel sich etwas gelegt hatte, dann haben wir auf Knien unserm Gott dafür gedankt, daß er noch Menschen hatte, denen es möglich war, uns solches zu schicken. Von der Zeit an, haben wir nicht mehr Hunger gelitten. Es kamen dann von verschiedenen Stellen Pakete. Einmal hatten wir viel, ein anderes Mal weniger, aber immer etwas. So half uns der Herr auch in dieser Zeit des Wartens. O, wir haben einen wunderbaren Gott! Jetzt erkennt man es noch besser als dann. Wir erhielten Briefe, und immer wollte man die Stellen lesen, wo über unser Kommen geschrieben war. Aber es hieß, Geduld haben. Unsere Bauern sagten, ihr wartet ganz vergebens, so etwas kann gar nicht geschehen und mitunter wollte man ihnen schon recht geben. Doch sagten wir, unser Vater kann alles wohl machen und solange wir keine entschiedene Absage haben, wollen wir hoffen und beten. Wie kleingläubig sind wir manchesmal gewesen! Es wurde Winter, und in manchen Herzen wollte es auch fast Winter werden, aber Gott sei Dank, wenn einer mutlos werden wollte, war der andere mutig und so sprachen wir einander immer Mut zu. Es wurden Weihnachtslieder und Gedichte gelernt. Wir feierten ruhig und still Weihnachten und darnach kam auch das Neue Jahr 1947. Das Jahr 1946 wurde mit Warten abgeschlossen. In das Neue gingen wir mit neuen Hoffnungen hinein. Es ist so schön, daß wir ins Neue mitnehmen dürfen und das ist den Heiland. Was würden wir sonst ohne ihn anfangen? 1947 schrieben wir jetzt. Da lesen wir, daß Vater Boschman mit Tochter und Sohn im Januar abfahren würden. Dieses gab uns Mut. Der Anfang wird gemacht und nachher wird es schon schneller gehen. Wenn wir von den Eltern Briefe bekamen, dann studierten wir besonders die Bibelstellen, welche angegeben waren und aus diesen wollten wir dann schlußfolgern, ob es schnell gehen würde oder noch lange dauern könnte. Mitunter machte Väterchen auch Andeutungen darüber. Es vergingen Monate. Alles war still. Da unser Häuflein Gläubiger immer größer wurde, so entstand der Wunsch, unsere eigene Gemeinde zu gründen. Im März hatten wir eine Woche lang Evangelisationsversammlungen. Unser Bruder Pätsch hielt die Predigten und unser Chor sang. An einigen Abenden war der Lüneburger Chor auch vertreten. Wir hatten Besuch. Die Frucht davon wird die Ewigkeit offenbaren. Wir hatten wohl Brüder, die da predigten, sie waren aber nicht ordinierte Prediger. Es wurde hin und her geplant, Gemeindestunden wurden abgehalten. Man beschloß ein Ordinationsfest mit einem Tauffest in Hohenbostel zu begehen. Weil wir alle so verstreut wohnten und das Reisen sehr beschwerlich war, wollte man beides an einem Tage machen. Hatten wir hier auch manche Segensstunden, so dachten wir doch immer ans Reisen. Wann werden wir reisen dürfen? Unseres Bleibens war nicht hier. Das sagte man uns, und außerdem hatte man immer Angst vor dem Russen. Ob er nicht doch eines Tages kommen würde? Wie sehnte man sich nach einem Heim. Jeder wünscht sich, wenn auch einen kleinen, aber eigenen Raum zu haben. Es ist nicht leicht, drei oder vier Familien auf ein und demselben Herd zu kochen, Alte und Kinder in zwei Zimmern zusammen. Es war schwer, und doch einigte man sich wunderbar. Der Herr gab die Kraft dazu. Frau Enns hat oft den Ausdruck gebraucht: “Man muß sich die Menschen zurechtbeten, dann geht es.” Anfangs April gab es eine große Aufregung. Es kamen manche Briefe aus Rußland. Da gab es manches zu hören. Wir wollten so gerne etwas von unsem Lieben drüben wissen. Wie wir jetzt die Briefe lasen, da gab es manchen Schmerz. O, wie tut das Herz dann weh. Man krümmt sich wie ein Wurm, doch der Schmerz bleibt. Nicolai Ennses erfuhren, daß ihre Mariechen und auch zwei Söhne in Rußland waren, aber nicht zusammen waren. Sie haben so gesucht und immer gewünscht, sie noch zu finden, und jetzt kam die Nachricht. Es war sehr schwer für die Lieben, jetzt auch das dritte Kind in Rußland zu wissen. Frau D. Janzen erhielt einen Brief von ihrem Schwiegersohn, daß ihre Tochter, seine Freu, bei ihm sei. Sie ist zurückgeschickt worden. So erfuhr auch ich durch diesen Brief, daß mein lieber Sohn Gerhard schon anno 1943 gestorben ist. Wir haben immer für alle gebetet. Jetzt sollte es mit einem Male für einen ein Ende haben. Es ist doch ein ganz 318 anderes Ding, wenn man weiß, er ist tot. 0, wie tut es so weh und es vollzieht sich im Herzen ein Losreißen. Ich konnte meinem Gott gegenüber nicht murren, hatte ich doch um Nachricht gebetet. Jetzt kam die Nachricht. Der Tod war eingekehrt. O wie weh tut doch solche Kunde. Immer wieder stehen viele Fragen auf — wie ist der liebe Sohn gestorben, war er allein usw. Doch alles bleibt still, keine Antwort, nur stumm wie das Grab. Es ist ein Schmerz, den kann nur der verstehen, der ähnliches erfahren hat. Ich konnte nur bitter weinen. Das war alles was ich tun konnte. O wie schön ist es doch, wenn man seine Lieben in aller Ruhe zu Grabe tragen kann. Ich hatte schon lange das Lied: “Tiefer und tiefer” nicht gesungen, dann meinte man, warum ich das Lied nicht singen wollte. Ich sagte: “Ich will nicht tiefer, es ist mir tief genug.” Aber der Herr wollte noch tiefer. Jetzt kam es noch tiefer. Will der Herr das so, dann will auch ich mich still beugen, wenn auch die Tränen fließen. Einst wirst du es sehn, wie er’s gemeint. Von meinem lieben Mann wissen sie nur so viel, daß er mit D. Janzen als krank entlassen wurde. Was weiter ihr Los war, ist niemanden bekannt. Jakob, mein Sohn, soll bei Moskau im Kohlenbergwerk arbeiten. Er soll geheiratet haben und ist zufrieden. Die Zeit bleibt nicht stehen, und so geht alles weiter. Mein Schwager Herbert Janzen kam zu Besuch. Wir wurden nur in Deutschland bekannt. Im Mai erhielt Frau D. Janzen eine Einladung ins Lager. Das war eine Ueberraschung. Sie war zuletzt zu uns gekommen und wurde zuerst gerufen. Wir waren dann noch nicht bekannt, wie das eigentlich edles zuging und wir machten uns unsere eigene Idee. Es kam aber ganz anders. Sie fuhr Ende Mai ins Lager und im halben Juni fuhr sie schon nach Kanada. Wir dachten, das geht jetzt aber schon schnell. Nur drei Wochen im Lager, wie herrlich das ist. Im Mai feierten wir dann noch Heinrich Hüberts Silberhochzeit. Das Fest war noch besonders schön, weil Br. H.H. Janzen die Festrede hielt. Er war für uns alle eine große Freude und ein großer Segen. Zu Pfingsten war das Tauffest und das Ordinierungsfest bestimmt. Von allen zerstreuten Orten erwarteten wir Besuch. Unsere Vertrauensmänner hatten es überall bekanntgemacht. Unsere Wirte staunten und sagten: “Wie wollt ihr die alle satt kriegen?” Wir machten es so, daß es ging. Jeder backte etwas. Das Mittag und Abendbrot machte ein jeder, so wie er konnte und darnach lud er Gäste zu sich zu den Mahlzeiten ein. Die meisten kamen Sonnabend, weil die Züge nicht anders passend gingen. Zur Nacht wurden die Gäste in die Quartiere verteilt, hauptsächlich die Frauen. Für die Männer hatte man in einer großen Scheune Decken und schönes frisches Heu zusammengebracht und so war es möglich alle Gäste unterzubringen. Die Scheune stellte uns ein Bauer zur Verfügung. Das war sehr nett von ihm. Es waren auch einige Gastwirtschaften in Hohenbostel. Gastwirt Mayer stellte uns einen großen Saal zur Verfügung. Da aber die Stühle nicht ausreichten, so borgte sie uns ein Gastwirt aus Bienenbüttel, 2 Kilometer von uns ab. Das holen der Stühle und zurückstellen war unsere Sache. Sonst nahm er keine Zahlung dafür. Der Herr machte die Herzen zu allem guten Werk willig. Anders wäre es nicht möglich gewesen. In all diesem sahen wir, der Herr erhört Gebet. Am Vormittag waren einige kurze Ansprachen. Dann war die Aussprache der Täuflinge. Es waren elf Geschwister. Nachmittag war die Ordination, welche von Br. Ratzlaff an Geschwister Enns und Geschwister Löwen vollzogen wurde. Leider konnte Schwester Löwen nicht zugegen sein. Dann gingen wir alle zum Fluß. Wir hatten viele Zuhörer, doch alles ging still und ruhig zu. Das Wort, welches dort gesprochen wurde, war zum Segen. Schade war es, daß es gerade während der Taufe regnete. Nach dem gingen wir zurück und hatten die Aufnahme der Getauften. Es war ein herrlicher Tag, aber auch er fand seinen Abschluß und ein jeder fuhr gestärkt zu seinem Ort. Wir hatten geglaubt, daß wir drei leibliche Schwestern zusammen auswandem würden. Doch aus Väterchen seinen Briefen lasen wir heraus, daß solches wohl nicht möglich sein würde. Wieder standen wir vor einem schweren Problem. Wie schwer würde es für den Zurückbleibenden sein und das trieb uns mehr ins Gebet. Gott wolle uns auch dann Kraft geben, geduldig zu sein. Am 4. Juli erhielten Schwester Susie und ich eine Einladung ins Lager zu kommen. Anfänglich schien es so, als würde Schw. Olga zuerst fahren, wozu wir sehr froh waren, weil sie die jüngste von uns war, war es nur nach unserm Wunsch. Doch verschiedener Ursachen wegen war das nicht möglich. 319 Weil wir als Arbeiter herausgerufen wurden, kamen wir zwei andern zuerst an die Reihe. Wir besorgten uns die nötigen Papiere, packten und backten. Ich erhielt noch gerade drei Pakete, die mir im Lager sehr zu Paß kamen. Jetzt hieß es Abschied nehmen von Hohenbostel. Hatte man uns anfänglich nicht aufnehmen wollen, so wurde jetzt manche Träne geweint. Man hatte uns jetzt gern, besonders die jungen Menschen, verloren sie doch mit ihnen die Arbeitskräfte. Wir packten mit großer Freudigkeit. Wie so ganz anders war dieses, als wenn man flüchten mußte. Eines war uns schwer, daß wir unsere liebe Schwester zurücklassen mußten. Während wir uns zur Reise rüsteten, erhielten auch Ennses ihre Einladung. Wir hatten uns mit ihnen zusammen ein Lastauto angenommen und wollten zusammen fahren. Am 10. Juli 8 Uhr morgens fuhren wir von Hohenbostel ab. Wir hatten die Menschen und den Ort hier liebgewonnen. Die Natur war herrlich. Oft habe ich gestanden und mich an Gottes Natur erfreut. Als wir schon im Auto waren, sangen die lieben Zurückgebliebenen das Lied: “Gott mit Euch bis wir uns wiedersehn.” Die Bauern gaben uns auch das Geleit. Hier noch ein Wort auf den Weg, dort ein Händedruck. Der schwerste Abschied war von der Schwester. Endlich setzte sich unser Auto in Bewegung. Nach wenigen Minuten waren sie unsem Blicken entschwunden. "Wir haben uns gut zurechtgebeten’sagt Schwester Enns. Ein kleiner Wehrmutstropfen mußte auch hier sein; die Trennung. Nach 6 Stunden Fahrt, waren wir an unserm Ziel angelangt. Nachdem wir erfahren hatten, wo wir unsere Sachen abladen konnten und wir es getan hatten, fuhr Herr Schulz weg, denn er hatte uns hergebracht. Das Lagerleben Das Lagerleben hat seine guten und auch seine Schattenseiten. Hier angekommen, gingen wir ins Büro, wo wir eine Karte auf unser Zimmer erhielten. Es war ein großes Zimmer. Wir waren elf Personen in demselben. Anfänglich zählten wir jeden Tag und schrieben die Geschehnisse auf. Als aber die Tage und Wochen zu Monaten wurden, verlor sich das Interesse daran. In drei Wochen waren wir bis zum Visum fertig. Es hat manche Kniearbeit gekostet. Wir wollten bei unsem Angaben nicht lügen, und wir baten den Herrn, es so zu führen, damit man uns solche Fragen stellen sollte, die wir richtig beantworten konnten. Der Herr gab Gnade. Manchesmal, wenn wir Vorkommen sollten, schlug das Herz besonders stark. Der Herr half und ihm sei die Ehre dafür. In den ersten Tagen besuchte uns Br. H.H. Janzen; zwei Mal ist auch Br. C.F. Klassen in unserm Lager gewesen. Es ist ein großes Werk und die Brüder brauchen viel Kraft. Sie haben viele Schwierigkeiten und niemand soll denken, ach, das könnte ich auch machen. Nein, nein, das konnte nicht jeder, denn es braucht viel Demut und Gottvertrauen und Weisheit und Verstand, und wir danken Gott,, daß er uns solche Brüder schenkt, die vor der Riesenarbeit nicht zurückschrecken. Was das Essen im Lager anbetraf, so war es sehr einfach. Anfänglich war noch mehr Abwechslung in den Suppen, aber später gab es meistens nur Maissuppe und wir konnten sie beinahe nicht mehr essen. Morgens und abends gab es Kaffee. Wir wurden kräftig von unsem Bauern unterstützt. Sie brachten uns Kartoffeln und Gemüse aller Art. Auch manche Brotmarken haben sie uns geschickt, daß wir nicht zu klagen brauchten. Mitunter gab es auch vom MCC Verteilung. Wir wollten nicht klagen, weil wir glaubten, es wäre nicht recht gewesen. Wenn wir nach Kanada wollen, dann gehört dieses auch noch dazu. Bis hieher sind wir gekommen und wir werden dieses auch überstehen. Schwer war es für solche, die nur auf diese Kost angewiesen waren. Es war ein Mädchen, das nicht weit ab von unserm Lager wohnte, von ihr holten wir Strauch und kochten immer nach Abendbrot. Es gab 8 Uhr morgens Kaffee, um 12 Uhr Mittag, und um 4 Uhr noch einmal Kaffee. Dann gab es Trockenverpflegung, die zum Kaffee bestimmt war, Einmal in der Woche gab es einen halben Liter Milch pro Person. Wir sind hemmgestreift in und außerhalb Hannover. Die Natur dort ist wunderschön und das ist sehr erhebend. Wir hatten einen lieben Bruder Ertis, der uns mit dem Worte diente. Ein Chor war auch da. Auch hier durften wir Gottes Nähe verspüren. Manche Segensstunden 320 haben wir daselbst genossen. Es ist so herrlich, daß unser Herr und Heiland sich nicht an Zeit und Raum bindet, sondern er ist bereit zu segnen, wo man ihn anruft. Unsere Zeit verging und wir, Teichriebs und Ennses hatten unsere Papiere bis auf das Visum erhalten. Das war überwunden. Der Herr hatte geholfen. Es wurden in jeder Woche einige Transporte abgeschickt. Wir sagten uns, eines Tages kommt auch an uns die Reihe. Die Zeit unseres Wartens war sehr lange. Wir wurden oft ungeduldig. Es hieß, immer wieder richtig antworten. Es gab auch hier verschiedene Abwechselung und ich muß sagen, es hat gut gegangen. Der 2. Oktober war abends der Tag an dem auch wir unsere Visum unterschrieben und den 4. Oktober morgens früh fuhren wir nach Diepholz. Hier wurden wir wieder in ein Lager untergebracht und erhielten auch unsere Verpflegung. Darm folgten ärztliche Untersuchungen. Gredel wurde krank erklärt und mußte ins Hospital gebracht werden. Ich ging sofort zum Arzt und fragte ihn, ob sie bis zur Abreise fertig werden könnte. Ja, sagte er, es ist nicht schlimm mit ihr und an dem Tage wo sie abfahren sollen, kommt sie heraus. Das war wieder eine Probe. Sollten wir am Ende noch Zurückbleiben? Ich sollte nicht lange warten. Es wurden alle vorgelassen und wir waren zurückgestellt. Man tröstete uns, wir könnten gleich mit dem nächsten Transport mit und doch, und doch war es so schwer! Warum so? fragte man sich. Doch hier half kein Weh’ und kein Ach. Wir blieben zurück. Es schien einmal so, als sollten Teichriebs auch Zurückbleiben, was aber doch nicht ausgeführt wurde. So fuhren sie den 9. Oktober ab. Ein gutes war doch dabei. Alle Lagerinsassen hatten mit einer längeren Zeit die sie im Lager würden zubringen müssen, gerechnet und sich reichlich mit Proviant versorgt. Nun, daß sie früher als sie gerechnet hatten, abfahren durften, hatte zur Folge, daß sie überflüssig Proviant hatten. Sie brachten uns Brot, Butter, Marken, sogar Geld und verschiedenes andere, so daß wir nach ihrer Abfahrt sehr reichlich zu essen hatten. Am Tage der Abfahrt kam Gredel aus dem Hospital. Jetzt waren wir im großen Lager nur 3 Familien und es war immer etwas unheimlich. Wir bezogen ein kleines Zimmer und richteten es so gemütlich wie möglich ein. Der Lagerleiter brachte uns noch einige Decken mehr und wir lebten in Hoffnung. In den letzten Tagen fühlte ich nicht gut. Ich wollte zum Arzt gehen, aber Annie sagte: “Mama, wenn du jetzt zum Arzt gehst kommen wir wieder nicht weg”, und ich ließ es anstehen. Am 16. Oktober mittags sagte man uns, daß wir am 17. Oktober abfahren würden. War das eine Freude! Abends mußten wir noch einmal vor den Arzt und es war alles gut. Gott sei Dank, auch wir waren am Ziel unseres Wartens angelangt. Unser Schiff hieß Aquitania. Unser Reiseplan war, über Helwitsch, Holland nach London. In London verweilten wir einige Tage, wo ich mich sehr schlecht fühlte. Ich ging zum Arzt, aber er war abwesend. Von London fuhren wir mit Omnibussen bis zum Hafen Southhampton. In unserer Gruppe waren wir 75 Personen, alles Ukrainer, und Juden, und nur wir 3 Mennoniten, aber man war immer fein zu uns. Zwei Stunden führte man uns noch in der Stadt London umher und zeigte uns das Zentrum der Stadt. In Southhampton angekommen wurden wir nach einigen Stunden in eine Reihe aufgestellt nach Nummern, die wir schon in Holland erhalten hatten. Die Polizei stand bereit und kontrollierte unsere Papiere noch einmal. Dann bestiegen wir unser Schiff. Es war groß und schön und gut eingerichtet. Um 3 Uhr 30 Minuten, den 20. Oktober verließen wir Europa. Es gab solche andere Gefühle und unwillkürlich eilt das Herz zu den Lieben dort, irgendwo in Rußland und preßt heiße Tränen heraus. Es waren Tränen der Freude, ja, es war gemischt, und ich denke, man versteht mich. Wir wurden von vielen Russen begleitet. Es wurden Raketen abgeschossen. Solch ein großes, majestätisches Schiff, das große, große Meer. Ich kann nicht sagen, was ich fühlte, ich habe keine Worte dafür, aber Gott wurde mir noch größer in der Natur. “Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkest?” Auf dem Schiffe hatten wir eine Angenehme Ueberraschung. Es stiegen von Holland noch 16 Mennoniten ein. Jetzt hatten wir auch Gesellschaft. Wir waren bald gute Freunde miteinander. Unsere Kajüten waren auf Nachbarschaft. Wir haben zusammen gesungen und gebetet in den ersten Tagen, denn dann mußten die meisten das Bett hüten wegen der Seekrankheit. Die Bedienung und Verpflegung waren sehr gut. Schade, daß wir nur so wenig genießen konnten. In London erhielten wir 20 Pfund Sterling pro Person. In den ersten Tagen 321 ging alles gut. Dienstagabend fing der Sturm an und währte bis Freitagabend. Er war sehr stark. Das Schiff knarrte nur immer in allen Fugen. Am 27. Oktober, 1 Uhr nachts kamen wir in Halifax an. Morgens wurden wir freundlich von C.K. Rempel begrüßt. Da wir mit dem IRO Transport gekommen waren, gab es noch einige Schwierigkeiten. Doch Br. Rempel brachte es fertig, und so durften auch wir als seine Schutzbefohlenen mit ihm gehen. Hier erhielten wir 10 Dollar, bis alles mit den Papieren geregelt war. Wir aßen noch einmal Mittag im Schiff. Um 3 Uhr durften wir das Schiff, welches uns nach Kanada in die neue Heimat gebracht hatte, verlassen. Br. Rempel brachte uns in den Zug und sorgte sehr gut für uns. In Montreal ging er mit uns in ein Restaurant, wo wir ein gediegenes Abendbrot erhielten. Dann ging er mit den jüngeren Leuten in die Stadt, um Einkäufe zu machen. Diese wußten ihre Wunder nicht zu lassen über all den Reichtum, den sie hier in den Läden sahen. Auf einer Station machte Br. Rempel Aufnahmen von unserer Gruppe. Nach einem herzlichen Abschied mit ihm, fuhr er nach Ontario und wir andern fuhren ein jeder seinem Bestimmungsorte zu. Ich fühlte mich immer noch nicht gut, aber ich tröstete mich damit, wenn ich erst an Ort und Stelle sein würde, daß es dann auch wieder besser mit mir werden würde. Wir kamen am 29. Oktober um 12 Uhr mittags in Winnipeg an. Es waren viele erschienen, um uns zu begrüßen. Im ersten Augenblick erkannte ich meine Schwester nicht. Doch nur ein Moment, dann lagen wir uns in den Armen. Es war ein Begrüßen und Fragen. Die Schwestern hatten Autos gemietet und in denen gings dann dem Elternhaus zu. Endlich, endlich nach langen, bangen 18 Jahren durfte ich in das liebe Vaterauge schauen und das liebe Mutterherz umarmen. Diese Gefühle zu beschreiben, ist meine Feder nicht im Stande . . . Es gab Tränen der Freude, aber es war schmerzlich, daß ich nur mit der halben Familie vor die Eltern treten konnte. Es muß in diesem Leben so sein. Keine Freude ist vollkommen. Es gibt immer etwas, das man sich anders wünscht. Ich wollte es nicht zugeben, daß ich krank war. Ich freute mich so sehr. Es gab viele Besuche. Auch Fred Reimers und Rudy Hamm waren da. Nach 2 Tagen konnte ich nicht weiter. Ich ging zu unserm lieben Doktor N. Neufeld. Nach einer Untersuchung sagte er: “Wenn es das ist, was ich vermute, dann sind sie in einigen Tagen wieder gesund.’’ Es gab keine Veränderung, nur eine kleine Erleichterung. Nach einigen Wochen guter Behandlung und Untersuchung aller Art, erklärte mir Dr. Neufeld, daß ich mich einer Operation zu unterziehen habe. Ich war sehr krank, aber wie schlimm es war, wußte ich nicht. Gott gab Gnade zur Operation und segnete die Hände der Aerzte an mir. Es wurde auch viel für mich gebetet. Viel, sehr viel Liebe durfte ich erfahren. Die erste Zeit ist mir wie ein Traum. Gott in der Fürsorge der Aerzte, und bei der Pflege, fühl ich ganz gut. Ich muß sagen: “Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich.” Könnten wir ihm auch richtig leben und bereit sein, wenn er uns ruft! Ich lebe und fühl mich heute noch gut. Es ist eine Gnade und Gebetserhörung, daß ich noch da bin. Jetzt sind wir in Kanada und bemühen uns, die neue Heimat heimisch zu machen. Unserer Lieben im fernen Rußland gedenken wir vor Gottes Thron. Den 15. Februar 1948 kam unsere Schwester Toews, und den 26. März Geschwister Jakob Wiens von Brasilien nach Winnipeg. Wir wollten zugleich ankommen, aber der liebe Gott führte es so, daß alle einzeln kamen. Es war gut so, denn anders wäre es für die Eltern zu schwer geworden. So kamen wir allmählich, einer nach dem andern. Unser Vater macht keine Fehler, nur sind wir Menschen zu kurzsichtig, ihn immer dann, wenn es schwer ist, zu verstehen. Dies ist eine Kopie von dem vorhergehenden Bericht, geschrieben von Anna Janzen. 322 EPILOG. Mutter hatte Krebs. Doch wie sie schon geschrieben hatte, der Herr Jesus erhörte ihre und unsere Gebete. Besonders auch Br. A. Unruh und seine Bibel- schul-Klasse. Er hatte eine spezielle Gebetsstunde für Mutter anberaumt, wofür wir noch dankbar sind, durfte Mutter doch noch 5 Jahre bei uns sein. Doch den 3. April 1953, am Karfreitag, 3 Uhr nachmittags, durfte sie heimgehen. Sie hatte viel gelitten, doch war sie uns immer ein Vorbüd im Glauben und im Wandel im Herrn. Sie war immer freundlich und dankbar für alle Liebe, die ihr durch Verwandte und Geschwister im Herrn zuteil wurde. Eine besondere Freude war es für sie, daß sie noch mal wieder frei und ohne Angst den Herrn anbeten durfte, und daß sie in der Gemeinschaft mit anderen Gotteskindem, und in einer Gemeinde sein durfte. Danach hatte sie sich ja schon lange gesehnt. Ihr Gebet, daß ihre Töchter dem Herrn dienen und treu nachfolgen möchten, hat sich auch erfüllt. Wir freuen uns schon auf ein Wiedersehen beim himmlischen Vater. In liebevoller Erinnerung, Ihre jüngste Tochter, Margarete-Luise Kliewer Frau Anna Janzen, geb. Froese, mit ihren Töchtern Anni (Frau D. Koop) und Margarete (Frau Bruno Kliewer) 323 Ak-SJ/ekh »• && Cr SSw"*’'® jP**W Bt Utsdiuk/cjV DjatnL * Pi takte) t}i Abuslar % keu-f fej Duhuma !cksabafej x ~A Elkeri-Ab ± Karagurt(e) Teschi(e) fchto/schy e j Euqej *iAwell(e) z s Toncsch( t) Mer Hu to i 10 Oibur(e) Maina/ fe) iTjumen(e) Krimer Treffen 1935 bei LaSalle £saß Knmetitalf Geschwister A. H. Unruh und Geschwister G. Froese KRIMER TRI IN WINIS V » cäL jzi / I I, und du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit. nd erfüllest alles, was lebt, mit Wohlgefallen. - J Ps. 145:15, 16 Sultan-c, 0 ts£ala keu-Duhant( , l \ ägÖUf EEEEft DshdHkoi 1 Tarxhanlar ' l r**r Uit-MMJ Dsdjaroktidij ?Kon/shi-5dta*a{ e j »««"*»« J« k (Urflf sSaa^' Kp/ai i . Schwiiterdcri( t ) •BmderfelafeJ _ -O' HUCrfc.it/jt x Sdtönftld(ftp.J * Marien ruh «£ Dulat/kj - -^ David Dürksen, Aeltester der MB-Gemeinde fSmd/Mp«a E w ^-r ta * 3 ^ wj57^J/v--1- .vr^fnchotbaschi) Sthönbrunnf eL r-fv *Kjri(mJ J=~*' r / !o ^&'-f4dargin) /Jrxfmi W — Tamlt Kara tviHfm.) ,- - it) ^Vv^Vt- , 'Y" ^ _ W A»/ Ajfugon(i) ) L Df.AUesJtleJ _ -Ktr!tut(s*pJ rDsdtapa Alt-Ktrieutflhd-^ r Ssiwascfv oder Tautet ■ Mr Schi bau w Kirmatsdii [kJ W / ’ Argtnfcchik(k) f s^-y^dsmikzhch/e) ff \5esdiamnfe) ratecho-KaJaH^j \k arabut I V. „ Schonutrfßj) \ WuM&ufj™*l » // *r / i,Kujerarfct .4./ ! ih w «ä-ä / (Wtnbrvsj ^ $KtrUhJtfcJ J %Sobadx-tli(*) \%kariowkala) \S jRotodolfkJ rJ^TuheJebi^j Herzinborg y {uL-. \ / ^fory; Krjm(t) Das neue Buch „Die Krim war unsere Heimat” von Martin Durksen ist ein wertvoller Beitrag in dem Bestreben, die Geschichte der mennonitischen Siedlung im Sueden Russlands vordem Vergessenwerden zu bewahren. Diese Geschichte lehrt uns, die Vergangenheit zu schaetzen und sie inspiriert uns fuer die Zukunft. Dr. Gerhard Lohrenz Ich war erfreut zu hoeren, dass ein Bericht ueber die Erlebnisse unserer Vorfahren in der Krim erscheinen wuerde. Die Schreiber von „Die Krim war unsere Heimat” haben uns allen, und besonders denen von uns, die zu einer spaeteren Zeit und in einem anderen Lande geboren wurden, einen Dienst erwiesen, indem sie diese interessante und belehrende Sammlung von Berichten und Bildern zusammengebracht haben. Harold Jantz, Redakteur des „Mennonite Brethren Herald” Das Buch „Die Krim war unsere Heimat” enthaelt einen Reichtum an geschichtlichem, kulturellem und religioesem Gut. Wie ein zusammenfassendes Netzwerk halten die Beitraege von Martin Durksen das ganze reichhaltige Material des Buches zusammen und formen es zu einem abgerundeten Ganzen. Ich wuensche dem Buch viel Erfolg! Erich L. Ratzlaff, Redakteur der „Mennonitischen Rundschau”